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Nahost aktuell: Vier Stunden Feuerpause täglich

9. November 2023

Israel will nach US-Angaben sichere Fluchtkorridore gewähren. Eine Waffenruhe lehnt Netanjahu aber ab. Derweil wächst die Sorge vor einer Ausweitung des Israel-Hamas-Krieges. Die Nachrichten im Überblick.

Flüchtlingstreck
Palästinenser auf der Flucht vor den Kämpfen und Bombardierungen in Gaza (8. November)Bild: Hatem Moussa/AP Photo/picture alliance

 

Das Wichtigste in Kürze: 

  • Ein vierstündiger Fluchtkorridor aus dem Norden Gazas
  • Netanjahu will keine Waffenruhe ohne die Freilassung von Geiseln
  • Sorge vor einer Ausweitung des Israel-Hamas-Krieges
  • Israelische Armee: Hamas-Stützpunkt in Gaza eingenommen
  • UN-Menschenrechtskommissar wirft Hamas und Israel Kriegsverbrechen vor
  • Konvoi mit Medikamenten erreicht Klinik in Gaza-Stadt

 

Israel hat sich nach Angaben der USA zu täglichen Feuerpausen bereiterklärt. Diese würden ab diesem Donnerstag jeweils für vier Stunden im nördlichen Gazastreifen gelten, teilte das US-Präsidialamt in Washington mit. Diese Pausen würden drei Stunden im Voraus angekündigt, sagte der Kommunikationsdirektor des Nationalen Sicherheitsrats der USA, John Kirby. Der israelische Armeesprecher Richard Hecht betonte, dies sei "keine Waffenruhe, sondern es seien taktische, lokale Pausen für humanitäre Hilfe".

Am Mittwoch hatten nach Militärangaben schätzungsweise 50.000 Menschen einen israelischen Evakuierungskorridor genutzt.

Flüchtende Palästinenser, unterwegs vom Norden in den Süden des GazastreifensBild: Hatem Moussa/AP Photo/picture alliance

Das israelische Militär bekämpft die im Gazastreifen herrschende Hamas derzeit vor allem im Norden. Die Bevölkerung ist seit mehreren Wochen aufgerufen, in den Süden zu flüchten. Aber auch dort kommt es regelmäßig zu israelischen Luftangriffen. Ein Armeesprecher sagte vergangene Woche, der Bereich im Süden sei keine "sichere Zone", aber sichererer "als jeder andere Ort in Gaza".

Netanjahu will keine Waffenruhe ohne die Freilassung von Geiseln

Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu hat erneut die Freilassung der Geiseln im Gazastreifen als Bedingung für eine Waffenruhe genannt. Es werde "keine Waffenruhe ohne die Freilassung unserer Geiseln geben", sagte Netanjahu. Alles andere sei falsch. Er ließ jedoch offen, ob er damit die Freilassung aller 239 Geiseln auf einmal meinte.

Israels Premierminister Benjamin Netanjahu auf einer Pressekonferenz in JerusalemBild: Christophe Ena via REUTERS

Zuvor hatten mehrere Medien berichtet, es werde über eine humanitäre Waffenruhe im Gegenzug für die Freilassung von bis zu 15 Geiseln im Gazastreifen verhandelt. Ein hochrangiges Mitglied der islamistischen Hamas, Osama Hamdan, sagte der Deutschen Presse-Agentur, es liefen derzeit "ernsthafte Verhandlungen". Es gebe jedoch die Sorge, dass Israel nicht auf die Bemühungen der Unterhändler eingehe. Israels Militärsprecher Daniel Hagari sagte zu den Medienberichten: "Wir dürfen uns von den Kommentatoren nicht verwirren lassen. Es gibt keinen Waffenstillstand; es gibt keinen Waffenstillstand; wir kämpfen gegen die Hamas; es gibt keinen Waffenstillstand."

Israel: Hamas-Stützpunkt in Gaza eingenommen

Israelische Bodentruppen haben nach Darstellung der Armee nach heftigen Kämpfen im nördlichen Gazastreifen einen Stützpunkt der Hamas eingenommen. Dieser liege im Flüchtlingsviertel der Stadt Dschabalia. An dem zehn Stunden langen Kampf sei neben der terroristischen Hamas auch der Islamische Dschihad beteiligt gewesen, hieß es.

Die Israel Defense Forces (IDF) hätten in Dschabalia "Terroristen getötet, viele Waffen sichergestellt, Tunnelschächte aufgedeckt", hieß es in der Mitteilung des Militärs weiter. Einer der Tunnelschächte sei neben einem Kindergarten gelegen und führe zu einem weit verzweigten unterirdischen Tunnelsystem. In dem Stützpunkt sei auch "wichtiges operatives Material gefunden worden, in dem es um die Einsatzpläne des Feindes" gehe. Unabhängig überprüfen lassen sich die Angaben aus dem umkämpften Gebiet nicht. In Dschabalia befindet sich das größte Flüchtlingslager im Gazastreifen. Es ist nicht bekannt, wie viele Zivilisten sich dort aktuell befinden.

UN-Hochkommissar wirft Hamas und Israel Kriegsverbrechen vor

Der UN-Hochkommissar für Menschenrechte, Volker Türk, hat sowohl der terroristischen Palästinenserorganisation Hamas als auch Israel Kriegsverbrechen vorgeworfen. Er äußerte sich nach einem Besuch am Grenzübergang Rafah. "Die von bewaffneten palästinensischen Gruppen am 7. Oktober verübten Gräueltaten waren abscheulich, brutal und schockierend, sie waren Kriegsverbrechen - ebenso wie die anhaltende Geiselnahme."

UN-Menschenrechtskommissar Volker Türk am Mittwoch in KairoBild: KHALED DESOUKI/AFP

Anschließend sagte er über die Militärschläge Israels und die Abriegelung des Gazastreifens, die humanitäre Hilfe behindert: "Die kollektive Bestrafung palästinensischer Zivilisten durch Israel stellt ebenfalls ein Kriegsverbrechen dar, ebenso wie die unrechtmäßige Zwangsevakuierung von Zivilisten." Es dürfe bei der Beschreibung der Situation keine doppelten Standards geben, sagte Türk. Die Menschenrechtsstandards seien sehr klar: Konfliktparteien seien verpflichtet, die Zivilbevölkerung und zivile Einrichtungen zu schützen. "Die Handlungen einer der Parteien entbinden die andere Partei nicht von ihren Verpflichtungen nach dem humanitären Völkerrecht", betonte Türk.

US-Luftangriff im Osten Syriens

Bei einem US-Luftangriff im Osten Syriens sind nach Angaben von Aktivisten neun Menschen getötet worden. Die Opfer gehörten zu Iran-gestützten Gruppen, erklärte die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte. Die Organisation bezieht ihre Informationen aus einem Netzwerk verschiedener Quellen in Syrien. Ihre Angaben sind von unabhängiger Seite oft kaum zu überprüfen.

US-Verteidigungsminister Lloyd Austin bestätigte den Einsatz. Ziel sei ein Waffenlager gewesen, das von Irans Revolutionsgarden sowie deren Verbündeten genutzt worden sei. Bereits Ende Oktober hatten die USA im Osten Syriens Luftangriffe gegen zwei ähnliche Ziele geflogen.

Kampfflugzeuge der US Navy über Syrien (Archivbild)Bild: Staff Sgt. Shawn Nickel/US AIR FORCE /AFP

In den vergangenen Wochen hatten Attacken auf US-Kräfte im Irak und Syrien zugenommen. Proiranische Milizen griffen nach Angaben des Pentagons seit Mitte Oktober in mindestens 40 Fällen US-Militärstützpunkte an - davon 22 Mal im Irak und 18 Mal in Syrien. Dies verschärft Sorgen, dass sich der Krieg zwischen Israel und der Terrororganisation Hamas zu einem größeren Konflikt ausweiten könnte.

Seit dem Hamas-Überfall auf Israel am 7. Oktober ist die Sicherheitslage im gesamten Nahen Osten angespannt. Zur Abschreckung haben die USA zusätzliche Soldaten in die Region geschickt sowie Kriegsschiffe und Luftwaffengeschwader ins östliche Mittelmeer verlegt. Die im Gazastreifen herrschende Hamas wird wie viele weitere militante Gruppen vom Iran finanziell und mit Waffen unterstützt.

US-Regierung hat viele Fragen zur Zukunft Gazas

Die US-Regierung will mit Vertretern des Gazastreifens diplomatische Gespräche über die Zukunft der Region führen. "Ich denke, was wir haben, sind viele Fragen, aber nicht viele Antworten", sagte der Kommunikationsdirektor des Nationalen Sicherheitsrats, John Kirby, dem US-Sender CNN. "Wir wissen, was wir nach dem Konflikt in Gaza nicht sehen wollen. Wir wollen nicht, dass die Hamas die Kontrolle übernimmt. Wir wollen keine Rückeroberung durch Israel sehen." Aber was eine gute Lösung für den Küstenstreifen sei, müsse man nun erst noch herausfinden.

Kommunikationsdirektor Kirby vor der Presse im Weißen HausBild: Evelyn Hockstein/REUTERS

Die USA könnten das Problem nicht allein lösen, sagte Kirby. "Wir werden diplomatische Gespräche mit den Menschen in der Region führen müssen, um eine Lösung zu finden." Kirby betonte, dass es durchaus denkbar sei, dass das israelische Militär für einige Zeit im Gazastreifen bleiben werde, um die "unmittelbaren Folgen zu bewältigen und die Sicherheitslage zu verbessern". Bei der Frage nach der Zukunft der Region müsse die Palästinensische Autonomiebehörde jedoch "von Anfang an" einbezogen werden.

Zahl getöteter UN-Mitarbeiter steigt auf 92

Die Zahl der getöteten Mitarbeiter der Vereinten Nationen im Gazastreifen ist auf 92 gestiegen. Diese Zahl nannte der Generalkommissar des UN-Palästinenserhilfswerks UNRWA, Philippe Lazzarini, in einem Interview des Schweizer Medienhauses Tamedia. Die Vereinten Nationen hätten weltweit noch in keinem Konflikt innerhalb eines Monats so viele Todesfälle zu verzeichnen gehabt.

UNRWA-Generalkommissar Philippe Lazzarini Bild: Fabrice Coffrini/AFP/Getty Images

Lazzarini warnte vor dem Kollaps der öffentlichen Ordnung im Gazastreifen. Mehr als 700.000 Menschen seien inzwischen in die Einrichtungen des Hilfswerks geflüchtet. "Unglücklicherweise sind auch schon mehr als 50 unserer Einrichtungen getroffen worden", sagte er. Zahlreiche Menschen seien dabei getötet, Hunderte verletzt worden.

Gewalt in Nord-Gaza verhindert laut UN Hilfe für Zivilbevölkerung

Die humanitäre Lage im Gaza-Streifen verschlechtert sich den Vereinten Nationen zufolge immer mehr. Vor allem im Norden des Gebiets und in Gaza-Stadt verhinderten Kämpfe und intensive Bombardierung jegliche Hilfe, sagte der Sprecher von UN-Generalsekretär António Guterres, Stéphane Dujarric.

Nach UN-Angaben haben seit dem 21. Oktober 650 Lastwagen mit Hilfsgütern den ansonsten durch Israel komplett abgeriegelten Gaza-Streifen über den Rafah-Übergang erreicht. Das sei nur ein kleiner Bruchteil des Bedarfs. So reiche das eingeführte Trinkwasser nur für vier Prozent der Bevölkerung des Gebiets, und Treibstoff könnte gar nicht geliefert werden.

Konvoi mit Medikamenten erreicht Klinik im Gazastreifen

Ein Konvoi mit medizinischen Gütern hat nach Angaben der Vereinten Nationen das Al-Shifa-Krankenhaus im nördlichen  Gazastreifen erreicht. Dies sei erst die zweite Lieferung lebensrettender Hilfsgüter an das Krankenhaus seit Beginn des Kriegs, heißt es von UNRWA und der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Die gelieferten Mengen seien zwar willkommen, reichten jedoch bei weitem nicht aus, um den enormen Bedarf zu decken.

Das Al-Shifa - hier eine Luftaufnahme von Mitte Oktober - ist das größte Krankenhaus im Gazastreifen und eine der ältesten palästinensischen Gesundheitseinrichtungen Bild: 2023 Maxar Technologies via AP/picture alliance

"Die medizinischen Bedingungen im Al-Shifa - dem größten Krankenhaus in Gaza und einer der ältesten  palästinensischen Gesundheitseinrichtungen - sind katastrophal", hieß es in der Mitteilung. Das Krankenhaus platze aus allen Nähten. Die Notaufnahme und die Stationen seien überfüllt. Die Zahl der Verletzten steige von Stunde zu Stunde, während die Patienten unnötige Schmerzen erlitten, da Medikamente und Betäubungsmittel zur Neige gingen.

UNRWA und WHO erneuerten ihren Aufruf zur Lieferung von Treibstoff an humanitäre Organisationen im Gazastreifen. Ohne Treibstoff könnten Krankenhäuser und andere Einrichtungen wie Entsalzungsanlagen und Bäckereien nicht funktionieren. Als Folge davon würden noch mehr Menschen sterben.

rb/cw/fab/uh/gri/qu (afp, ap, dpa, rtr)