Netflix-Serie "Adolescence": Männlichkeit in der Krise
2. April 2025
Im Untersuchungsraum der Polizeistation wartet eine sterile medizinische Liege auf Jamie Miller. Dem Verdächtigen soll Blut abgenommen werden. "Jamie, würdest du dich bitte auf die Liege legen?", fragt die Schwester. "Ähm, ich mag Nadeln nicht so gerne...", stammelt der Junge.
Er ist erst 13 Jahre alt, ein Kind. Der Vater nimmt seinen Sohn in Schutz: "Er kann nicht so gut mit Nadeln." Was Jamies Vater nicht weiß: Sein Kind hat zwar Angst vor Nadeln, nicht aber vor Messern. Keine 24 Stunden vorher tötete Jamie seine Mitschülerin Katie Leonard auf einem Parkplatz mit sieben Messerstichen.
Die Szene stammt aus der ersten Folge der britischen Netflix-Miniserie "Adolescence", die mit 66 Millionen Aufrufen innerhalb der ersten zehn Tage Rekorde gebrochen hat. Sie wurde sogar im britischen Parlament diskutiert.
Jeder Junge könnte Jamie sein?
Die vier Folgen wurden in einem Take gedreht, es gibt keine Schnitte. Es ist, als wäre man ganz nah dran, als Jamie sich bei seiner Verhaftung im Pyjama einnässt, in Polizeigewahrsam Tränen der Angst heult oder bei der psychologischen Untersuchung einen Wutanfall bekommt.
Dass Jamie schuldig ist, erfahren die Zuschauenden gleich am Anfang. Die Ermittelnden zeigen ihm ein Überwachungsvideo, auf dem zu sehen ist, wie er von hinten mit einem Messer auf Katie einsticht. Die Serie fragt nicht danach, ob er es getan hat, sondern warum.
Radikalisierung im Netz
Die Antwort findet sich in den Kämpfen, die im Inneren des Teenagers toben. Zwischen dem permanenten gesellschaftlichen Druck, männlich zu sein, der Unsicherheit, nicht attraktiv genug zu erscheinen und dem Wunsch nach weiblicher Anerkennung radikalisiert er sich.
Jeder Junge könnte heute Jamie sein – das will die Serie deutlich machen. Nach der Schule ging er nicht an zwielichtige Orte oder begab sich in dubiose Gesellschaft; er ging in sein Zimmer, machte die Tür zu und saß bis spät in der Nacht am Computer, wo er in den Sog der Incel-Ideologie gerät.
Selbst- und Frauenhass an der Tagesordnung
Incel ist eine Abkürzung für "involuntary celibate", also unfreiwillig enthaltsam, und beschreibt eine frauenfeindliche Online-Community von jungen heterosexuellen Männern, die Frauen die Schuld für ihre Enthaltsamkeit geben und ihren Frust - nicht selten Hass - in menschenverachtenden Videos und Kommentaren ausdrücken.
Die Incel-Community ist Teil der "Manosphäre" - einem losen Netzwerk antifeministischer Internetforen, Bücher, Content Creators und Blogs zur männlichen Selbstoptimierung. Sie vermitteln Jungen und Männern, wie man stark, erfolgreich und körperlich fit wird, um von Frauen begehrt zu werden. Sie tauschen aber auch Gewaltfantasien, Demütigungen und Tipps zur Manipulation von Frauen aus. Der prominenteste Vertreter dieser Subkultur ist der selbsternannte Misogyn Andrew Tate.
"Adolescence" suggeriert, dass nicht nur Jamie mit eben dieser Subkultur vertraut ist, sondern die Jugend von heute per se. Das wird deutlich, als der Sohn des Kommissars seinem Vater die Bedeutung von verschiedenen Emojis in den sozialen Medien erklärt. Und auch Katie ist im Bild, denn sie selbst nennt Jamie einen Incel.
Panikmache oder reale Gefahr?
"Vieles, was im Mainstream-Diskurs über Incels gesagt wird, ist Panikmache", findet Shane Satterley, der an der Griffith University zu männlicher Gewalt forscht. Die Subkultur sei nicht primär frauenfeindlich, sondern selbsthassend und suizidal. Frauenfeindlichkeit, so Satterley, sei nur eine "oberflächliche" Interpretation dieses Phänomens.
Dahinter steckten Isolation, ein Mangel an männlichen Vorbildern, Vaterlosigkeit – und eben Sexlosigkeit, erklärt Satterley. Außerdem habe die Gesellschaft Männern sukzessive immer mehr "männliche Räume" genommen, weshalb sie nun Räume im Internet für sich beanspruchten.
Die sexuell frustrierten jungen Männer seien aber nicht für andere, sondern primär für sich selbst gefährlich, so Satterley. Laut einer Studie der britischen Regierung leiden Incels tatsächlich typischerweise an Depressionen und Suizidgedanken und brauchen Hilfe statt Stigmatisierung. Die Suizidraten von Männern steigen weltweit an, alleine in den USA um 37 Prozent seit 2000.
"Die Manosphäre ist nicht gefährlich, im Gegenteil", sagt Satterley. Dem widerspricht Lisa Sugiura, Professorin für Cyberkriminalität und Gender an der Universität Portsmouth. "Laut der Weltgesundheitsorganisation wird eine von drei Frauen mindestens einmal im Leben sexuell missbraucht. Das passiert nicht einfach in einem Vakuum", sagt Sugiura.
Männer in der Opferrolle
In den Incel-Foren finden sich Männer die darüber diskutierten, warum sie Vergewaltigung "ethisch" finden. "Vergewaltigung ist einfach nur das Recht auf Sex, was Incels verwehrt wird", schreibt ein User in einem Thread. Um auf diese Art von Content zu stoßen, müsse man nicht lange suchen, sagt Lisa Sugiura. "Es ist nicht so, dass man ins Darknet gehen muss, um diese Inhalte zu finden. Sie sind überall auffindbar, nicht nur in Incel-Foren, auch auf TikTok und Instagram."
Dass Männer ein Recht auf Sex hätten und Frauen ihnen das verwehren, ist in der Manosphäre eine verbreitete Ansicht. Fraglich ist, ob diese Männer nun bemitleidenswert sind, weil sie sexuell frustriert sind und sich nach weiblicher Bestätigung sehnen. Ist Frauenhass okay, wenn er "nur" ein oberflächliches Symptom von Männlichkeit in der Krise ist?
Laut einer Studie des Londoner King's College glaubt heute jeder vierte Mann zwischen 16 und 29 Jahren, es sei schwieriger, ein Mann zu sein als eine Frau. "In der Manosphäre dreht sich alles um die Opferrhetorik, dass Männer diejenigen sind, die in unserer Gesellschaft von Frauen missbraucht werden, und dass sie sich wehren müssen, um zu überleben", erklärt Sugiura.
Das Problem an der Opferrolle: Mit ihr wird Hass gegen Frauen gerechtfertigt. Katie musste sterben, weil sie Jamie nicht die Bestätigung gab, nach der er sich so sehnte.
Frauenhass ist ein institutionelles Problem
Die Incel-Community und die Manosphäre sind aber nur ein Teil eines größeren misogynen Puzzles, erklärt Sugiura. Die eigentlichen Probleme liegen tiefer. Neben der Desillusion junger Männer und ihrer Mental Health Probleme ist da auch ein tiefes Misstrauen zwischen den Geschlechtern. Eine aktuelle Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Whitestone Insight kam zu dem Ergebnis, dass fast zwei Drittel der Frauen zwischen 18 und 24 Jahren Angst vor Männern haben.
Einfach Social Media für Jugendliche verbieten, wie von "Adolescence"-Drehbuchautor Jack Thorne gefordert (und in Australien bereits als Gesetz verabschiedet), wäre keine nachhaltige Lösung, findet Sugiura. Es brauche einen ganzheitlichen institutionellen und kulturellen Wandel. "Jamie ist erst 13 Jahre alt. Bevor wir die Incel-Community diskutieren, sollten wir uns mit dem sozialen Druck auf heteronormativen Sex und geschlechtsspezifischen Erwartungen von Erfolg und Beliebtheit befassen. Denn wenn diese Erwartungen nicht schon so früh an unsere Kinder gestellt würden, könnte die Manosphäre daraus auch kein Kapital schlagen", sagt Sugiura.
Laut den Machern soll "Adolescence" vor allem ein Weckruf sein. Gegenüber der BBC sagte Thorne: "Wir müssen darüber sprechen, und ich hoffe, dass die Serie dazu beitragen kann."