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Politik

Pakt der atomaren Abschreckung

12. Dezember 2019

Mit den sowjetischen SS-20-Mittelstreckenraketen begann eine neue Eiszeit im Kalten Krieg. Der Westen antwortete vor 40 Jahren mit dem NATO-Doppelbeschluss. Er sollte das Gleichgewicht des Schreckens wiederherstellen.

USA Start einer Pershing II-Rakete
Bild: picture-alliance/dpa

Die 1970er Jahre: Seit Jahrzehnten belauern sich die NATO und der Warschauer Pakt, stehen sich West und Ost feindselig gegenüber. Doch endlich scheint eine Phase der Entspannung angebrochen zu sein. Mehr als 35 Staaten, darunter die USA und die Sowjetunion, verpflichten sich am 21. Juli 1975 in Helsinki nach zweijährigen Verhandlungen zur Unverletzlichkeit der Grenzen und der friedlichen Regelung von Streitfällen. Die Unterzeichnung der Schlussakte der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) löst große Hoffnungen aus.

Doch in Wirklichkeit hat der Rüstungswettlauf zwischen den Blöcken kein Ende genommen. 1977 überrascht die Sowjetunion den Westen mit einer atomaren Aufrüstungs-Initiative. Sie modernisiert ihre Mittelstreckensysteme in Osteuropa mit sehr viel zielgenaueren, weitreichenderen Raketen: Den SS-20, der 20. Generation von "Surface-to-surface"-Raketen, die vom Boden aus auf Bodenziele abgeschossen werden können.

Achtzigfache Zerstörungskraft der Hiroshima-Bombe

Der von den Russen "Pionier-Rakete" genannte Flugkörper galt als die gefährlichste Atomrakete mittlerer Reichweite in Europa. Ausgestattet mit bis zu drei unabhängig voneinander steuerbaren Sprengköpfen, verfügt sie über bis zu 80 mal mehr Zerstörungskraft als die Hiroshima-Bombe. Auf Lastwagen montiert, ist sie in Minuten startklar und fliegt mehr als 5000 Kilometer weit. Mindestens zwei Drittel ihrer mobilen Stellungen liegen so, dass von ihnen aus Ziele in Europa bekämpft werden können. Ein Alptraum für die westlichen Militärs. Der Beginn einer neuen Eiszeit im Kalten Krieg.

Mobil und tödlich: Eine der seltenen Aufnahmen der SS-20 Bild: picture-alliance/dpa/Sputnik/I. Baskakov

Der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt sieht das strategische Gleichgewicht in Europa sowie die Sicherheit der Bundesrepublik gefährdet: "Ich fürchtete, dass das eines Tages (…) ein Instrument zur Nötigung Deutschlands werden könnte. Die Raketen waren im Wesentlichen auf Deutschland gezielt", sagte Schmidt später in einem Interview des ZDF. 1977 schlägt der SPD-Politiker in einer Rede im Londoner Institute for Strategic Studies eine Nachrüstung des Westens mit Mittelstreckenraketen vor. Diese sollten nach seiner Vorstellung auch auf deutschem Boden stationiert sein.

SPD-Parteitag 1982 - Helmut Schmidts Rede steht im Zeichen des NATO-Doppelbeschlusses Bild: picture alliance / Klaus Rose

Rüstet Moskau ab, rüstet der Westen nicht auf

Zwei Jahre später formuliert die NATO ihre Antwort auf das sowjetische Muskelspiel. Am 12. Dezember 1979 verabschiedet das Verteidigungsbündnis in Brüssel den Nato-Doppelbeschluss. Er sieht Abrüstungsverhandlungen mit der Sowjetunion vor, enthält aber auch eine Drohung: Sollten die Raketen nicht abgebaut werden, würden die USA nach vier Jahren – also Ende 1983 – ebenfalls atomare Mittelstreckenraketen in Europa stationieren. Ein Spiel mit dem Feuer. Die Sowjetunion lässt sich nicht an den Verhandlungstisch zwingen. Nur wenige Tage später, am 24. Dezember 1979, besetzen sowjetische Truppen Afghanistan. Die Fronten verhärten sich, der Warschauer Pakt und die NATO rüsten auf.

Als Reaktion auf die Eskalation gehen in West-Deutschland hunderttausende Menschen auf die Straße. Auch in der DDR regt sich unter dem Motto "Schwerter zu Pflugscharen" Protest. Die Demonstranten seien der Meinung gewesen, "wenn wir die Aufstellung der amerikanischen Raketen verhindern, dann verhindern wir gleichzeitig nicht nur ein weiteres Wettrüsten zwischen Ost und West, sondern möglicherweise den Ausbruch eines Krieges", erklärt der Historiker Manfred Görtemaker.

Allein in Bonn demonstrierten 1981 300.000 Menschen gegen den NATO-DoppelbeschlussBild: picture-alliance/dpa

Bundeskanzler Kohl übernimmt Schmidts Strategie

Die Friedensbewegung entwickelt sich zu einem politischen Machtfaktor. Nährboden für die Grünen, die 1983 in den Bundestag einziehen. Ihr aller Feindbild: Der 1981 gewählte US-Präsident Ronald Reagan, dem offenbar weniger an Verhandlungen, sondern mehr an Aufrüstung liegt. Helmut Schmidt gerät ebenfalls unter Druck. Auch innerparteilich – wegen seiner Sozial- und Wirtschaftspolitik, aber auch wegen Vorbehalten gegenüber dem NATO-Doppelbeschluss. 1982 stürzt Schmidt über ein konstruktives Misstrauensvotum. Sein Nachfolger Helmut Kohl (CDU) knüpft an die Politik seines Vorgängers an. Am 22. November 1983 stimmt der Bundestag der Stationierung von US-Mittelstreckenraketen zu. Atomraketen vom Typ Pershing II und sich selbst ins Ziel steuernde Cruise Missiles werden in Deutschland in Stellung gebracht.

Insgesamt werden 120 Pershing-II-Mittelstreckenraketen in der Bundesrepublik Deutschland stationiert. Sie hatten jeweils eine Reichweite von bis zu 1.800 Kilometern.Bild: Frank Trevino/US Department of Defense

Horst Teltschik, damals Vize-Kanzleramtschef: "Als Kohl Bundeskanzler wurde, standen wir gewissermaßen vor dem Höhepunkt eines neuen Kalten Krieges. 1983 hatten wir bis zu 500.000 Demonstranten auf den Straßen. Die sogenannte Friedensbewegung. Heute wissen wir, dass der KGB und die Stasi das auch finanziell und personell unterstützt hatten." Aber, so Teltschik, Helmut Kohl habe die Position von Schmidt immer für richtig gehalten, "wir bekommen die sowjetischen Raketen nur weg, indem wir an dieser Alternative festhalten: wenn du nicht abbaust, bauen wir auch auf"

Rüstungsausgaben überfordern die sowjetische Wirtschaft

1985 kommt es zur historischen Wende. Michael Gorbatschow übernimmt die Macht in der UDSSR. Der Kreml öffnet sich für Reformen. Glasnost (Offenheit) und Perestroika (Umgestaltung) machen den Weg frei für Abrüstungsgespräche. Gezwungenermaßen: Die in die Höhe getriebenen Kosten des Militärapparats treiben Gorbatschows Reformpläne an. Der wirtschaftlich starke, kapitalistische Westen hat den sozialistischen Osten schlichtweg in die Knie gerüstet.

Aufmarsch auf dem Roten Platz in Moskau: Doch die Kosten für die Armee hatten die Kassen leergefegtBild: picture-alliance/dpa

Noch im Jahr seines Amtsantritts werden Verhandlungen aufgenommen. Im Dezember 1987 verpflichten sich beide Seiten zur Vernichtung aller Raketen mit Reichweiten zwischen 500 und 5500 Kilometern. 1991 folgt der Start-Vertrag zur Begrenzung von Atomraketen mit längerer Reichweite. Für den ehemaligen Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher (FDP), war der NATO-Doppelbeschluss daher die Initialzündung für eine Abrüstungsspirale: "Das Ergebnis des Nato-Doppelbeschlusses war - was wir immer versprochen hatten - nämlich, dass es nicht nur weniger solcher Raketen geben wird, sondern gar keine mehr. Die Null-Lösung war das Ziel des Nato-Doppelbeschlusses. Es war eine der erfolgreichsten Abrüstungspolitik-Maßnahmen, die es gab."

Dauerhaftes Tauwetter im Kalten Krieg nicht in Sicht

Und heute? Die auch aus der Friedensbewegung entstandenen Grünen haben sich längst als feste Größe der deutschen Politik etabliert. Der Kalte Krieg auf dem Weg zurück zu sein, der 1987 geschlossene Abrüstungsvertrag wurde im August diesen Jahres außer Kraft gesetzt. In Deutschland sind zwar keine Atomraketen mehr stationiert, aber Atombomben, die auf dem Bundeswehr Fliegerhorst Büchel in der Eifel lagern. 40 Jahre nach dem NATO-Doppelbeschluss ist die Menschheit immer noch weit entfernt von einer Welt ohne Atomwaffen.

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