Nervenprobe für Angehörige der Bergleute
21. September 2010Manchmal will Jessica Cortez einfach nur noch alleine sein. Mühsam klettert die schwangere Frau den Hügel hoch, von dem sie die beste Aussicht über das "Quartier der Hoffnung" hat. Zusammen mit Freunden und der Familie ihres verschütteten Mannes hat sie die Buchstaben des Namens von Victor Zamora mit Steinen auf den Boden gelegt, so dass man ihn auch aus der Ferne lesen kann. "Ich frage mich manchmal, was passiert, wenn er nicht mehr zurückkommt", sagt die junge Frau und kämpft mit den Tränen. Die Ungewissheit sagt die Chilenin, sei das Schlimmste. Victor Zamora ist einer von den 33 in der Gold- und Kupfermine San José in der chilenischen Atacama-Wüste eingeschlossenen Männer.
Seit dem 5. August trennen die Kumpel rund 700 Meter von der Freiheit, vom Tageslicht, von ihren Familien und von der Hoffnung, dem Tod noch einmal von der Schippe zu springen. Über wie unter der Erde bangen die Menschen nun gemeinsam. "Der Zusammenhalt unter den Familien ist enorm. Ich bin glücklich, dass alle so eng zusammen stehen", sagt Margarita Roco, Mutter von einem der eingeschlossenen Bergmänner.
Die Angehörigen und der Clown
Die Atmosphäre im Zeltlager ist bizarr: Journalisten, Retter und Angehörige verbringen Tage und Nächte auf einem Platz nicht größer als ein Fußballfeld weit weg von der Zivilisation. Mehr als eine Autostunde entfernt liegt Copiapó. Am Flughafen der kleinen chilenischen Stadt werden die Besucher kurioser Weise mit einer Werbung für japanische Bohrköpfe begrüßt. Dann wartet erst einmal eine triste Fahrt durch die staubtrockene Wüste. In der Nacht wird es bitterkalt, am Tag ist es heiß. Die kräftigen Sonnenstrahlen brennen vom Himmel. Alle paar Stunden kommt ein Lastwagen vorbei, der den staubigen Boden mit Wasser besprüht.
Die Tage ähneln sich: Die Familien essen, beten und hoffen gemeinsam. Nur manchmal macht die Routine eine Pause. Clown "Rolly" hilft dabei, die Zeit totzuschlagen. Er macht Späße für die Kinder. Doch im Blick hat er eine ganz andere Zielgruppe. "Wenn die Kinder kommen, dann bringen sie die Mütter, Tanten und Großmütter gleich mit", sagt er. Es ist eine Herausforderung, die Angehörigen für einen Moment in eine andere Welt zu entführen. "Das ist wie ein Augenblick Urlaub von der Angst", sagt der Clown und verteilt kleine Windräder an die wartenden Familien. Für jede Familie der 33 Männer hat er ein Geschenk parat, niemand soll leer ausgehen, niemand soll vergessen werden.
"Ich bleibe bis mein Mann wieder bei mir ist"
Die chilenische Regierung versucht alles, um das Warten im "Campenato de Esperanza" so angenehm wie möglich zu machen. Eigentlich wäre es den Behörden lieber, die Angehörigen würden das Lager räumen, weil es dort für sie nichts zu tun gibt, doch man lässt die Menschen gewähren. "Ich lebe hier. Und ich bleibe bis mein Mann wieder bei mir ist", sagt Liliana Ramirez (51) trotzig. Sie ist die Ehefrau des ältesten Kumpels vor Ort. Mario Gomez (63) ist der Sprecher der eingeschlossenen Kumpel. Staatspräsident Sebastian Pinera weiß, dass ihm Transparenz und ein gelungenes Krisenmanagement in der privaten Mine viele Sympathien einbringen werden. Journalisten vor Ort können ungehindert arbeiten, nicht einmal eine Akkreditierung ist notwendig, um das Lager zu betreten.
Ein klein bisschen sieht es aus wie bei einem Ski-Weltcup oder der Tour de France, wo die Fans Stände mit Devotionalien ihrer Sportler aufgestellt haben. Überlebensgroße Fotos von den Männern kennzeichnen, welche Familie wo ihr Lager aufgestellt hat. Spruchbänder sollen Mut machen: "Victor Zamora und Carlos Barrios - Wir erwarten Euch - Eure Freunde und Familien".
Diät für die Rettung
Der Plan, die Männer aus der Tiefe zu befreien, basiert im wesentlich auf dem gleichen Konzept. Drei mächtige Bohrer fressen derzeit einen Rettungsschacht in die Tiefe. Pünktlich zum Unabhängigkeitsfest "Bicentenario" erreichte der erste Bohrer die Höhle, in der sich die Männer aufhalten. Unter Tage haben sie ausreichend Platz. Weil aber in den Videos, die aus der sogenannten "Werkstatt" unter Tage um die Welt gehen, die Kumpel immer dicht gedrängt zusammen stehen, entsteht der Eindruck, sie müssten auf engstem Raum leben. Doch ihr Stollen ist bis zu zwei Kilometer lang. In der Zwischenzeit haben sie eigene Waschräume gebaut. Eine Fiberglasleitung bildet die technische Schlagader zur Außenwelt. Videokonferenzen mit den Familien helfen gegen die Einsamkeit. Ein Pfarrer hat 33 Mini-Bibeln in die Tiefe geschickt.
Noch mindestens bis November müssen die Männer ausharren. Dann soll der erste Rettungsschacht die notwendige Breite von 70 Zentimetern erreicht haben. Den von oben herab fallenden Schutt müssen die Kumpel unter Tage selbst wegräumen. Ist alles fertig, müssen die Männer in eine 66 Zentimeter schmale Rettungskapsel einsteigen, die sie die 700 Meter nach oben bringen wird. Auf Koch Edmundo kommt es in diesen Tagen deshalb ganz besonders an. Mit schicker weißer Weste präsentiert er sich der Weltpresse und verkündet gut gelaunt, was die 33 eingeschlossenen Bergmänner in den nächsten Tagen aufgetischt bekommen. Edmundo weiß um seine Verantwortung, denn schon in ein paar Wochen zählt jeder Zentimeter Körperumfang. Edmundo muss nahrhaft aber fettfrei kochen. Alle Rationen müssen so zubereitet sein, dass sie die Reise durch den schmalen Versorgungsschacht antreten können. Er setzt auf chilenischen Salat und möglichst fettfreie Früchte.
Die Familie verfolgen all dies angespannt und mit großer Sorge. "Wir sind allen Menschen dankbar, die mithelfen", sagt Margarita Roco. "Aber nur Gott weiß, ob das zu einem guten Ende führt."
Autor: Tobias Käufer
Redaktion: Marco Müller