Naher Osten: Weniger Babys, mehr Probleme?
12. Juli 2025
Im Nahen Osten vollzieht sich derzeit eine sogenannte "stille Revolution" - eine Entwicklung, die weder mit Straßenprotesten noch mit dem Sturz von Regierungen einhergeht. Diese Revolution findet im Verborgenen, in den eigenen vier Wänden der Menschen statt und betrifft die Geburtenraten in der Region. Denn in fast allen Ländern des Nahen Ostens ist die Zahl der Kinder, die eine Frau im Laufe ihres Lebens bekommt, in den vergangenen zwei bis drei Jahrzehnten dramatisch gesunken.
Die sogenannte Gesamtfruchtbarkeitsrate (GFR) - also die durchschnittliche Zahl von Kindern, die eine Frau zwischen dem 15. und 49. Lebensjahr zur Welt bringt - hat sich im Nahen Osten seit den 1960er Jahren mehr als halbiert. Bekamen Frauen früher rund sieben Kinder, waren es Anfang der 2010er Jahre nur noch drei. Sinkende Geburtenraten sind ein globales Phänomen. Doch bereits 2016 berichteten Forschende, der Nahe Osten erlebe "den größten Geburtenrückgang der letzten 30 Jahre weltweit". Insbesondere in den letzten anderthalb Jahrzehnten sind diese Zahlen kontinuierlich gesunken. Wie eine im Oktober letzten Jahres im Fachjournal der Middle East Fertility Society veröffentlichte Studie zeigt, verzeichneten die Länder der Region zwischen 2011 und 2021 einen Rückgang der GFR um 3,8 bis 24,3 Prozent. Die stärksten Rückgänge waren in Jordanien, Irak und Jemen zu verzeichnen.
Statistiken der Weltbank zufolge lagen im Jahr 2023 fünf der 22 Mitgliedsstaaten der Arabischen Liga mit einer GFR von unter 2,1, der zur Aufrechterhaltung des Bevölkerungsniveaus erforderlichen Anzahl von Babys pro Frau. Weitere vier Länder näherten sich diesem Wert an. Die Vereinigten Arabischen Emirate beispielsweise haben eine GFR von nur 1,2 und liegen damit deutlich unter dem Bevölkerungsersatzniveau. Das ist sogar noch niedriger als in einigen europäischen Staaten: Im Jahr 2024 wird die nationale GFR Deutschlands auf 1,38 Kinder pro Frau im gebärfähigen Alter geschätzt.
Gründe für den Geburtenrückgang
Fachleute haben verschiedene Hypothesen für diesen Rückgang entwickelt. Die Erklärungsansätze lassen sich im Wesentlichen zwei miteinander verbundenen Kategorien zuordnen: einer wirtschaftlich-politischen sowie einer sozial-kulturellen.
Zu den erstgenannten zählen Faktoren wie Krieg und politische Unsicherheit – viele Menschen wollen in einer instabilen Welt keine Kinder zur Welt bringen. Auch wirtschaftliche Entwicklungen spielen eine Rolle: etwa der Abbau staatlicher Subventionen in Ägypten und Jordanien, Inflation oder der Rückgang von Arbeitsplätzen im öffentlichen Sektor der Ölstaaten.
All das macht es zunehmend schwer, Heirat und Familiengründung zu finanzieren. Und auch der Klimawandel - eine düstere Realität in einer Region, die sich schneller erwärmt als viele andere - dürfte für junge Paare eine wachsende Rolle spielen.
Sozial-kulturelle Veränderungen umfassen unter anderem die zunehmende Verfügbarkeit und gesellschaftliche Akzeptanz von Verhütungsmitteln - auch unter religiös-konservativen Gruppen - sowie von Scheidungen. Vor allem aber spielen Reformen im Status der Frau eine entscheidende Rolle: der Zugang zu Bildung und der Einstieg in den Arbeitsmarkt.
Auch die Urbanisierung dürfte eine Rolle spielen. In ländlichen Gegenden Jordaniens und Ägyptens etwa ist die Geburtenrate regelmäßig doppelt so hoch wie in den großen Städten. Möglicherweise tragen auch soziale Medien dazu bei: Einige Analysten vertreten die These, dass der Zugang zu Informationen über einen sogenannten "westlichen Lebensstil" die Vorstellungen davon verändert, wie eine ideale Familie aussehen sollte.
All diese Faktoren sind miteinander verflochten, sagen Expertinnen und Experten wie Marcia Inhorn, Professorin für Anthropologie und internationale Beziehungen an der Yale University in den USA. Sie hat die sich wandelnden Einstellungen zu Ehe und Kindern in der Region intensiv untersucht. An der Schnittstelle zwischen den beiden Kategorien - wirtschaftlich-politisch und sozial-kulturell - steht das, was Sozialwissenschaftler als "Waithood" bezeichnen, erklärte sie gegenüber der DW.
Heiratsbräuche im Nahen Osten beinhalten oft einen Vermögenstransfer - im Irak etwa kann das Goldschmuck, Bargeld oder ein vollständig eingerichtetes Haus umfassen, meist finanziert vom Bräutigam. "Und junge Menschen haben schlicht nicht die wirtschaftlichen Mittel, um all das aufzubringen, was für eine Heirat nötig ist", sagt Inhorn. "Also entscheiden sie sich, erst einmal abzuwarten."
Zugleich gibt es eine wachsende Zahl von Frauen in der Region, die auf den richtigen Partner warten - oder vielleicht gar nicht mehr heiraten wollen, so Inhorn weiter. "Und in der gesamten Region ist das Interesse an großen Familien gesunken. Es herrscht zunehmend die Haltung: "Ich möchte lieber eine kleine Familie, in der ich meinen Kindern das geben kann, was sie verdienen - anstatt einfach eine große Familie zu haben."
Auswirkungen des Geburtenrückgangs
"Die Menschheit steht vor einem neuen Zeitalter der Geschichte. Nennen wir es das ‚Zeitalter der Entvölkerung‘", schrieb Nicholas Eberstadt, politischer Ökonom am Washingtoner Thinktank American Enterprise Institute, Ende vergangenen Jahres für das Magazin Foreign Affairs. "Zum ersten Mal seit der Pest im 14. Jahrhundert wird die Weltbevölkerung zurückgehen."
Experten sind sich uneinig über die Folgen der Tatsache, dass in den kommenden zweieinhalb Jahrzehnten in 76 Prozent der Länder weltweit die Fruchtbarkeitsrate (TFR) unter dem Niveau der Bestandserhaltung liegen wird.
Die Wirtschaftsleistung in einigen Ländern, die eine "Fertilität unterhalb des Reproduktionsniveaus" erreichen, sei schwach, sagt Eberstadt der DW. "Das bedeutet, dass in einer Generation viele Gesellschaften im Nahen Osten - nicht alle, aber viele - altern und womöglich sogar schrumpfen werden. Mit einem großen Anteil älterer Menschen, die an chronischen Krankheiten leiden." Das geschehe jedoch "ohne die finanziellen Möglichkeiten westlicher Länder, um Gesundheitsversorgung und Renten zu finanzieren".
Ob sinkende Geburtenraten langfristig positiv oder negativ zu bewerten seien, lasse sich schwer sagen, Eberstadt gibt sich jedoch vorsichtig optimistisch. "Ich habe mich schon vor langer Zeit mit dem Thema befasst - damals, als alle sich wegen einer Bevölkerungsexplosion sorgten", erklärt er. "Aber ich denke, viel von dieser Hysterie war grundlegend fehlgeleitet, denn die Menschen vermehrten sich nicht einfach so, sie hörten einfach auf, früh zu sterben. Die Bevölkerungsexplosion war in Wahrheit eine Gesundheitsexplosion.“
Aus dem Englischen adaptiert von Kersten Knipp.