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Julias Weisheit

Silke Wünsch20. Januar 2014

Wie nachhaltig ist das eigene Leben, wenn man es nicht richtig "gelebt" hat? Die meisten Menschen scheuen sich vor dieser Frage, eine junge Frau jedoch hat sie öffentlich gestellt und damit eine Welle ausgelöst.

Screenshot Julia Engelmann

"Eines Tages, Baby, werde ich alt sein und an all die Geschichten denken, die ich hätte erzählen können" - das ist aus dem Englischen der Refrain von Asaf Avidans Nummer-Eins-Hit "One Day/Reckoning Song". Die 21-Jährige Psychologiestudentin Julia Engelmann hat sich, basierend auf diesem Song, Gedanken über den Sinn des Lebens gemacht.

Damit tritt sie im Mai 2013 beim "5. Bielefelder Hörsaal-Slam" an – eine Veranstaltung, bei der Nachwuchsdichter ihre Texte vortragen und vom Publikum bewertet werden. Schon nach ihren ersten Worten wird es still im Hörsaal. "Ich würd' gern so vieles tun, meine Liste ist so lang, aber ich werd' eh nie alles schaffen", trägt die Studentin vor. "Also fange ich gar nicht erst an. Stattdessen hänge ich planlos vorm Smartphone, warte bloß auf den nächsten Freitag. 'Ach, das mache ich später', ist die Baseline meines Alltags." Wenn man immer nur plane, etwas zu tun, gäbe es am Ende, wenn man alt sei, keine Geschichten zu erzählen.

Julia Engelmann hält sich und den Zuhörern den Spiegel vor, stellt Fragen, stellt fest und dann feuert sie sich und ihre Zuhörer an, die Bequemlichkeit zu beenden.

Nach fünf Minuten schließt sie mit den Worten: "Also los, schreiben wir Geschichten, die wir später gern erzählen. Und eines Tages, Baby, werden wir alt sein und an all die Geschichten denken, die für immer unsere sind."

Zufällig entdeckt

#link:http://www.youtube.com/watch?v=DoxqZWvt7g8:Das Video von ihrem Auftritt# wurde schon im vergangenen Juli bei Youtube eingestellt. Und fristete das Dasein eines durchschnittlichen deutschen Youtube-Clips, dessen Klickzahlen selten über eine vierstellige Zahl hinauskommen.

Asaf Avidan lieferte mit seinem Song die Vorlage zu Julias TextBild: picture-alliance/dpa

Bis der Blogger Kai Thrun bei Facebook auf das Video stieß. Für ihn war es das Netzfundstück der Woche – sein erster Gedanke war, so schreibt er in seinem Blog, "dass es so ziemlich alles hatte, was ein Video braucht, um die Runde zu machen". Und postete es #link:http://kaithrun.de/fundstuecke/mut-ist-nur-ein-anagramm-von-glueck/:in seinem Blog# mit den Worten: "Sofern ihr noch nicht alle eure Vorsätze gebrochen habt, dann solltet ihr euch das Video auf jeden Fall anschauen."

Die Welle wird zum Tsunami

Der Clip wurde geteilt, in weiteren Blogs gepostet, auf Twitter und Facebook weitergereicht, auf Youtube-Kanälen veröffentlicht – und innerhalb weniger Tage mehr als zwei Millionen Mal aufgerufen. Die Rede der Julia Engelmann scheint genau den Nerv einer Generation zu treffen, die oft dafür kritisiert wird, sich treiben zu lassen, weil ihr der Antrieb fehlt.

Der deutsche Rapper Marteria geht auf robustere Art auf dieses Thema ein. In seinem Song "Kids" prangert er an, dass mit keinem mehr was anzufangen sei, niemand mehr habe Lust darauf, etwas Verrücktes zu tun: "Was all die anderen starten, sieht wie eine Landung aus, und die Welt, sie dreht sich weiter, nur nicht mehr ganz so laut."

Dies spiegelt sich auch in vielen Kommentaren zu Julia Engelmanns Video wider: "Schöner Text, aber ich wette, ihr lernt nichts draus", schreibt ein User auf Youtube, "man geht trotzdem weiter zur Schule, arbeitet, studiert und ist dann zu faul um rauszugehen und irgendwas zu machen." Dagegen hält ein anderer User: "Machst DU denn was draus?" – "Das ist in unserer Leistungsgesellschaft zu schwer."

Diskussionswürdig

So wird der Clip zwar beachtet, aber nicht überall unkritisch bejubelt – denn – auch das klingt in den vielen Kommentaren auf Facebook und Youtube durch – was Julia Engelmann da sagt, ist erstens nichts Neues: Viele Medien, die sich an die Generation der 20 bis 30-Jährigen richten, packen dieses Thema immer wieder an. Die Zeitschrift "NEON" beispielsweise hat eine regelmäßige Rubrik mit dem Titel "Lebe den Moment".

Zweitens sind Julia Engelmanns Worte für viele erst einmal leicht gesagt. Der Blogger und Internetaktivist Stephan Urbach hält wenig davon und twittert stattdessen trocken: "Ich weiß nicht, wie ich meine Kinder ernähren soll. Laut Julia Engelmann einfach mal mutig sein?"

Julia Engelmann war auch schon Darstellerin in einer TV-SoapBild: picture-alliance/dpa

Eine geharnischte Antwort auf den Hype um Julia Engelmanns Video findet man im #link:http://wyme.de/das-anagramm-fur-hochkultur-ist-nicht-julia-engelmann/:Blog "Wyme". Dort schreibt die Autorin und Bloggerin Laura Nunziante#, dass sich von "so einem Quark" nicht beeindrucken lassen will. Und stellt Julia Engelmanns Fragen eine andere Frage entgegen: "Was ist das überhaupt für eine Generation, die erst durch einen mittelmäßigen Text aus Bielefeld eingesehen hat, dass das Leben viel zu kurz ist?"

Wie auch immer es ankommt: Das Video von Julia Engelmann hat dafür gesorgt, dass sich viele Menschen für ein paar Tage Gedanken über Zeitgeist und Lebenssinn machen. Egal, ob die Worte als neue "Gebrauchsanweisung zum Glücklichsein" gefeiert werden, oder ob die Begeisterung von der Realität überrollt wird und genau so schnell verschwindet, wie sie entstanden ist.