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PolitikEuropa

NATO fürchtet leere Munitionslager

12. Oktober 2022

Die Verteidigungsminister der Allianz drängen die Industrie, mehr Ausrüstung für die Ukraine und die eigenen Lager zu produzieren. Die Luftabwehr gegen russische Angriffe soll besser werden. Aus Brüssel Bernd Riegert.

Symbolbild Munition Waffenlieferungen
Nachschub ist entscheidend: Ohne Munition keine Verteidigung, sagt die NATO (Symbolbild)Bild: picture-alliance/dpa

"Die Ukraine soll alle Unterstützung erhalten, die sie braucht. So lange das nötig ist." Mit diesem Satz gab NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg die Marschrichtung für das Treffen der 30 NATO-Verteidigungsminister mit 20 Partnerstaaten in Brüssel vor. Zum sechsten Mal, seit Russland die Ukraine angegriffen hat, traf sich die Ramstein-Gruppe, benannt nach dem US-Luftwaffenstützpunkt in Deutschland, auf dem das erste der Koordinierungstreffen für militärische Ausrüstung stattfand. Der Vorsitzende der Gruppe, US-Verteidigungsminister Lloyd Austin, würdigte den erfolgreichen Abwehrkampf der ukrainischen Armee gegen den russischen Aggressor. Die Mehrfach-Raketenwerfer aus den USA vom Typ HIMARS hätten die "Dynamik auf dem Schlachtfeld" erheblich zum Vorteil der Ukraine verändert.

US-Verteidigungsminister Lloyd Austin: Himmel und Hölle bewegen, um Waffen in die Ukraine zu schaffenBild: Yves Herman/REUTERS

Diesmal lag der Schwerpunkt des Ramstein-Treffens auf der Verteidigung gegen Raketen, Marschflugkörper und Drohnen, nachdem der russische Machthaber Wladimir Putin in den vergangenen Tagen verstärkt Luftschläge gegen zivile Ziele in der Ukraine befohlen hatte. Die deutsche Verteidigungsministerin Christine Lambrecht, die am Wochenende die Ukraine besucht hatte, konnte verkünden, dass eine deutsche Firma das erste Raketenabwehrsystem vom Typ IRIS-T SLM an die Ukraine ausgeliefert hat. Das System mit einer kurzen Reichweite von nur 20 Kilometern sei "eine ganz wichtige Unterstützung gegen Raketenbeschuss, gegen den Terror, der gegenüber der Bevölkerung ausgeübt wird. Das ist etwas, dass wir gerade aktuell erleben", sagte Christine Lambrecht in Brüssel.

Mehr Raketenabwehr

Drei weitere zugesagte IRIS-T SLM-Systeme können allerdings erst im kommenden Jahr geliefert werden, räumte die Ministerin ein. Sie wünsche sich, dass die Firma ein wenig schneller produzieren könne, aber es seien eben hochkomplexe Systeme. Außerdem müssen die ukrainischen Soldaten an dem Gerät eingewiesen und trainiert werden. Gegen die aktuelle Angriffswelle der Russen können die Abwehrwaffen aus deutscher Produktion also wenig helfen. Trotzdem sprach der ukrainische Verteidigungsminister Olexij Resnikow dankbar von einem "neuen Zeitalter" der Luftverteidigung.

Die USA hatten acht neue Raketenabwehrsysteme aus US-amerikanischer Herstellung zugesagt, von denen nur zwei in den nächsten Wochen geliefert werden können. Sechs weitere müssen noch produziert werden. Die IRIS-T SLM-Abwehrraketen sind keine neue Entwicklung, sondern bereits in Ägypten, Schweden und Norwegen im Einsatz. Die für die Auslieferung an die Bundeswehr vorgesehenen Systeme werden jetzt sozusagen in die Ukraine umgelenkt.

Ministerin Christine Lambrecht (Mi.): Komplexe Systeme brauchen ZeitBild: Yves Herman/REUTERS

Das Beispiel IRIS-T SLM macht ein Dilemma deutlich, in dem die Länder stecken, die der Ukraine Ausrüstung abgeben. Die eigenen Vorräte und der eigene Nachschub werden minimiert, meinte ein NATO-Diplomat in Brüssel. Das gelte vor allem auch für die Munition und die Abfangraketen. "Die Lager leeren sich zusehends und sie aufzufüllen, ist schwierig", warnte der NATO-Diplomat in Hintergrundgesprächen. Deshalb haben die Verteidigungsministerinnen und -minister darüber gesprochen, wie die Produktion der Industrie angekurbelt werden kann. Man werde den Rüstungsfirmen wohl langfristige Abnahmegarantien für Munition und Rüstungsgüter geben, damit die Kapazitäten ausgeweitet werden. Denn ohne Munition, Granaten für Haubitzen, Raketen für Mehrfachwerfer oder einfache Gewehrkugeln nutze das leistungsfähigste Waffensystem wenig.

Waffenlager auffüllen

Bislang hatte die Ramstein-Gruppe Anti-Panzer-Waffen, Luftabwehrgeschosse, Artillerie, Panzer sowjetischer Bauart und große Mengen an Munition geliefert. Allein die USA sagten seit Beginn des Krieges im Februar Rüstungsgüter im Wert von 15 Milliarden US-Dollar zu. "Wir haben jetzt die Aufgabe, der Ukraine bei ihrer Verteidigung beständig zu helfen, in den nächsten Wochen, Monaten und Jahren", sagte der US-amerikanische Verteidigungsminister Lloyd Austin. "Wir wissen, dass die Ukraine mehr Artillerie mit höherer Reichweite brauchen wird."

Raketenabwehr IRIS-T SLM: Bisher nicht in Deutschland im EinsatzBild: Shan Yuqi/Xinhua/IMAGO

Die NATO-Minister vereinbarten auch, bei der Rüstungsbeschaffung enger zusammenzuarbeiten. Die deutsche Ministerin Christine Lambrecht kündigte an, dass man wie bisher gemeinsam mit den Niederlande Haubitzen mit großer Reichweite bereitstellen werde. Als gutes Beispiel für die Zusammenarbeit nannte US-Verteidigungsminister Lloyd Austin eine Initiative Dänemarks, Norwegens und Deutschlands. Sie wollen für die Ukraine kleinere hochmobile Haubitzen vom Typ Zuzana in der Slowakei produzieren lassen.

Gemeinsame Beschaffung - aber keine Kampfpanzer

Eine Lieferung von Kampfpanzern, die die Ukraine immer wieder fordert, ist dagegen nicht vorgesehen. Weitere Lieferungen von Gepard-Panzern zur Luftabwehr seien aber vorstellbar. Sie habe beim ihrem Besuch in Odessa selbst gesehen wie wertvoll die Gepards bei der Verteidigung von Hafenanlagen für den Getreideexport seien, berichtete die deutsche Ministerin Christine Lambrecht. Zwei Mal musste die Ministerin während ihres Besuchs in der Ukraine in den Luftschutzkeller. Das hat sie sehr beeindruckt: "Was muss das mit Menschen machen, die das Tag für Tag, Nacht für Nacht erleben. Deshalb ist es so wichtig, dass die Ukraine sich jetzt mit diesen Luftverteidigungssystemen gegen diese Angriffe wehren kann."

Üben in Großbritannien: Ukrainische Soldaten sollen verstärkt in Westeuropa ausgebildet werdenBild: Tim Merry/Daily Express/dpa/picture alliance

Ein NATO-Diplomat wies darauf hin, dass die russische Armee große Schwierigkeiten hat, ihre Bestände an Munition und Marschflugkörpern aufzufüllen, weil die durch westliche Sanktionen eingeschränkte Industrie nicht mehr liefern könne.

Schutz von Infrastruktur unterentwickelt

Auf der Tagesordnung für das Abendessen der NATO-Runde standen die mutmaßlichen Sabotage-Angriffe gegen Pipelines in der Ostsee, die Bahn-Infrastruktur in Deutschland und das Leck in der Ölpipeline in Polen, das am Mittwoch bekannt wurde. Die Rolle der NATO beim Schutz ziviler Infrastruktur war bisher stark begrenzt. "Es ist schlicht auch nicht möglich, 8000 Kilometer Pipelines auf dem Meeresboden zu schützen", sagte ein hochrangiger NATO-Beamter, der nicht genannt werden will. Trotzdem solle die Überwachung, auch die aus der Luft, so weit wie möglich verstärkt werden. Verhinderung und Aufklärung von Sabotage bleibe aber Aufgabe der Firmen und der nationalen Regierungen. "Die Vorfälle", so der NATO-Beamte, "zeigen noch einmal, wie verwundbar wir in manchen Bereichen sind."

Bernd Riegert Korrespondent in Brüssel mit Blick auf Menschen, Geschichten und Politik in der Europäischen Union