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Film

Keine türkische Netflixserie mit schwuler Rolle

Sertan Sanderson vgr
25. Juli 2020

Anstelle von Drehbuchänderungen hat Netflix eine neue Serie, die in der Türkei produziert werden sollte, komplett abgesagt. Weitere Schwierigkeiten könnten folgen.

Smartphone mit Netflix-Logo, dahinter steht "Streaming Service" an einer Bilderwand
Bild: Reuters/D. Ruvic

Netflix kündigte die Absage der Serie "If Only" ("Şimdiki Aklım Olsaydı") erst am Vorabend des ersten Produktionstages an. Der Streaming-Anbieter hatte es zuvor nämlich trotz erneuter Verhandlungen nicht geschafft, die für den Drehbeginn erforderliche behördliche Lizenz vom Obersten Rundfunk- und Fernsehrat der Türkei (RTÜK) einzuholen.

In der Türkei müssen vor allem ausländische Filmproduzenten wie Netflix ihre Drehbücher routinemäßig dem türkischen Kultur- und Tourismusministerium zur Genehmigung vorlegen, das die Arbeit des RTÜK betreut. Auch türkische Produzenten unterliegen häufig dieser staatlichen Aufsicht.

Die staatliche Medienaufsicht der TürkeiBild: DW/H. Köylü

Drehbuchautorin Ece Yorenc erklärte gegenüber der türkischen Filmwebsite Altyazi Fasikul, dass "die Drehgenehmigung für die Serie nicht erteilt wurde, weil die Sendung eine schwule Figur enthält". Sie ergänzte, dass das Drehbuch jedoch keinerlei Szenen enthalte, die schwulen Sex oder ähnliches andeuten würden. Zuvor habe es vielerlei Falschmeldungen in der türkischen Presse gegeben, die Gegenteiliges behauptet hätten. Yorenc sagte außerdem, dass dieser Zensurakt für die Türkei "sehr besorgniserregend im Hinblick auf das, was noch auf uns zukommen könnte", sei.

Die Fünf-Millionen-Dollar-Entscheidung

Laut Netflix wäre der schwule Part von Figur Osman ohnehin nur eine Nebenrolle in "If Only" gewesen. Der Schwerpunkt der Serie läge auf den Erlebnissen einer unglücklich verheirateten Mutter namens Reyhan. Die Serie sollte ursprünglich 2021 auf Netflix ausgestrahlt werden, aber daraus wird jetzt nichts.

Ece Yorenc (links im Bild) - hier mit Produzent Kerem Catay - ist eine bekannte Drehbuchautorin in der TürkeiBild: picture-alliance/AA/A. Ozdill

Drehbuchautorin Yorenc hatte offenbar noch angeboten, Änderungen in letzter Minute in Einklang mit den RTÜK-Standards zu berücksichtigen, schreibt Altyazi Fasikul. Doch laut dem US-amerikanischen Variety Magazine habe es Netflix vorgezogen, die Produktion lieber ganz einzustellen.

Dennoch beteuerte Netflix, dass es die Gagen des gesamten "If Only"-Teams voll bezahlen würde. Nach der Annullierung der Serie könnte das Unternehmen nun mit fünf Millionen Dollar (4,5 Millionen Euro) erstmals in den roten Zahlen stehen. Doch Netflix betonte in einer Pressemitteilung, dass das Unternehmen "unseren türkischen Abo-Mitgliedern und der kreativen Gemeinschaft in der Türkei weiterhin zutiefst verpflichtet" bliebe.

Laut Yorenc habe Netflix die schwierige Entscheidung in letzter Minute aus Prinzip getroffen, da es sich weigere, von einer Regierung vorgeschriebene Skriptänderungen zu akzeptieren. Mahir Ünal, der stellvertretende Vorsitzende der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP), twitterte später jedoch, dass er fest daran glaube, dass "Netflix im Namen einer engeren Zusammenarbeit (mit der Türkei) eine größere Sensibilität gegenüber der türkischen Kultur und Kunst zeigen" werde. 

Türkei: Zwischen Freiheit und Autorität

Diese von Ünal erwähnte türkische Kultur scheint allerdings gar nicht im Widerspruch zu Netflix zu stehen, sondern eher zu ihrer eigenen Historie: Unter den erfolgreichsten Entertainern und Performern in der modernen Geschichte der Türkei sind ganz vorne eine Transsexuelle (Bülent Ersoy), eine Drag Queen (Huysuz Virjin) und ein schwuler Mann (Zeki Müren) zu nennen, die allesamt ihre Sternstunden im Showbusiness feierten, bevor es Begriffe wie die Homoehe und andere Schutzmaßnahmen für die LGBTQ+ Community sonstwo in der Welt überhaupt gab.

Seit der Gründung der modernen Türkei 1923 durch Mustafa Kemal Atatürk hat es keinerlei Gesetze gegen Homosexualität gegeben. Im Jahr 1934 wurde das allgemeine Wahlrecht auch für Frauen eingeführt - noch lange vor vielen anderen Ländern, darunter auch einige westliche. Trotz dieser scheinbar gemäßigten Haltung in der überwiegend muslimischen Türkei befindet sich das Land in einem neuen Kulturkampf, in dem die sexuelle Orientierung nur eines von vielen Themen ist, die die Gesellschaft immer mehr spalten. Seit fünf Jahren sind CSD-Events in Istanbul, der bevölkerungsreichsten Stadt der Türkei, nicht mehr erlaubt. Die Polizei greift jedesmal brutal ein, um die Menschenmassen, die sich den Verboten widersetzen, mit Wasserwerfern, Gummigeschossen und Tränengas zu vertreiben.

Schwule Aktivisten trotzen weiterhin Verboten von Pride Events, besonders in IstanbulBild: Getty Images/AFP/O. Koze

Der Gezi-Park: Synonym einer Protestbewegung

Ähnlich aggressive Methoden wurden 2013 bei den Protesten im Gezi-Park eingesetzt, bei denen eine breite Basis der Zivilgesellschaft für mehr Freiheit und Rechtsstaatlichkeit unter der Führung des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan demonstrierte. Mitglieder der LGBTQ+ Community nahmen auch an diesen Protesten im Gezi-Park teil, die mehrere Monate dauerten und am Ende elf Menschenleben kosteten.

Seit den Gezi-Park-Protesten 2013 gehen türkische Behörden verstärkt gegen die Meinungsfreiheit vorBild: picture-alliance/dpa/S. Suna

Angestoßen wurden die Demonstrationen jedoch von Interessenvertreter zahlreicher anderer gesellschaftlicher Themen, darunter Umweltschutz und Gewalt gegen Frauen. Nach der Niederschlagung der Proteste und dem Putschversuch vom 15. Juli 2016 ist heutzutage kaum noch etwas von diesem Kampfgeist übrig geblieben. Die breite Gesellschaft scheint sich mehr oder weniger widerwillig mit Ihrem Schicksal unter Erdogan abgefunden zu haben.

Diplomatie à la Netflix

Unterdessen scheint Netflix in Konfrontationen mit ausländischen Regierungen auf diplomatische Distanz zu gehen. 2019 wurde eine Folge der Comedy-Serie "Patriot Act with Hasan Minhaj" vom Netflix-Angebot in Saudi-Arabien gestrichen, nachdem die arabische Aufsichtsbehörde für Telekommunikation einen Verstoß gegen das Gesetz zur Bekämpfung der Cyberkriminalität unterstellt hatte. Die Episode hatte allerdings tatsächlich den saudischen Kronprinzen Mohammed bin Salman für seine mutmaßliche Mitschuld an der Ermordung des saudischen Journalisten Jamal Khashoggi humoristisch ins Visier genommen.

Menschenrechtsgruppen wie Amnesty International kritisierten das Vorgehen von Netflix sowie die Tatsache, dass das Streaming Unternehmen dem saudischen Markt weiterhin treu bleiben würde. Weitere Konsequenzen gab es nicht. Selbst Hasan Minhaj twitterte damals, dass dies lediglich ein politischer Schachzug sei, der der Folge zum Kultstatus verhelfen könne, da der Inhalt ja weiterhin auf anderen Plattformen verfügbar bleibe: 

Streaming in der Türkei: (K)ein Zukunftsgeschäft?

Den Markt in der Türkei bedient Netflix seit 2016 und zählt mittlerweile 1,5 Millionen monatliche Abonnenten. Trotz anhaltender Gerüchte über die Zukunft von Netflix ist absehbar, dass der Streaming-Anbieter keine größeren Veränderungen vornehmen wird - zumindest nicht von sich aus. Netflix mag es sich vielleicht in Zukunft zweimal überlegen, ob es ein weiteres Format in der Türkei entwickeln wird, trotz der offiziellen Aussage, es seien "mehrere türkische Originale in Produktion - und weitere werden folgen”.

Die Begeisterung für die türkischen Film- und Serienproduktionen von Netflix hält sich in Grenzen. Das Unternehmen weiß, dass es in der Türkei nicht mit Fernsehserien konkurrieren kann. Trotz der Schließung von über 150 Medienanstalten nach dem gescheiterten Putsch, gibt es immer noch dutzende Satelliten- und Kabelkanäle in der Türkei, die der immer älter werdenden Bevölkerung des Landes nutzen. Die Mehrheit der Türken verlässt sich immer noch auf das Fernsehen als Hauptinformationsquelle. Im Wettstreit zwischen Fernbedienung und Computertastatur steht in der Türkei der Gewinner fest.

Umsatzschwache Netflix-Serien in der Türkei

Der CEO von Netflix, Reed Hastings, möchte auf dem türkischen Markt präsent bleibenBild: picture-alliance/Yonhap

Bei den türkischen Geschäftsaktivitäten des Streaming-Unternehmens bleibt immer ein gewisses geschäftliches Risiko, denn Umsätze werden mit Serien kaum erzielt. In einem Artikel in der Tageszeitung Hürriyet im Jahr 2018 wies Netflix-Mitbegründer und Geschäftsführer Reed Hastings jedoch vehement Gerüchte zurück, wonach wegen der zunehmend restriktiveren Zensur in der Türkei der Marktausschluss drohe: "Wir sind in Saudi-Arabien geschäftlich unterwegs. Wir sind in Pakistan geschäftlich unterwegs. Wenn es dort keine Probleme gibt, werden wir doch auch keine Probleme in der Türkei haben, oder? Das kann ich mir nicht vorstellen."

Ironischerweise lautet die wörtliche, vollständige Übersetzung des Original-Serientitels "Şimdiki Aklım Olsaydı" (engl. "If Only"): "Wenn ich damals gewusst hätte, was ich jetzt weiß". Diesen Satz mag Reed Hastings sich nun dieser Tage wohl auch zu Herzen nehmen.

Mit Serien wie "The Politician" (Foto) wendet sich Netflix an die LGBTQ+ Community Bild: picture-alliance/Everett Collection/Netflix

Verbot sozialer Medien - einschließlich Netflix?

Das Drama um die Meinungsfreiheit in der Türkei nimmt währenddessen seinen Lauf. In jüngster Zeit hat Erdogan die sozialen Medien ins Visier genommen, wozu er auch Netflix zu zählen scheint. In einer Ansprache am 1. Juli meinte der türkische Präsident, dass soziale Medien "dem Abschaum erlauben, die Gesellschaft zu zerstören”. Kurz daraufhin verkündete Erdogan, dass er Gesetze zur Limitierung sozialer Medien in der Türkei einführen wolle.

"Diese Kanäle unterliegen keinerlei Kontrolle, und genau das ist der Grund dafür, dass diese Sittenlosigkeit immer größer wird. Verstehen Sie, warum wir sagen, dass wir gegen soziale Medien wie YouTube, Twitter, Netflix und andere sind? Weil wir diese verdorbenen Menschen ein für alle Mal ausrotten wollen”. Die Aussagen Erdogans bezogen sich mutmaßlich auf Hasskommentare in den sozialen Medien zur Geburt seines jüngsten Enkelkindes. Zumindest hielt der Präsident seine Ansprache, nachdem diese Kommentare breit in der türkischen Presse thematisiert worden waren. Doch die wohl bewusst vage und unbestimmte Wortwahl Erdogans bleibt interessant. 

Als Reaktion auf Erdogans Rhetorik trendete später der Hashtag #Netfliximedokunma (auf Deutsch: "Rührt mein Netflix nicht an") in der Türkei mehrere Tage lang. Auf Twitter wiesen mehrere User auch darauf hin, dass Netflix ein privater Dienstanbieter sei, der auf Abonnements basiere und den sich niemand ansehen müsse, wenn man das nicht möchte.

Machtdemonstration der AKP

Die Frage, ob die Meinungsfreiheit einer solchen gesetzlichen Kontrolle bedarf, wird in der Türkei so lange umstritten bleiben, wie Erdogans AK-Partei (AKP) zu immer drastischeren Maßnahmen greift, um an der Macht zu bleiben. Dazu zählen die kaum verborgene Machtergreifung im Jahr 2017 per Volksentscheid, regelmäßige Sperrungen von Twitter und YouTube, wiederholte Schmähungen von Schwulen und Lesben in Erdogans Reden und - in jüngster Zeit - die umstrittene Umwandlung des weltberühmten Hagia Sophia-Museums in eine Moschee. Kritiker haben insbesondere diese jüngste Maßnahme als einen letzten Versuch Erdogans gewertet, seine religiös-konservative Wählerbasis inmitten zunehmender wirtschaftlicher Schwierigkeiten zu stärken. 

Netflix ist somit vielleicht das jüngste Opfer des langsamen und schmerzhaften Abstiegs der Türkei von der Demokratie in den autoritären Populismus Erdogans und der AKP - aber gewiss noch lange nicht das letzte.

In einer früheren Fassung wurde Mahir Ünal fälschlich als Minister für Kultur und Tourismus bezeichnet. Das wurde korrigiert. Die Redaktion bittet, diesen Fehler zu entschuldigen.   

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