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Politik

"Geheim, aber zweifelsfrei"

Mikhail Bushuev
14. Oktober 2020

Als Mitarbeiter der Organisation für das Verbot chemischer Waffen war Marc-Michael Blum an den Untersuchungen im Vergiftungsfall Skripal beteiligt. Im Interview mit der DW bewertet er den OPCW-Bericht zum Fall Nawalny.

Alexej Nawalny mit Frau und Sohn in Berlin
Alexej Nawalny mit seiner Frau Julia und seinem Sohn Sachar in BerlinBild: Instagram @Navalny/Reuters

Deutsche Welle: Herr Blum, die Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW) hat äußerst scharf auf die Vergiftung des russischen Oppositionspolitikers Alexej Nawalny mit einem Nervengift aus der Nowitschok-Gruppe reagiert. Die entsprechende Pressemitteilung der OPCW zur Vergiftung von Nawalny haben Sie gelesen. Welche Konsequenzen sind zu erwarten?

Marc-Michael Blum: Wir haben von der OPCW eine öffentliche Zusammenfassung bekommen. Es gibt den als geheim eingestuften Bericht, der an Deutschland gegangen ist. Deutschland wird entscheiden, in welcher Form es den anderen Mitgliedstaaten diesen Bericht zur Verfügung stellt. Den wird die Öffentlichkeit wahrscheinlich nicht zu sehen bekommen. Aber wir sind jetzt in der Situation, dass wir fünf Labore haben, die alle zum gleichen Ergebnis gekommen sind. Diese Ergebnisse stehen jetzt im Raum, die sind wissenschaftlich unterfüttert. Ich denke, wir können festhalten, Nawalny wurde durch so einen Kampfstoff vergiftet.

Was nun passiert, hängt absolut von den Mitgliedstaaten ab. Die OPCW kann gar nicht von selbst aktiv werden. Es muss zuvor eine Anfrage eines Vertragsstaates geben. Dann aber gibt es ein ganzes Instrumentarium an Möglichkeiten, beispielsweise Konsultationen einer Expertengruppe nach formellen Untersuchungen eines vermuteten Einsatzes. Das allerdings kann nur Russland beantragen, weil dies einem russischen Staatsbürger auf russischem Territorium passiert ist.

Marc-Michael BlumBild: Privat

Es kann sogar zum quasi ultimativen Instrument einer Verdachts-Inspektion kommen, wenn Staat A Staat B beschuldigt, den Vertrag zu verletzen. Das hat es in der Geschichte des Chemiewaffen-Übereinkommens aber noch nie gegeben. Am Ende ist das alles nur Input für den politischen Prozess, bei dem die Vertragsstaaten sich darüber einig werden müssen, ob sie einen Verstoß gegen die Konvention feststellen. Es gibt nun das Statement von Frankreich und Deutschland, weitere Sanktionen vorzuschlagen. Aber das ist ein Prozess, der ganz unabhängig von der OPCW läuft.

Aus Russland hieß es als Antwort auf die Erklärung der OPCW, das alles sei eine Verschwörungstheorie und die Organisation sei in westlicher Hand. Was entgegnen Sie diesen Vorwürfen?

Seit dem Sarin-Angriff 2013 im syrischen Ghuta gibt es eine ganze Reihe von Vorfällen, in denen die Labore der OPCW aktiviert wurden und hunderte Proben analysiert haben. Die eigentliche chemische Proben-Analytik ist da nie in Frage gestellt worden. Ich denke, dass sie auch in diesem Fall absolut jenseits von Zweifeln sein muss.

Die Labore müssen einmal im Jahr einen sehr schwierigen Vergleichstest bestehen. Es werden immer zwei Labore durch die OPCW beauftragt. Beide arbeiten unabhängig voneinander und wissen nicht, welches jeweils das andere Labor ist. So steht man immer unter dem Druck, zu wissen, dass da noch ein anderes Labor ist, das die gleiche Arbeit macht. Und man hat das Interesse, eine gute Arbeit abzuliefern und sich nicht irgendetwas auszudenken.

Außerdem sind die Proben von Herrn Nawalny selbst von OPCW-Mitarbeitern in der Charité genommen worden. Es gab also keine Übergabe von Proben, die irgendwo im Schrank standen. Ich kann nicht erkennen, inwieweit die chemische Analytik hier in Frage gestellt werden kann.

Russland sagt, wenn die in Nawalnys Proben gefundene Substanz nicht auf der Verbotsliste stehe, könnte sie auch völlig harmlos sein. 

Wir haben in Syrien zum Beispiel den Einsatz von Chlorgas gehabt. Chlorgas ist eine bedeutende Industriechemikalie und natürlich hochtoxisch. Es ist aber keine gelistete Verbindung und unterliegt auch keinen speziellen Verifikations-Maßnahmen. Wenn man Chlor allerdings einsetzt, um damit Menschen zu töten, dann ist es eine chemische Waffe und dann ist der Einsatz von Chlor ein Verstoß gegen das Chemiewaffen-Übereinkommen. Am Ende ist es nicht notwendig, dass dieser Stoff auf einer der drei Listen steht, sondern wie er angewendet wird.

Die OPCW sagt, dass die verwendete Substanz einigen Verbindungen auf den Listen strukturell sehr ähnlich ist - insbesondere zu denjenigen, die erst im Juni dieses Jahres neu hinzugekommen sind. Und die stehen in Liste eins. Auf ihr stehen die wirklich bösen Sachen. Für diese Stoffe gelten sehr strenge Vorschriften, was Deklaration, Anwendungsverbote und Produktionseinschränkungen betrifft. Diese Substanzen sind entwickelt worden als militärische Kampfstoffe, für den Einsatz in Granaten, Bomben, Artilleriegeschossen, für den großflächigen Einsatz in einem großen Krieg. 

Foto aus dem Hotelzimmer von Alexej Nawalny in TomskBild: @NAVALNY/Social Media/Reuters

Kann man nach jetzigem Wissensstand ausschließen, dass ein nichtstaatlicher Akteur hinter Nawalnys Vergiftung steckt?

Ich stütze mich jetzt mal rein auf die chemische Analytik. Das läuft ein bisschen wie bei der ballistischen Forensik. Sie haben eine Patrone, brauchen aber noch die Waffe, aus der sie abgefeuert wurde. Deshalb feuern Sie einen zweiten Schuss ab und sagen, die Spuren auf den Projektilen sind die gleichen. Sie müssen es mit irgendwas vergleichen können. Bei Bioproben mit dieser sehr niedrigen Konzentration, die man gefunden hat, kann man jedoch keinerlei Signaturen feststellen, die einen Abgleich mit einer Referenzprobe ermöglichen würde. Daher sind Rückschlüsse aus der chemischen Analytik jetzt auf die Herkunft im Moment eigentlich nicht wirklich möglich. Warten wir mal ab, was die OPCW in Russland tut und was sie da eventuell findet.

Marc-Michael Blum ist langjähriger Experte auf dem Gebiet der Analyse, Dekontamination und Beseitigung chemischer Kampfstoffe. Von 2012 bis 2019 war er für die Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW) tätig. Blum ist Autor zahlreicher Bücher und Beiträge im Bereich des ABC-Schutzes.

Das Gespräch führte Mikhail Bushuev

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