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Politik

"Ich habe Angst, dass Auschwitz nur schläft"

Nadine Mena Michollek
24. Oktober 2022

Vor zehn Jahren wurde in Berlin das Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma Europas eingeweiht, doch bisher ist dieser NS-Genozid kaum bekannt. Junge Nachfahren der Opfer wollen das ändern.

Deutschland Stadtführung Berlin - Topographie des Terrors Sinti und Roma
Berlin - Eingang des Denkmals für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma EuropasBild: Nadine Michollek/DW

Es ist ein kühler Herbstmorgen. In der Nacht hat es geregnet. Der Pflastersteinweg im Berliner Tiergarten ist noch nass. Eine dicke Wolkendecke färbt den Himmel grau. Wir stehen vor einem braunen Stahltor: Es ist der Eingang zum Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma Europas. Stefan Pavlovic und sein Kollege David Nikolic haben heute eine Führung zum Thema Verfolgung und Vernichtung der Sinti und Roma in der NS-Zeit organisiert. Wir hören Rollkoffer über Pflastersteine klackern. Eine Gruppe kommt an - etwa 15 Roma und Nicht-Roma aus verschiedenen belarussischen Roma-Organisationen. 

Stefan Pavlovic und David Nikolic am Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma EuropasBild: Nadine Michollek/DW

Die beiden Studenten Stefan und David sind Teil des Projekts "Me Sem Me", das vom "Rroma-Informations-Centrum" in Berlin ins Leben gerufen wurde. In dem Projekt berichten junge Nachfahren, deren Familien von der NS-Verfolgung betroffen waren, über den Genozid an den Roma und Sinti. David sagt, er fühle eine Art Verpflichtung gegenüber seinen Vorfahren, die Geschichte anderen näher zu bringen. "Me Sem Me" ist Romanes und bedeutet auf Deutsch übersetzt: "Ich bin Ich". Damit will der Verein deutlich machen, dass sie als Roma akzeptiert werden wollen. 

Rassismus gegen Sinti und Roma ist bis heute weit verbreitet

Das ist wichtig für sie, denn bis heute ist Rassismus gegen die Sinti- und Roma-Community weit verbreitet. Stefan kennt das selbst nur zu gut. Als er Abitur machte, warf ihm eine Lehrerin vor, er mache das nur, um weiter Kindergeld zu kassieren. "Ich war geschockt. Deswegen sind mir diese Führungen auch so wichtig. Hier können wir über Rassismus von Anfang an aufklären. Wir haben oft auch Schulgruppen hier."

Die heutige Gruppe aus Belarus ist extra für die Führung der Jugendlichen angereist - und um das Rroma-Informations-Centrum kennenzulernen. Nur zwei Tage sind sie in Berlin. Fotografieren darf ich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer nicht. Da Belarus die Deutsche Welle als "extremistisch" einstuft, fürchten sie um ihre staatliche Finanzierung.

Das Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma Europas wurde am 24.10.2012 in Berlin eingeweihtBild: Nadine Michollek/DW

Das Denkmal ist eine Lichtung, umringt von Bäumen, der Reichstag im Hintergrund. In der Mitte der Lichtung ist ein kleiner See, aus dem ein dreieckiger Sockel emporragt, der jeden Tag sinkt und wieder aufsteigt, jedes Mal mit einer frischen kleinen Blume darauf. Eigentlich ist es ein harmonisches Bild, ein ruhiger Gedenkort mitten in der hektischen Innenstadt. Doch als wir heute eintreten, zeigt sich ein etwas anderes Bild. Reinigungsgeräte surren und der See, auf dessen Oberfläche sich sonst Himmel, Reichstag und Bäume spiegeln, ist leer. Das Wasserbecken wird sauber gemacht.

Der ergreifendste Moment seines Lebens

Wir schreiten durch die nasse Wiese, die den Rest des Denkmals umgibt, und halten in der Nähe einiger Bäume, deren Blätter sich bereits gelb färben. Stefan erklärt, dass das Denkmal vom israelischen Künstler Dani Karavan entworfen wurde. Er war Sohn polnisch-jüdischer Einwanderer. Im Hintergrund höre man normalerweise das Geigenstück "Mare Manuschenge", komponiert vom Sinto-Musiker und Politiker Romeo Franz. Wir treten an das leere Wasserbecken heran und Stefan zeigt auf die metallene Einfassung, auf der steht: "Eingefallenes Gesicht; erloschene Augen; kalte Lippen; Stille; ein zerrissenes Herz; ohne Atem; ohne Worte; keine Tränen". Es ist ein Gedicht mit dem Titel "Auschwitz" und stammt vom italienischen Roma-Musiker und Hochschullehrer Santino Spinelli.

David Nikolic zeigt auf die Steinplatten - hier stehen die Orte der Erschießungen, der Konzentrations- und VernichtungslagerBild: Nadine Michollek/DW

Auch wenn durch die Reinigungsarbeiten das Denkmal heute nicht seine ganze Wirkung entfaltet, ist die belarussische Gruppe bewegt. Ein Rom sagt mir, dass dies der wichtigste und ergreifendste Moment seines Lebens sei. In Belarus gebe es zwar auch Denkmäler für die Opfer des Nationalsozialismus, allerdings keines, dass sich speziell an Sinti und Roma richte. Ein anderes Gruppenmitglied ist beeindruckt von der zentralen Lage zwischen Reichstag und Brandenburger Tor. Das zeige, wie wichtig Deutschland das Gedenken sei. Als Stefan daraufhin erzählt, dass sie durch den geplanten Bau eines S-Bahntunnels aktuell um das Denkmal fürchten, ist die Gruppe entsetzt.

Ein Sinto-Boxer gegen das NS-Regime

Stefan und David zeigen auf die Steinplatten auf dem Boden, die den See umranden. Sie erinnern an Scherben. Auf diesen stehen die Orte der Erschießungen, der Konzentrations- und Vernichtungslager. Stefan holt ein Tablet heraus und zeigt ein Bild von Johann "Rukeli" Trollmann. Die Gruppe tummelt sich um ihn, um etwas zu sehen. Trollmann war ein deutscher Sinto, ein berühmter Boxer. Im Jahr 1933 hatte er aus Protest gegen den Rassenwahn des NS-Regimes bei einem Boxkampf blond gefärbte Haare und weiß gepuderte Haut. Er wurde 1944 in einem Außenlager des KZ-Neuengamme ermordet.

Der Ausstellungsgraben am Erinnerungsort "Topographie des Terrors", BerlinBild: Nadine Michollek/DW

Die Reinigungsarbeiten am Denkmal sind beendet. Während der See sich langsam wieder mit Wasser füllt, schaffen es einige blasse Sonnenstrahlen durch die dichte Wolkendecke. Sie spiegeln sich im See, der tief und schwarz erscheint. Die belarussische Gruppe macht noch schnell Fotos. Dann müssen sie los. Ihr Flieger geht bald. Den letzten Teil der Führung machen Stefan und David mit mir allein. 

Europa darf die Vergangenheit nicht vergessen

Wir halten am Erinnerungsort "Topographie des Terrors". Die Wolkendecke hat sich wieder zugezogen. Die grauen Gebäude und Steinplatten des Ortes werden fast eins mit dem Grau des Himmels. Stefan erklärt, dass sich hier während der Nazizeit die Zentralen der Geheimen Staatspolizei, der SS und des Reichssicherheitshauptamts befanden.

Stefan Pavlovic erklärt am Erinnerungsort "Topographie des Terrors", wie Sinti und Roma verfolgt wurdenBild: Nadine Michollek/DW

Wir gehen hinunter zum Ausstellungsgraben. Eine lange Reihe von Informationstafeln, davor viele Besucher. Wir drängeln uns zu einer Tafel, die die Verfolgung der Sinti und Roma thematisiert. Wir sehen Bilder des Lagers in Berlin Marzahn. Stefan erklärt, dass Roma und Sinti vor den Olympischen Spielen in Berlin im Jahr 1936 in dieses Lager eingeliefert wurden. Das Lager sei eine erste Station gewesen auf dem Weg von der systematischen Ausgrenzung zur Ermordung. Die Nationalsozialisten deportierten 1943 fast alle Insassen nach Auschwitz und töteten sie dort. 

Die österreichische Romni Ceija Stojka gehört zu den wenigen KZ-Häftlingen, die Auschwitz überlebten. Als Kind war sie in drei Konzentrationslagern. Später wurde sie Schriftstellerin und Künstlerin. Stefan beendet seine Führung mit einem Zitat von ihr: "Ich habe Angst, dass Europa seine Vergangenheit vergisst und dass Auschwitz nur schläft." Genau das wollen Stefan und David mit der Führung "Me Sem Me" verhindern.