Ein Jahr NATO-Chef: Nicht nur Lob für Krisenmanager Rutte
30. September 2025
Als Mark Rutte am 1. Oktober 2024 die Nachfolge vom damaligen NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg antrat, war klar: Lange würde er sich nicht in sein neues Amt einarbeiten können. Die Europäer waren der Ansicht, dass Rutte der am besten geeignete Kandidat für den Posten sei. Einer, der mit dem möglicherweise bald wieder angespannten Verhältnis zwischen der NATO und ihrem mächtigsten Bündnispartner, den USA, richtig umzugehen wüsste.
Die europäische Sorge um ein schwieriges Verhältnis zwischen NATO und USA erwies sich als berechtigt: Einen Monat später wurde Donald Trump als US-Präsident wiedergewählt. Im Wahlkampf bot Trump Russlands Staatschef Wladimir Putin offen an, mit Ländern zu "machen, was immer er wolle", wenn sie nicht wie versprochen mindestens zwei Prozent ihres Bruttoinlandprodukts (BIP) für Verteidigung ausgeben. In seiner ersten Amtszeit hatte er darüber nachgedacht, die USA aus dem Bündnis abzuziehen.
Nach Trumps Wiederwahl übernahm Rutte mit Begeisterung die Aufgabe, das Engagement der USA gegenüber dem Nordatlantischen Verteidigungsbündnis zu erneuern. Noch vor Trumps Amtseinführung machte er sich auf den Weg, um den designierten Präsidenten in dessen Anwesen Mar-a-Lago in Florida zu treffen. Erfolglos hatte er versucht, diese Reise geheim zu halten.
Das Schweigen des NATO-Chefs über Trumps Grönland-Phantasien
Bei einem späteren Treffen im März, nach Trumps Vereidigung, wurde Rutte dafür kritisiert, dass er fast schweigend dagesessen hatte, als der US-Präsident von einem Erwerb Grönlands sprach. Grönland ist die größte Insel der Welt und eine halbautonome Provinz des NATO-Mitglieds Dänemark.
Die Erinnerung an die öffentliche Zurückweisung des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj im Weißen Haus durch Trump und seinen Vize JD Vance könnte Rutte davon abgehalten haben, in diesem Moment über Grönland zu diskutieren. So vermutet es Jim Townsend, ehemals stellvertretender US-Staatssekretär für Verteidigungspolitik in Europa und NATO-Angelegenheiten.
"So etwas macht man nicht, es sei denn, es stehen Leben auf dem Spiel", sagt Townsend. "Man geht danach still und leise weg - und nimmt Korrekturen vor. Ich denke, dass es für Rutte wirklich nicht gut ausgegangen wäre und die Situation verschlimmert hätte, wenn er versucht hätte, etwas dazu zu sagen."
Townsend ist heute Senior-Partner an der Washingtoner Denkfabrik Center for a New American Security, die auf US-amerikanische Sicherheitsinteressen spezialisiert ist. Er meint, Ruttes Schmeichelei gegenüber Trump sei aber möglicherweise "zu weit gegangen". "Es ist sicherlich nicht gut, einem einzelnen Verbündeten so sehr entgegenzukommen." Man dürfe keine Favoriten haben, so Townsend. "Aber da die USA ein mächtiger Verbündeter sind, ist es wichtig, dass Rutte das tut, was getan werden muss, um [Trump] an Bord der Allianz zu halten."
Wie Mark Rutte Donald Trump zum NATO-Gipfel holte
Kurz vor dem NATO-Gipfel im Juni in Den Haag, der Heimatstadt von Rutte, kamen Warnungen aus den USA: Trump würde möglicherweise nicht teilnehmen, sollten die Bündnisstaaten ihr Ausgabenziel für Verteidigung nicht von zwei auf fünf Prozent des BIP anheben.
Rutte setzte sich bei den Mitgliedern dafür ein und verwendete in mindestens einem Fall kreative Formulierungen, um die Zahlen in Einklang zu bringen. Das Ergebnis: Als der Gipfel begann, befand sich die Präsidentenmaschine Air Force One auf dem Weg über den Atlantik.
"Seine Fähigkeit, effektiv mit internen Spannungen und politischen Spaltungen umzugehen, ist erwiesen", sagt Rem Korteweg, Leiter des US-Programms am Clingendael-Institut in Den Haag über Rutte. "Die europäischen Verbündeten haben sich zu höheren Verteidigungsausgaben verpflichtet, und die USA haben im Gegenzug ihr Engagement für die Verteidigung des Bündnisses bekräftigt." Das seien gute Nachrichten. "Das Problem ist, dass wir nicht wissen, wie dauerhaft dies ist. Es könnte sich um kurzfristige Erfolge handeln."
Trumps Reaktion auf den Gipfel war eine, die sich nur wenige Mitglieder hätten vorstellen können. "Ich bin hierhergekommen, weil es etwas war, das ich tun sollte", sagte Trump bei seiner Abreise aus Den Haag, "aber ich bin mit einer anderen Einstellung abgereist. Ich bin mit der Überzeugung abgereist, dass diese [NATO-Führer] ihre Länder wirklich lieben. … Und wir sind hier, um ihnen zu helfen, ihr Land zu schützen."
Zwar hatten sich auch andere Regierungschefinnen und -chefs von NATO-Staaten intensiv um die transatlantische Annäherung bemüht. Doch der meiste Druck lastete auf Rutte - und so wurde ihm auch der Verdienst zuteil.
Internationale Einschätzungen zu Rutte als NATO-Generalsekretär
Apropos Verdienst: Die DW hat mehrere Expertinnen und Experten für Außenpolitik gebeten, Rutte nach seinem ersten Jahr zu benoten, wobei "A" die beste Note ist.
"B-" - meint Elena Lazarou, Generaldirektorin von ELIAMEP, einer griechischen Stiftung für europäische und auswärtige Politik. "Es war keine leichte Aufgabe, in Den Haag das Bekenntnis der Verbündeten zu höheren Verteidigungsausgaben sicherzustellen. Ich würde sagen, dass der Generalsekretär seine ersten zwölf Monate mit einer angemessenen Mischung aus Strategie und Diplomatie gemeistert hat, trotz gelegentlicher Kommunikationsfehler hier und da."
"B" - vergibt auch Jim Townsend. "Es ist noch früh für ihn, also warten wir ab, ob er sich in den kommenden Jahren zu einem "A" hocharbeitet. Seine Energie und sein sprudelnder Optimismus sind ein Pluspunkt - in der richtigen Dosierung und zum richtigen Zeitpunkt. Aber jetzt steht er vor der wahren Bewährungsprobe: Wie wird er die NATO zusammenhalten und einem aggressiven Russland die Stirn bieten?"
"B+ "- findet Rem Korteweg vom niederländischen Clingendael Institute für internationale Beziehungen. "So weit, so gut. Die europäischen NATO-Verbündeten brauchen Zeit - Zeit, um ihre militärischen Fähigkeiten zu verbessern, und Zeit, um schrittweise mehr Verantwortung für die Sicherheit Europas zu übernehmen. Rutte hat nicht wenig dazu beigetragen, Trump bei Laune zu halten und Europa diese dringend benötigte Zeit zu verschaffen. Wenn er sich in der Zwischenzeit beim US-Präsidenten einschmeicheln muss, dann sei es so."
"A" - urteilt Ian Lesser, Leiter des Brüsseler Büros des German Marshall Fund of the United States, einer US-Stiftung zur Förderung der transatlantischen Beziehungen. "Ich würde seine Leistung sehr, sehr hoch bewerten. Er hat die Erwartungen erfüllt, die vor seiner Ernennung in dieser Hinsicht bestanden - aber nicht nur das. Er hat das Bündnis auch in sehr schwierigen Fragen mit ins Boot geholt, etwa bei den Ausgaben und anderen Themen. Und dann wird es vermutlich auch neue Herausforderungen geben, die mit den Einsatzregeln für Luftraumverletzungen durch Russland und anderen Themen zu tun haben, bei denen ein Konsens innerhalb des Bündnisses absolut entscheidend ist."
Insgesamt also kein schlechtes erstes Jahr, so die internationale Beobachtung. Ruttes zweites Jahr wird jedoch noch mehr Herausforderungen mit sich bringen. "Da das Bündnis selbst zunehmend bedroht ist [durch Drohnen, Luftraumverletzungen, hybride Operationen; Ammerk. der Red.], bleibt abzuwarten, ob der stets fröhliche und etwas informelle Rutte die NATO auch dann effektiv führen kann, wenn sie mehr Druck von außen ausgesetzt ist", sagt sein Landsmann Korteweg. "Kann er sowohl ein strenger als auch ein integrativer Generalsekretär sein?"
Adaption aus dem Englischen: Jeannette Cwienk