Das Nachbeben im Kopf
22. April 2016Er saß in seinem Elternhaus in Kathmandu auf dem Boden, es war Samstag Mittag, der einzige freie Tag der Woche. Er hatte gerade zusammen mit Mutter und Vater gegessen, wollte nachmittags einen Onkel besuchen. Im Schneidersitz hockte er da und las Zeitung – als plötzlich alles zu wackeln anfing. Sachit Shrestha erinnert sich genau an diesen Moment am 25. April 2015. "Ich wusste sofort, was los war. Dass das ein Erdbeben war. Sowas kennen wir ja in Nepal, es passiert häufig. Aber solch ein starkes Beben hatte ich noch nie erlebt." Er hatte keine Orientierung mehr, erzählt er. Konnte nicht aufstehen, weil er keinen festen Halt unter den Füßen hatte. "Es war ein Gefühl der Bodenlosigkeit, als würde man auf Wackelpudding stehen. Ich habe auch gedacht: Das überlebe ich nicht." Bis heute sind die Bilder in seinem Kopf, lassen ihn nicht los.
Irgendwann schaffte Shrestha es doch, sich aufzurichten und schwankend ins Nebenzimmer zu gehen, wo seine Eltern sich aufhielten. Gemeinsam bahnten sie sich einen Weg ins Freie, während um sie herum alles wankte. Das Haus blieb stehen, bis auf ein paar Risse unversehrt. Es sei stabil gebaut, sagt Sachit. Ganz anders als viele andere. Nicht nur in der Hauptstadt Kathmandu, sondern auch in den betroffenen ländlichen Gegenden. Den Erdstößen der Stärke 7,8 hielten hunderttausende Bauwerke nicht stand, fielen in sich zusammen. Zwei Wochen später bebte die Erde noch einmal - fast genauso stark. Insgesamt wurden bei der Naturkatastrophe knapp 9000 Menschen getötet. Die Familie von Sachit Shrestha hatte Glück: Alle überlebten.
Zwischen Rheinland und Himalaya
Eigentlich wohnt Shrestha schon lange nicht mehr in seinem Heimatland. 1997 kam er nach Aachen, um Medizintechnik zu studieren – und blieb. Anfang 40 ist er heute, er hat zwei Töchter und lebt mit seiner Familie in der Nähe von Köln. Seit ein paar Jahren ist er im IT-Bereich tätig, hat eine eigene Firma, die Planungssoftware für Ingenieure und Architekten entwickelt - mit Büros in Deutschland und Nepal. Durchschnittlich vier- bis fünfmal pro Jahr fliegt er deshalb nach Kathmandu. So auch im April 2015. Anderthalb Wochen wollte er eigentlich bleiben, am Ende wurde mehr als ein Monat daraus.
Die ersten Nächte nach dem Beben verbrachte die Familie im Freien, gemeinsam mit Nachbarn. Sie schneiderten notdürftig Zelte aus Plakatpapier, nicht nur für sich selbst, sondern auch für andere. Shrestha war dankbar, die Katastrophe heil überstanden zu haben. Und beschloss, anderen Überlebenden zu helfen. "Viele meiner Verwandten sind Bauingenieure oder sonst in der der Baubranche tätig", erzählt er. "Dadurch, dass ich in diesem Umfeld groß geworden bin, habe ich viel über das Bauwesen mitbekommen. Ich konnte schon als Kind Bauzeichnungen lesen oder interpretieren."
Verkettung unglücklicher Umstände
Dieses Wissen möchte er jetzt nutzen, um einen Beitrag dazu zu leisten, dass künftige Beben nicht so verheerende Folgen haben. Das – so ist er überzeugt – lässt sich vor allem dadurch erreichen, dass die Häuser im Land künftig anders gebaut werden. "Die Menschen haben grundlegende Regeln missachtet. Viele haben ihre Häuser selbst errichtet, mit den Materialien, die in ihrer Umgebung zur Verfügung standen." Oft sei dann auf ein einfaches Fundament nur Stein auf Stein oder Ziegel auf Ziegel gesetzt und mit Lehm zusammengefugt worden. Stützen oder Querverbindungen habe es nicht gegeben, so dass konventionell gebaute Häuser über keinerlei stabilisierende Festpunkte oder Verankerungen mehr verfügt hätten.
Auch der Zeitpunkt der Naturkatastrophe trug dazu bei, dass die Schäden so groß waren. "Normalerweise kommt es in der Monsunzeit zu Erdbeben. Durch den Regen ist der Boden mit Feuchtigkeit getränkt", erklärt Sachit Shrestha. Dadurch ist die Erde flexibler und federnder. Das Gleiche gilt für die mit viel Lehm gebauten Häuser. Auch dort sammelt sich die Feuchtigkeit an, macht das Mauerwerk elastischer. "Das Beben im Frühjahr 2015 aber fiel in die Mitte der Trockenzeit, alles war steinhart. Deshalb haben die Mauern sofort nachgegeben und sind regelrecht auseinandergefallen. Da war überhaupt keine Bindung mehr."
Draht als Lösungsansatz
Zurück in Deutschland überlegte Shrestha, wie man schnell und effektiv neue Behausungen für die obdachlos gewordenen Menschen errichten könnte. Zunächst ging es um Übergangshäuser - aber das eigentliche Ziel war es, den Betroffenen ein neues "echtes" Zuhause zu schaffen. Preisgünstig musste es sein. So viel wie möglich sollte recycelt werden: Wellblech oder auch Holz aus den Ruinen. Denn finanzielle Mittel standen nur begrenzt zur Verfügung. Insgesamt rund 25.000 Euro haben die Deutsch-Nepalische Gesellschaft und der Familienkreis Nepal, bei denen Shresthra sich engagiert, seit der Katastrophe gesammelt. Das Geld floss nicht nur in Baumaterialien oder Werkzeug, sondern beispielsweise auch in Schulmaterialien und Kinderkleidung. Viel wichtiger aber für die Zukunft der Überlebenden sei das Know-How, sich künftig besser zu schützen, sagt Shrestha.
"Wir mussten auch Überzeugungsarbeit leisten", erinnert er sich. Denn das, was er vorschlug, entsprach eben nicht der Bauweise, die die Menschen gewohnt waren. Um Gebäude am Einsturz zu hindern, setzte Shrestha auf ein ganz einfaches Hilfsmittel: Draht. Einzelne Mauerteile aus Steinen oder Ziegeln werden komplett mit Draht eingefasst. So die Idee, die er gemeinsam mit der Uni Siegen erarbeitet hatte. Draht ist billig, kann ohne viel Werkzeug verarbeitet werden und lässt sich außerdem unkompliziert transportieren, auch in schwer zugängliche Gegenden. Ähnliche Drahtkörbe – sogenannte Gabionen – werden auch in Deutschland eingesetzt, beispielsweise in der Landschaftsarchitektur oder als Lärmschutzwälle im Straßenbau.
In Nepal sollen sie Leben retten. Denn durch das schützende Geflecht sollen die Gebäude flexibler und resistenter werden. Und der Draht soll verhindern, dass die Mauern im Fall eines Erdbebens auseinanderbrechen. Eine Hauswand wird in mehrere Teile gesplittet, die dann wiederum miteinander verbunden werden. "Im Optimalfall wird das Ganze auch noch durch ein eingearbeitetes Holzgerüst im Mauerwerk verstärkt", sagt Shrestha. "Aber oft ist geeignetes Holz Mangelware. Was vorhanden ist, wird für das Dach gebraucht." Bambus ist für so ein "Stützskelett" leider keine geeignete Alternative. "Solange es trocken bleibt, ist Bambus ein gutes und verlässliches Material. Aber wenn es regnet, wird unbemerkt von innen alles morsch. Das ist gefährlich."
Hilfe zur Selbsthilfe – mit Schwierigkeiten
Ein solches drahtgestütztes Haus ist unterm Strich nicht teurer als ein konventionell gebautes. Eigentlich sah der Ansatz auch vor, die Kosten aufzuteilen. " Wir haben die Materialien teilweise gezahlt und außerdem das Werkzeug zur Verfügung gestellt. Einen Teil musste die Gemeinde selbst erbringen. Und der dritte Teil sollte von der Regierung kommen. Das hatte sie zugesagt. Aber es hat nicht funktioniert." Tatsächlich haben die meisten Betroffenen noch nichts gesehen von den Milliardenhilfen, die von internationaler Seite nach dem Beben zugesagt wurden. Denn die Auflagen zur Verteilung des Geldes wurden nur schleppend erfüllt.
Erschwerend für den Wiederaufbau kommt hinzu, dass Nepal vor einigen Monaten eine neue Verfassung bekam – was zu schweren Unruhen im Land führte, weil sich Minderheiten benachteiligt fühlten. "Das Problem ist, dass Nepal seit langem in einer politischen Krise steckt. Seit fast 25 Jahren wird schon von einer Übergangszeit gesprochen", kritisiert Shrestha. Seine eigene Hilfe lief trotzdem an, auch ohne Zutun der Regierung. Bis heute sind 40-50 neue Häuser entstanden, in Kathmandu selbst und im Umkreis von 100 Kilometern.
Ob sie einem weiteren Erdbeben stand halten könnten? Sachit Shrestha neigt den Kopf zur Seite. "Ich finde den Begriff erdbebensicher insgesamt problematisch." Eine Garantie dafür gebe es nie. Wichtig aber sei nicht nur die Stärke der Erdstöße, sondern auch der Faktor Zeit. "Durch unsere Bauweise können wir ein Zeitfenster schaffen. Wir wollen verhindern, dass die Menschen direkt unter ihren Häusern begraben werden. Weil die Mauern nicht direkt auseinanderbrechen, haben sie genug Zeit, sich in Sicherheit zu bringen."
Das Beben sitzt in den Knochen
Genau zwölf Monate sind vergangen - aber für Sachit Shrestha ist der Tag der Katastrophe noch ganz nah. Sein Leben hat sich verändert, das Beben hallt nach in seinem Kopf. "Die Angst ist geblieben. Nicht nur, wenn ich in Nepal bin, sondern auch hier in Deutschland." Er zeigt auf den alten Dielenboden in seinem Wohnzimmer. Früher hat es ihn nie gestört, dass der Boden mitschwingt, wenn man darüber geht.
Doch das ist jetzt anders. "Die Vibrationen versetzen mich sofort in die Situation von damals zurück." Selbst die Zimmerpflanzen verbannte er zeitweise auf den Balkon. Weil er das Erzittern der Blätter nicht ertragen konnte. Zu stark war die Erinnerung an die schwankenden Bäume in Kathmandu. "Langsam wird es etwas besser, aber sobald ich Bilder von damals im Fernsehen sehe, bekomme ich eine Gänsehaut."