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FilmIndien

"The White Tiger": Stereotypes Machwerk?

Manasi Gopalakrishnan
31. Januar 2021

Bei Netflix ist er sehr beliebt, doch der Film muss auch Kritik einstecken. "The White Tiger" wärme abgedroschene Indien-Klischees auf, lautet der Vorwurf.

Szene aus der Netflix-Serie "The White Tiger" mit Adarsh Gourav (rechts im Bild)
Adarsh Gourav (rechts) spielt die Rolle des Balram in "The White Tiger"Bild: Netflix/Entertainment Pictures/ZUMAPRESS.com/picture alliance

"The White Tiger" gehört derzeit zu den Netflix-Hits weltweit. In der Adaption des Romans von Aravind Adiga, der 2008 den Booker Prize gewann, sind die Bollywood-Schauspieler Adarsh Gourav, Priyanka Chopra and Rajkummar Rao zu sehen. Der Film von Regisseur Ramin Bahrani erzählt die Geschichte von Balram, der in einfachsten Verhältnissen groß wird: Als sein Vater stirbt, ist der Junge gezwungen, die Schule zu verlassen, um seine Familie finanziell zu unterstützen. Mal arbeitet er im Steinbruch, mal  in einer Teestube.

Die Zeiten sind hart. Doch Balram hat nicht vergessen, dass ein Lehrer ihn einst einen "weißen Tiger" nannte - ein Kompliment für seinen Mut, vor der Klasse zu sprechen. Fortan ist es Balrams einziges Ziel, aus dem "Gefängnis" der Unterschicht und und seiner Kaste auszubrechen - und es im Leben zu etwas Großem zu bringen. 

Balram ist der sprichwörtliche Außenseiter: Er kommt aus einer armen Dienstboten-Familie und gehört einer der untersten Kasten an. Er findet einen Job als Fahrer - und tötet seinen Arbeitgeber, um seine Diener-Identität hinter sich zu lassen und unter neuem Namen ein neues Leben zu beginnen. 

"The White Tiger" basiert auf Aravind Adigas Buch, das 2008 den Booker Prize gewannBild: Everett Collection/picture alliance

"Armutsporno" über Indiens Unterdrückte?

Viele indische Filmkritiker werfen den Produzenten vor, mit "The White Tiger" lediglich einen weiteren Film gedreht zu haben, der in Aufnahmen von Indiens Armen und Unterdrückten schwelge - "Armutsporno" nennt ihn das indische Nachrichtenmagazin "The Quint".

Drehbuchautorin Anu Singh Choudhary sieht das anders: Man könne dem Film diese Bilder nicht vorwerfen, denn sie seien - wie auch in der Romanvorlage - ein Kommentar über das Leben in Indien. "Der Film ist sehr real. Und mehr als alles andere ist er ein Statement über Menschlichkeit. Eine Heldenreise... und ein Spiegel für die Menschen in Indien, die sich nach Macht und Einfluss sehnen und gerne einen bestimmten Lebensstil leben würden, ohne darüber nachzudenken, welche Auswirkungen dieser für die Menschen hat, die uns "(be)dienen".

Choudhary ist in der Nähe von Dhanbad im Norden Indiens aufgewachsen. Genau dort spielt der Film. Die Darstellung der unteren Kasten in Balrams Dorf Lakshmangarh sei absolut zutreffend. In einigen Szenen betteln sie die Grundbesitzer um Geld oder Arbeit an. Die Dramaturgie des Films lebt von Kontrasten: Während Balram und die anderen angestellten Fahrer in den Keller verbannt werden, leben die Arbeitgeber in schicken Apartments.

Balram verkörpert einen Menschen aus einer bestimmten Gesellschaftsschicht. "Der Film führt uns vor Augen, dass er dabei keine Wahl hat - sondern gezwungen und unterdrückt wird, so zu sein", sagt Choudhary. Dieser "geboren, um zu dienen"-Mentalität sei sich der Protagonist stets bewusst. "The White Tiger" zeige den "Graben zwischen den verschiedenen Kasten, den wir [die Inderinnen und Inder] tagein tagaus erleben - vor dem wir uns aber entschieden haben, die Augen zu verschließen", ergänzt sie.

Fakt oder Fiktion?

Aber macht es überhaupt Sinn, einen fiktionalen Film mit der Realität zu vergleichen? "Ich hasse diese Vorstellung, dass Filme die Realität widerspiegeln", sagt der indische Filmkritiker Bharadwaj Rangan. "Denn Filme sind artifizielle Konstrukte. Sie zeigen eine inszenierte Realität."

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Im Film wie im Roman erzählt Balram seine Geschichte anhand eines Briefes an den chinesischen Premierminister Wen Jiabao, der kurze Zeit später zu einem Staatsbesuch in Indien erwartet wird. Wenig realistisch ist zudem, dass viele Figuren in dem Film Englisch sprechen, sagt Rangan. Viele indische Zuschauer hatten sich darüber lustig gemacht, dass indische Dorfbewohner Englisch sprechen - die Hauptdarsteller Priyanka Chopra and Rajkummar Rao gar mit einem sonderbaren indisch-US-amerikanischen Akzent.

In Indien wird Englisch immer noch als Sprache der privilegierten Klassen angesehen - und als Mittel, um auf der sozialen Leiter aufzusteigen. Das beeinflusse allerdings nicht, wie er den Film sehe, so der Filmkritiker. Dass die Figuren Englisch sprechen, sei der Kontinuität zuliebe erfolgt. Auch der Roman sei in Englisch verfasst worden. "In alten Hollywood-Filmen sprechen Franzosen auch Englisch mit französischem Akzent, obwohl sie in Wirklichkeit einen Übersetzer heranziehen würden", so Rangan.

Nicht vorrangig für ein indisches Publikum

Trotzdem: "The White Tiger" sei die "Geschichte eines indischen Außenseiters", sagt Rangan. "Und der Film macht sehr deutlich, dass Macht und Geld in Indien in den Händen der Insider liegen." 

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Dass der Film in Indien großen Anklang findet wird, schätzt er als eher unwahrscheinlich ein. Auch weil Netflix in dem asiatischen Land zu den eher teuren Streaming-Plattformen gehört. "Sich ein Netflix-Abo leisten zu können, ist bereits ein Privileg", erklärt Bharadwaj Rangan.

Den Angaben von Drehbuchautorin Anu Singh Choudhary zufolge war "The White Tiger" unter den Top Ten der indischen Filme. Er sei aber "für ein weltweites Nischenpublikum gedacht" und "kein Film, der unterhält oder schnelle Zufriedenheit anbietet". Ganz im Gegenteil. "Nach diesem Film fühlen Sie sich unwohl. Sie denken nach, Sie stellen sich Fragen. Und das ist nicht das, wofür sich der Großteil des indischen Publikums interessiert. Diese Menschen sind ohnehin schon durch vieles belastet, was um sie herum geschieht. Von den Bauernprotesten in Delhi bis hin zu unzähligen persönlichen und politischen Konflikten. Das ist kein Film, den viele Leute schauen werden", sagt Choudhary. "Weil wir das alles schon wissen."

Adaption: Nikolas Fischer

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