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"Nanking-Requiem": Blick zurück auf ein Inferno

Cornelia Rabitz2. Oktober 2012

Ein amerikanischer Autor mit chinesischen Wurzeln hat über ein brisantes Kapitel der Geschichte geschrieben: den japanisch-chinesischen Krieg 1937, freilich in Romanform. Jetzt ist das Buch in Deutsch erschienen.

Signatur: Bild 183-S34828 Originaltitel: info Vom fernöstlichen Kriegsschauplatz. Der Vormarsch der japanischen Truppen geht unaufhaltsam weiter. U.Bz. japanische Reserve auf dem Marsch längs der Eisenbahnlinie nach Nanking auf der Station Wusih vor Nanking. 48573 26.12.1937 Archivtitel: Zweiter Japanisch-Chinesischer Krieg, China.- Vormarsch japanischer Truppen entlang der Eisenbahnlinie nach Nanking. Bundesarchiv, Bild 183-S34828 / CC-BY-SA
Bild: Bundesarchiv, Bild 183-S34828 / CC-BY-SA

Dezember 1937: Japan und China liegen (zum zweiten Mal) im Krieg miteinander, die japanische Armee hat Nanking eingeschlossen, chinesische Soldaten und Zivilbevölkerung, viele der in der damaligen Hauptstadt lebenden Ausländer sind in Panik über den Fluss Jangtsekiang geflüchtet, auch einige Politiker und Verantwortliche der Stadtverwaltung. Unterdessen arbeitet ein Komitee an der Errichtung einer Sicherheitszone für die verbleibenden Ausländer, es wird von dem deutschen Geschäftsmann John Rabe geleitet. Die Situation ist aufs äußerste angespannt. Am 13. des Monats besetzen Japans Truppen Nanking, eine Gewaltwelle ohnegleichen schwappt über die Stadt. Was jetzt passiert, ist mit dem Begriff "Kriegsverbrechen" nur beschönigend umschrieben.

Erinnerungsarbeit

Hier setzt Ha Jins Roman "Nanking Requiem" ein. Die soeben erschienene deutsche Ausgabe lenkt den Blick auf ungeheuerliche Vorgänge, die dem Gedächtnis Westeuropas längst entrückt und dennoch aktuell sind: Den Streit zwischen Tokio und Peking um eine Inselgruppe im ostchinesischen Meer kann besser verstehen, wer auch die tief liegenden historischen Verwundungen kennt, wer weiß, dass die Massaker, die die Japaner an den Chinesen verübt haben, nie umfassend aufgearbeitet worden sind und dass es keine, schon gar keine gemeinsame Erinnerungskultur dafür gibt.

Ha Jin lebt seit vielen Jahren in den USA, er hat zahlreiche Romane und Erzählungen geschrieben, die sich mit der Geschichte seiner chinesischen Heimat und mit Ostasien überhaupt beschäftigen. Er wurde dafür unter anderem mit dem Pulitzer Preis ausgezeichnet. Jetzt widmet er sich also den sechs Wochen im Dezember 1937, die man ohne Übertreibung als die Hölle auf Erden bezeichnen kann, ein Blutbad ohnegleichen, das unter der Zivilbevölkerung Nankings angerichtet wurde, eine Hass- und Verfolgungsorgie, die auch manche Ausländer nicht verschont hat.

Japanische Truppen auf dem Weg in ein chinesisches Regierungsgebäude,1938Bild: dapd

Mutige Missionarin

Viele historische Figuren – nicht zuletzt der besagte John Rabe – begegnen uns bei der Lektüre, aber eigentlich hat das Buch eine bislang unbekannte Heldin: die aus den USA stammende Missionarin Minnie Vautrin, Leiterin einer amerikanischen Mädchenschule in Nanking. Sie ist Teil der kleinen verbliebenen internationalen Gemeinschaft, die jetzt noch versucht, über Schutzzonen möglichst viele Menschen zu retten. Auch die Schule wird unter Minnies tatkräftiger Leitung eine solche Zone. Es ist ein Rennen gegen die Zeit und ein Kampf gegen die eigene Angst, der die Missionarin beflügelt. Zehntausend junge Mädchen und Frauen werden schließlich auf dem Schulgelände Asyl finden, unter schwierigsten Bedingungen. Unterstützt wird Minnie Vautrin durch eine chinesische Assistentin, Anling – aus deren Perspektive das Buch erzählt wird.

Mit unglaublicher Tatkraft organisiert die Amerikanerin zusammen mit treuen Helfern das unendlich schwierige alltägliche Leben für ihre Schützlinge, mutig stellt sie sich auch japanischen Soldaten und Offizieren entgegen, die auf das Gelände vordringen – doch oft muss auch sie ohnmächtig zusehen, wie Mädchen entführt, Frauen bedroht, gequält, vergewaltigt und ermordet werden. Wir erfahren, wie schwierig die Beschaffung von Lebensmitteln für die vielen Schutzsuchenden ist, wie drangvoll die Enge auf dem für wenige hundert Personen angelegten Campus, wie düster die Schatten der Besatzung, wie grell die Gewalt gegen Zivilisten jenseits der Schultore und wie Trost spendend die Unterstützung durch Gleichgesinnte außerhalb der Schule.

Antikriegsbuch mit Schwächen

Autor Ha Jin hat das Tagebuch von Minnie Vautrin und andere Dokumente ausgewertet und in seinem Roman Figuren, Schicksale und historische Geschehnissen verknüpft. "Nanking Requiem" darf getrost als ein modernes Antikriegsbuch bezeichnet werden. Und dennoch hat es Schwächen: Der Autor pflegt in diesem Roman einen seltsam abgehobenen Berichts-Stil, der so gar nicht zur Dramatik der Ereignisse passen will und auch die Personen in einem kalten, sterilen Licht erscheinen lässt. Was hier fehlt sind Empathie, Mitgefühl und eine plastische Zeichnung mindestens der Hauptfiguren. Und so stellt sich am Ende die Frage: Ein Roman? Oder eher eine Zusammenfassung historischer Ereignisse? Dass diese Frage nicht eindeutig zugunsten des Genres beantwortet werden kann ist das Problem dieses Buches.

Bild: © 2012 ullstein buchverlage gmbh

Und schließlich: Deutsche Leser hätten sicherlich ein erläuterndes Vor- oder Nachwort zu schätzen gewusst. Eine Karte von Nanking und der Region hätte zusätzliche Informationen liefern können.

Informationen zum Buch: Ha Jin "Nanking Requiem", Ullstein Verlag, 352 Seiten, € 22,99