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Politik

Nawalnys Netzwerk ist zerschlagen

Roman Goncharenko
9. Juni 2021

Die politischen Projekte von Alexej Nawalny sind am Ende. Russland ist mit einem Extremismus-Urteil gegen sie vorgegangen. Damit zwingt die Justiz die Mitstreiter des Oppositionspolitikers in die Illegalität.

Iwan Pawlow (M), Anwalt des inhaftierten Kremlgegners Nawalny
Iwan Pawlow (Bildmitte), Anwalt des inhaftierten Kremlgegners Nawalny, spricht vor dem Gericht mit der PresseBild: Alexander Zemlianichenko/AP/dpa/picture alliance

Fast fünf Monate, nachdem Alexej Nawalny verhaftet wurde, ist auch sein politisches Netzwerk zerschlagen. Das Moskauer Stadtgericht hat die Organisationen des russischen Oppositionellen verboten.

Das Urteil lautet auf Extremismus. Betroffen sind Nawalnys Vorzeigeprojekt, die Stiftung gegen Korruption (FBK), eine Nachfolgestiftung sowie regionale Vertretungen des Politikers. Nawalnys Unterstützer müssen mit langen Haftstrafen rechnen. Das Gericht sorgte bereits Ende April dafür, dass sie keine Veranstaltungen durchführen, nichts veröffentlichen und ihre Konten nicht nutzen dürfen. 

Für Staatsanwaltschaft und Gericht streben Nawalny und seine Mitstreiter "unter dem Deckmantel liberaler Parolen" eine Destabilisierung Russlands an. Ihr Ziel sei es, "Grundsätze der Verfassungsordnung" zu ändern, beispielsweise im Szenario einer "farbigen Revolution". So werden in Russland oppositionelle Proteste im postsowjetischen Raum genannt, wie etwa in der Ukraine. Nawalnys Mitstreiter weisen die Vorwürfe zurück. 

Beobachter: Druck auf Oppositionelle wird steigen

Die Entscheidung des Moskauer Standgerichts löste international Kritik aus. Die Europäische Union, die USA und Großbritannien sprachen am Donnerstag von einem Versuch, die politische Opposition zu unterdrücken und auszuschalten. Ähnlich äußerte sich ein Vertreter der Bundesregierung. Der Ministerrat des Europarats appellierte an Russland, Nawalny freizulassen.        

Die Organisationen des Kreml-Kritikers Nawalny sind verboten Bild: Ivan Petrov/picture-alliance/AP Photo

Für politische Beobachter wie Kirill Rogow war die Gerichtsentscheidung in Moskau keine Überraschung. "Das ist eine Zweckentfremdung der Rechtsprechung, die als Instrument für politische Zwecke genutzt wird", sagte der Experte in einem DW-Gespräch. Die Gesetzgebung gegen Extremismus werde für die Verfolgung politischer Opposition missbraucht. Rogow erklärte es mit innenpolitischen Entwicklungen, aber auch mit der "erschreckenden Wirkung", die die oppositionellen Proteste in der benachbarten Republik Belarus auf den Kreml zu haben scheinen. Diese Proteste hätten auch die Macht sozialer Netzwerke gezeigt, die Nawalny geschickt nutzt, um mit seinen Recherchen über korrupte Eliten ein Millionenpublikum zu erreichen. Deshalb gehe die russische Justiz derzeit gezielt gegen Blogger vor, so Rogow. Er glaubt, dass sich diese Tendenz fortsetzen wird. 

Auch der Politologe Dmitrij Oreschkin geht davon aus, dass der Druck auf Oppositionelle in Russland weiter ansteigt. Für die Duma-Wahl im September erwartet er ein besseres Abschneiden der Kreml-Partei "Geeintes Russland", da Nawalny und seine Anhänger ausgeschaltet wurden. "Die Regierung entfernt sich aber immer weiter vom Volk", so sein Fazit.      

Nawalnys Flaggschiff im Visier

Es ist der bisher härteste Schlag der russischen Justiz gegen Nawalnys Strukturen. Im Visier stand vor allem die 2011 als Nichtregierungsorganisation gegründete FBK-Stiftung. Sie gilt als sein Flaggschiff und bekannteste Marke.

Weil ihm der Zugang zu Politik und staatlichen Medien verwehrt wurde, konzentrierte sich Nawalny auf Recherchen gegen die Korruption und verbreitete sie in sozialen Netzwerken. Seine FBK-Stiftung agierte dabei wie ein Medienunternehmen, finanziert durch Spenden. Es wurden Enthüllungsvideos produziert, etwa über den angeblichen "Palast" für Präsident Wladimir Putin am Schwarzen Meer. Diese Produktion wurde auf YouTube seit Januar mehr als 100 Millionen Mal aufgerufen.

Seit 2019 stand die FBK-Stiftung zunehmend unter Druck, Ermittler warfen ihr unter anderem Geldwäsche vor. Nach zahlreichen Durchsuchungen, Kontosperrungen und Klagen kündigte Nawalny im Sommer 2020 die Auflösung und Neugründung der Betreiberorganisation an.

Nawalnys Chefwahlkämpfer Leonid WolkowBild: DW

Neu ist jetzt, dass auch sein landesweites Anhänger-Netzwerk verboten ist. Nawalny hatte es als nicht registrierter Kandidat vor der Präsidentenwahl 2018 aufgebaut und genutzt, um Menschen für Straßenproteste zu mobilisieren und für eine "smarte Abstimmung" zu werben. Gemeint ist eine Taktik, bei der aussichtsreiche Kandidaten oder Parteien unterstützt wurden, um den Sieg der Kreml-Partei "Geeintes Russland" möglichst zu verhindern oder wenigstens zu erschweren.

Nawalnys Chefwahlkämpfer Leonid Wolkow sieht da einen Zusammenhang, denn im September wird die neue Staatsduma, die Abgeordnetenkammer des Parlaments gewählt. Das Extremismus-Verfahren sei eine weitere "Stufe in Putins Plan der Zerschlagung unserer politischen Struktur", so Wolkow in einem DW-Gespräch vor dem Urteil. Um Strafen vorzubeugen, kündigte Wolkow bereits Ende April die Auflösung regionaler Vertretungen an. Sie sind jetzt formell auf sich gestellt.   

Langjährige Strafen für Nawalny-Mitarbeiter  

Die Einstufung als "extremistisch" sieht unter anderem ein Verbot von Symbolen sowie der Finanzierung vor. Spitzenfunktionäre müssen mit Freiheitsstrafen von bis zu zehn Jahren rechnen, einfache Mitglieder könnten für zwei bis sechs Jahre hinter Gittern landen.         

Mit dem Urteil werden Nawalnys Organisationen in die Verbotsliste des Justizministeriums aufgenommen. Diese Liste umfasst aktuell mehr als 80 Einträge, darunter islamistische, neonazistische und rechtsextreme Gruppierungen. Ebenfalls zu finden sind die Zeugen Jehovas, paramilitärische ukrainische Nationalistenverbände oder der Medschlis, eine pro-ukrainische Vertretung der Krimtataren auf der annektierten Halbinsel. In Ausnahmefällen konnten sich Organisationen nach dem Verbot neu formieren, wie die "Nationalbolschewistische Partei Russlands" (NBP). Die Linksaußen-Partei wurde als "Anderes Russland" neu gegründet, ihr Einfluss als außerparlamentarische Opposition bleibt jedoch marginal.

Das bedeutet die Extremismus-Einstufung

Ob Nawalnys Anhänger ebenfalls eine Neugründung versuchen, ist offen. Man werde sich neu sortieren, so Wolkow. Aber allein die Organisation von Straßenprotesten sei schon unmöglich geworden.

Führungsköpfe wie Leonid Wolkow oder der FBK-Direktor Iwan Schdanow werden sich dauerhaft im Ausland niederlassen müssen, um aus dem Exil etwa den YouTube-Kanal Nawalny Live mit seinen rund 2,5 Millionen Abonnenten weiterzubetreiben.

Proteste für Nawalnys Freilassung am 21. April in St. Petersburg Bild: Dmitri Lovetsky/AP Photo/picture alliance

Auch die Finanzierung dürfte schwierig werden. Wolkow schließt deshalb nicht aus, im Ausland lebende Russen um Spenden zu bitten. Das Verbot wegen Extremismus unterbindet ihm zufolge die bisherigen Zuwendungen aus Russland. Schließlich werde auch Nawalnys Image leiden, erklärte Wolkow der DW vorab. Mit einem Verbot seien Russische Medien  gesetzlich verpflichtet, jede Berichterstattung über Nawalny und seine Strukturen mit dem Extremismus-Hinweis zu versehen.

"Nawalny langfristig ausschalten"

Flankiert wurde der Prozess von einer Gesetzesinitiative, die Nawalnys Anhängern den Weg ins Parlament versperren soll. Ein Gesetzentwurf in der Staatsduma sieht vor, dass Mitglieder extremistischer Gruppen fünf Jahre lang nicht bei Dumawahlen kandidieren dürfen. Das soll auch für deren Unterstützer gelten, etwa für Spender.

"Vor dem Hintergrund der verbreiteten Unzufriedenheit in Russland setzt die russische Führung alles daran, potentielle Oppositionsführer zu neutralisieren", sagt Hans-Henning Schröder, früherer Russland-Experte bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP). "Nachdem klar geworden ist, dass Nawalnys Organisation in der Bevölkerung nur über einen begrenzten Rückhalt verfügt, macht man Nawalny nun einen politischen Prozess, mit dem man ihn langfristig ausschalten wird."

Seit Jahresbeginn haben Nawalny-Anhänger zu Protestaktionen für seine Freilassung aufgerufen, zuletzt am 21. April. Zehntausende Russen gingen landesweit auf die Straßen, die Hoffnung der Veranstalter auf mindestens eine halbe Million Demonstranten blieb unerreicht. Es war die letzte Aktion dieser Art vor dem Verbot.

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