NATO-Mitglieder beraten über neue Strategie
14. Oktober 2010An diesem Donnerstag (14.10.2010) wollen die Außen- und Verteidigungsminister der 28 Mitgliedsstaaten bei ihrem ersten gemeinsamen Treffen seit zehn Jahren in Brüssel die Eckpunkte dafür festzurren.
Auf dem Tisch liegt ein Entwurf von Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen. Er will damit das Bündnis in die Lage versetzen, auf neue Bedrohungen wie Angriffe aus dem Internet zu reagieren. Außerdem schlägt er eine Raketenabwehr für Europa vor. Mit der neuen Strategie soll das alte Konzept von 1999 abgelöst werden, das noch der Zeit nach dem Ende des Kalten Kriegs verhaftet ist und auf nur 16 Mitgliedsländer ausgelegt war.
Grundprinzip bleibt die kollektive Verteidigung nach Artikel fünf des Nordatlantik-Vertrags von 1949. Danach ist ein Angriff auf eines oder mehrere Mitglieder ein Angriff auf das ganze Bündnis. Diesen sogenannten Bündnisfall hat die NATO erst ein einziges Mal ausgerufen: nach den Terrorangriffen in den USA vom September 2001. Verabschiedet werden soll das neue Konzept auf dem NATO-Gipfel am 19. November in der portugiesischen Hauptstadt Lissabon.
Reaktion auf neue Bedrohung
Seit dem großangelegten Hackerangriff auf den Baltenstaat Estland vor drei Jahren wächst in der Allianz die Angst vor einem "elektronischen Pearl Harbor". So nennen Experten massive Attacken aus dem Internet unter Anspielung auf das japanische Bombardement der US-Pazifikflotte im Jahre 1941.
"Solche Attacken richten sich nicht nur gegen die militärischen Netzwerke", warnt der stellvertretende Verteidigungsminister der USA, William Lynn. Sie träfen vielmehr die "kritische Infrastruktur" wie das Stromnetz, Verkehrssysteme, Banken und Regierungsdienste.
Jüngstes Beispiel ist der Computervirus Stuxnet, der zuletzt in Rechnern von Industrieanlagen im Iran und weiteren Staaten auftauchte. NATO-Generalsekretär Rasmussen hat den Krieg im Netz deshalb zum Chefthema gemacht. Der Däne sieht die Zeit für eine "NATO 3.0" gekommen. Umstritten ist, ob eine solche Attacke auch ein Bündnisfall wäre. Rasmussen will das nicht ausschließen, andere NATO-Staaten bestehen auf einer Gleichsetzung mit einem militärischen Angriff. Die Bundesregierung lehnt dies ab.
Ein Schutzschirm für Europa
Die Abwehr von auf Europa gerichteter Raketen beschäftigt die Allianz seit Jahren. Hintergrund ist die Fähigkeit von immer mehr Staaten, Raketen abzufeuern. Nach Angaben Rasmussens verfügen derzeit rund 30 Staaten über solche Waffen. Große Sorge gilt dabei vor allem dem Atomprogramm des Iran sowie dem Ausbau der iranischen Raketentechnik. Die neue NATO-Strategie sieht deshalb auch die Schaffung eines Raketenabwehrsystems für Europa im Verbund mit den USA vor.
Rasmussen will die bereits bestehende Raketenabwehr der USA sowie vorhandene und geplante Kurzstreckenabwehrsysteme zum Schutz eingesetzter Truppen miteinander vernetzen und zu einem Schutzsystem für das gesamte Bündnisgebiet ausbauen. Die Kosten allein für die Vernetzung werden auf rund 200 Milliarden Euro, verteilt auf zehn Jahre, geschätzt. Dazu kämen noch die Mittel für die Beschaffung neuer Raketen und Abfangsysteme. Viele NATO-Staaten dringen deshalb auf mehr Klarheit über die tatsächlichen Kosten.
USA: Notfalls auch im Alleingang
Die USA haben angekündigt, ohne einstimmigen NATO-Beschluss das System im Alleingang mit Staaten wie Polen, Tschechien, Rumänien oder der Türkei aufzubauen. Bundesverteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg signalisierte Zustimmung. "Wir halten den Raketenschirm grundsätzlich für eine gute Idee, glauben aber auch, dass Punkte wie Abrüstung durchaus eine wesentliche Komponente sein sollten", sagte Guttenberg vor dem Ministertreffen in Brüssel.
Die NATO will bei einer größeren Raketenabwehr auch mit Russland zusammenarbeiten, nachdem die Pläne des ehemaligen US-Präsidenten George W. Bush verworfen wurden, in Polen und Tschechien ein gegen iranische Raketen gerichtetes Radar- und Abfangsystem aufzubauen. Bisher hat der Kreml nicht reagiert. Auch auf die Einladung zu Lissabon-Gipfel gibt es noch keine Antwort aus Moskau.
Atomwaffen nur noch als Übergang
Die NATO verfolgt weiterhin das von US-Präsident Barack Obama formulierte Ziel einer Welt ohne Atomwaffen. Bis dieses Ziel erreicht sei, kann die NATO nach den Worten Rasmussens allerdings nicht auf derartige Waffen verzichten. Folglich werden in dem Strategieentwurf auch keine Aussagen zu den rund 200 US-Atombomben in Europa gemacht, für deren Beseitigung sich Bundesaußenminister Guido Westerwelle sich einsetzt. Etwa 20 davon sind in Deutschland stationiert. Die Bundesregierung will sich jedoch für ein Bekenntnis zur nuklearen Abrüstung einsetzen. Spannungen gibt es mit der Atommacht Frankreich, die Eingriffe in ihre "Force de frappe" fürchtet.
Knausern oder Sparen
Als erstes einigten sich die Minister auf tiefgreifende Reformen in der Organisation des Nordatlantischen Bündnisses. So wird die Zahl der Hauptquartiere künftig von bisher elf auf maximal sieben verringert. Die Zahl der dort Beschäftigten soll von 12.500 auf 9000 sinken. Zudem wird es dann statt bisher 14 NATO-Agenturen nur noch drei geben.Welche Standorte betroffen sind, soll erst später bekannt gegeben werden.
Aus Diplomatenkreisen verlautete jedoch, US-Verteidigungsminister Gates habe erklärt, aus politischen Gründen solle die NATO künftig auch in der Türkei ein Hauptquartier haben. In Deutschland gibt es zwei davon: die "Allied Force Command Heidelberg" und die "Allied Air Command Ramstein".
Ganz anders sieht die Lage bei den Einsparungen in den nationalen Verteidigungshaushalten aus. So will Großbritannien seine Rüstungsausgaben um rund zehn Prozent kürzen, die Bundesrepublik mehr als neun Milliarden Euro einsparen. US-Verteidigungsminister Robert Gates sagte, die notwendigen Kürzungen im Zuge der Finanzkrise dürften nicht zu einer Mehrbelastung der USA führen.
Autor: Gerhard M Friese (dpa, afp, rtre)
Redaktion: Marion Linnenbrink