Erbe einer Ikone: Vier Jahre nach dem Tod der legendären Tänzerin und Choreografin Pina Bausch steht mit Lutz Förster der neue Leiter des weltberühmten Tanztheaters in Wuppertal fest. Was ist von ihm zu erwarten?
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Es interessiere sie nicht, wie Menschen sich bewegen, sondern was sie bewegt. Das hat Pina Bausch gesagt. Ihre Vision von Tanz setzte sich deutlich vom klassischen Ballett ab, sah sich eher dem deutschen Ausdruckstanz verpflichtet. Die Chefin des Tanztheaters am Opernhaus in der westdeutschen Stadt Wuppertal wurde zu einer Ikone, vielfach ausgezeichnet für ihre Arbeiten, umworbener Gast in den großen Opernhäusern der Welt.
Mit ihrem überraschenden Krebstod im Juni 2009 ging eine Ära zu Ende. Der deutsche Regisseur Wim Wenders setzte ihr mit dem Dokumentarfilm "Pina" 2011 posthum ein Denkmal. Der Film wurde für den Oscar nominiert, das lenkte global Aufmerksamkeit auf Pina Bausch.
Schockstarre nach Pina Bauschs Tod
Ihr plötzlicher Tod versetzte die Tanzwelt, das weltweite Publikum und das Ensemble zunächst in eine Art Schockstarre. Man entschied sich für eine Weiterführung des Tanztheaters Pina Bausch unter der künstlerischen Leitung des Bausch-Assistenten Robert Sturm und des langjährigen Tänzers und Vertrauten Dominique Mercy. Eine richtige Entscheidung, gelang es doch den Beiden, das Ensemble mental und künstlerisch aufzufangen, Zuschauer zu halten und neu zu gewinnen: Die Auftritte der Tanztruppe sind weltweit gefragt wie nie zuvor. So feierte das Ensemble mit den Gastspielen zur Olympiade in London 2012 Triumphe.
Allerdings machten sich Ende letzten Jahres vor allem im Ensemble Unmut und eine gewisse Unruhe breit. Denn es bedeutet tänzerisch keine spannende Herausforderung, ausschließlich die Bausch-Tradition zu pflegen, indem die alten Repertoire-Stücke recycelt, sprich neu einstudiert und aufgeführt werden. Irgendwann wirken diese Stücke museal und sind nicht mehr aktuell oder zeitgemäß in Thematik und Ausführung. Das kann für junge Tänzer auf Dauer nicht befriedigend sein und letztlich weder den Tanz-Begeisterten im Publikum, noch der Kritik gefallen.
Ein Blick nach vorn
So entschloss man sich in Wuppertal, einen zaghaften Neuanfang zu wagen, dessen Erfolg sich erst noch erweisen muss. Die künstlerische Leitung des Tanztheaters übernimmt ab Sommer 2013 der Tänzer und Tanzpädagoge Lutz Förster. Das Tanztheater habe sich einstimmig für ihn als neuen Leiter ausgesprochen, sagt Geschäftsführer Dirk Hesse. Förster übernimmt die Aufgabe mit Respekt: "Aber ich habe keine Angst davor."
Pina Bausch holte ihn schon 1975 in ihr Ensemble. Er hat in fast allen Stücken mitgetanzt und ist dem Publikum dank seiner außerordentlichen Bühnenpräsenz in Erinnerung. Bei Youtube hat seine emotionale, zu Herzen gehende Interpretation des Songs "The Man I love" in Gebärdensprache neue und nicht unbedingt Tanztheater-affine Fans dazu gewonnen.
Tanz in die Zukunft - die Pina Bausch-Kompanie setzt auf Neuanfang
Als Choreografin hat Tänzerin Pina Bausch die internationale Tanzwelt revolutioniert. Ihre berühmte Tanz-Kompanie tourt nach ihrem Tod durch die Welt, jetzt wagt die Tanztruppe einen Neuanfang - mit brandneuen Stücken.
Erstmals nach dem Tod von Pina Bausch, die 2009 an Krebs gestorben ist, betrat ihre Kompanie tänzerisches Neuland. Am 18.09.2015 hatten drei brandneue Stücke Premiere in Wuppertal. Elf jüngere Tänzer sind seit 2009 zu der berühmten Tanztruppe dazu gestoßen. Die Älteren mussten sich zum Teil neu erfinden, wie sie sagen: HipHop und gerappte Gesangseinlagen sind völlig neue Tanz-Elemente.
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Neuausrichtung der Kompanie
Erstmals wurden Stücke ohne Titel getanzt: eine neue Ära für die Kompanie. Dem gespannten Publikum präsentierte sie einen dreiteiligen Tanzabend, mit ungewöhnlich humorigen Einlagen. Inszeniert und neuartig choreographiert von dem britischen Regisseur Tim Etchell, dem argentinisch-französischen Choreographen-Duo Cecilia Bengolea und François Chaignaud und dem Briten Theo Clinkard.
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Revolution des Tanztheaters
In der Anfangszeit von Pina Bausch hätte keiner gedacht, dass ausgerechnet das Tanztheater von Wuppertal, einer nordrhein-westfälischen Provinzstadt, eines Tages weltweit Erfolg haben würde. Die Tänzerin und begabte Choreographin Bausch entwickelte etwas völlig Neues, was die Tanzszene so noch nirgendwo gesehen hatte. Ihre Kompanie entfachte eine Revolution der Bewegung, die Tanz neu definierte.
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Radikaler Ausdruckstanz
Pina Bausch engagierte nur Tänzer, die in ihren Augen außergewöhnlich waren. 1973 gründete sie das Tanztheater Wuppertal, das bis heute weltweit für seinen radikalen Ausdruckstanz bekannt ist. Nur wenige Tänzer können Bauschs Stücke tanzen. Ihre Choreographien waren immer speziell auf die Tänzerpersönlichkeiten der Wuppertaler Kompagnie zugeschnitten.
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Tänzerischer Alptraum
Die radikalen Stücke der jungen Pina Bausch gingen den Zuschauern in den 70er Jahren an die Nerven und gegen den Strich. Ihre experimentellen, oft sperrigen Tanzvisionen sprengten damals alle Konventionen. Während der ersten Vorstellungen im Wuppertaler Opernhaus verließen Zuschauer empört und unter lautstarkem Protest den Raum. Sogar Beschwerdebriefe und Drohungen soll es gegeben haben.
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Tanz neu erfinden
Die Tänzer bei Pina Bausch tanzten nicht einfach nur: Sie rannten, sprachen, sangen, weinten oder lachten, während die Choreographie ihnen höchste Konzentration abverlangte. Sie intepretierten Tanz völlig neu. Tänzer und Choreographen in der ganzen Welt fragten sich: Wo haben die Tänzer gelernt, sich so zu bewegen? Sind sie nun Sänger, Schauspieler oder Tänzer? Das war neu.
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Keine Solisten
Die Stücke von Pina Bausch (im Bild) lebten von ihrer Ehrlichkeit und getanzten Innerlichkeit. Das erreichte die Choreographin durch eine intime Zusammenarbeit mit ihren Tänzern. In ihrer Kompanie gab es keine herausragenden Solisten, keine Hierarchien. Alle Tänzer des Ensembles waren gleichberechtigt und sollten mit den Choreographen auch eigene Ideen in den Tanz und die Inszenierung einbringen.
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Zusammengeschweißtes Team
Wer in Bauschs Tanzkompanie eintrat, blieb lange – manchmal für immer. Die Tänzer des Wuppertaler Tanztheaters entwickelten sich bald zu einer eingeschworenen Kompanie, die bis heute weltweit einzigartig ist. Alle sind unkündbar. Auch nach Pina Bauschs Tod 2009 tanzten sie die Stücke der legendären Choreographin weiter. Inzwischen gehören dem Tanztheater 35 Tänzer zwischen 24 und 60 Jahren an.
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Das Repertoire des Ensembles
Nach Pina Bauschs Tod übernahmen der Tänzer Dominique Mercy und der Theatermacher Robert Sturm die Künstlerische Leitung. Mercy ist eines der ältesten Mitglieder des Tanzensembles. Sein Ziel war es, das Repertoire von Pina Bausch so lange wie möglich zu erhalten. In 36 Jahren hat Bausch 46 Stücke geschaffen. Einige davon sind zu Klassikern geworden. Im Bild tanzt Mercy in Wim Wenders Film "Pina".
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Oscarverdächtige Tanzgeschichte
Regisseur Wim Wenders hat mit seinem Dokumentarfilm "Pina" einen filmischen Nachruf auf Pina Bausch gedreht - und eine Hommage an ihre Heimatstadt Wuppertal. Eine Stadt im Westen Deutschlands, die neben Pina Bauschs Tanzkompanie vor allem für ihre Schwebebahn bekannt ist. Der 3D-Film mit dem Wuppertaler Tanztheater wurde 2012 für einen Oscar in der Kategorie "Bester Dokumentarfilm" nominiert.
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Copyright Pina Bausch
Die Stücke von Pina Bausch sind urheberrechtlich geschützt und dürfen nur von der Wuppertaler Kompanie aufgeführt werden. Früher waren sie deshalb monatelang mit Gastspielen in der Welt unterwegs. Den Tänzern stehen 40 Werke zur Auswahl. Dazu gehört das berühmte Stück "Kontakthof" (im Bild). Bis 2013 wurden die Klassiker von Pina Bausch nur so gezeigt, wie es vertraglich vereinbart worden war.
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Behutsamer Kurswechsel
2013 übernahm der Tänzer und Tanzprofessor Lutz Förster die Künstlerische Leitung des berühmten Tanztheaters. Förster war langjähriges Ensemblemitglied bei Pina Bausch und später Professor an der Essener Folkwang Universität der Künste. In seiner Leitungszeit visierte er eine behutsame Neuorientierung der renommierten Tanzcompany an. Seit Mai 2017 ist Adolphe Binder künstlerische Leiterin.
Bild: privat
In Pinas Sinne
Am 27. Juli 2015 wäre Pina Bausch 75 Jahre alt geworden. Förster kündigte 2015 an, die Truppe wolle in Zukunft mit verschiedenen Choreographen zusammenarbeiten. "Die eine Pina Bausch wird es nicht geben", betonte er. Ihm sei wichtig, dass die 35-köpfige Kompagnie an jeder Neuproduktion beteiligt werde. Ganz im Sinne der Gründerin. Binder hat ihren eigenen Führungsstil.
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Pina Bauschs Erbe
In den 70er Jahren revolutionierte sie von Wuppertal aus die Tanzwelt: 2015 wäre die große Choreographin Pina Bausch 75 Jahre alt geworden und hätte sicher nicht mit dem Tanz aufgehört, wenn sie nicht erkrankt wäre. Ihr international bedeutsames Wirken wurde im Jahr 2015 mit einer Sonderbriefmarke geehrt - und ist damit Teil der Deutschen (Kultur)-Geschichte.
Lutz Förster bekleidet derzeit eine Professur für zeitgenössischen Tanz an der berühmten Folkwang Hochschule in Essen. Die wird er zunächst ruhen lassen, um sich ganz der Weiterentwicklung des Wuppertaler Tanztheaters zu widmen. Als jahrelanger enger Vertrauter von Pina Bausch, als Kenner der speziellen Bausch-Denke und Choreographie sowie ihres Probenkonzeptes ist er eine passende Besetzung des Postens.
Seiner neuen Aufgabe begegnet er dennoch mit Bescheidenheit: "Man kann hinter Pinas großen Fußstapfen nur hinterherlaufen." Die Bewahrung des Erbes von Pina Bausch kann er garantieren. Die Tänzer des Ensembles kennen ihn und sie vertrauen ihm.
Keine Neuinszenierungen bis 2015
Allerdings ist der charismatische Förster kein Choreograf und er hat auch nicht vor, neue Stücke ins Repertoire aufzunehmen: "Bis 2015 wird es keine Neuinszenierungen geben." Im Herbst feiert das Tanztheater sein 40-jähriges Bestehen mit einem großen Festival. In der Vorbereitung des Festivals im Herbst sieht Förster zunächst seine Hauptaufgabe. Bis 2015 läuft seine Amtszeit. Eine ganz wesentliche Aufgabe neben der Repertoirepflege und der Festivalvorbereitung liegt aber in der Entwicklung eines Zukunftskonzeptes. Eine frische Perspektive wird gesucht, neue Stücke sollen konzipiert werden. Da sind innovative Ideen und kreative Fantasie gefragt. Lutz Förster wird dafür Mitstreiter brauchen, Impulsgeber und Moderatoren, die noch nicht namentlich genannt wurden.
Derzeit laufen eher informelle Gespräche. Aber ein Name fiel dennoch: Stefan Hilterhaus. Hilterhaus ist selbst Folkwang-Absolvent und leitet derzeit das Choreographische Zentrum "Pact" in Essen. "Pact" hat sich nicht nur bei der Vorstellung zeitgenössischen Tanzes und experimenteller Performances international renommierter Choreografen einen Namen gemacht, sondern auch durch Kooperationen mit Hochschulen sowie genreüberschreitenden Ateliers.
Öffnung des Bausch-Zirkels
Hilterhaus wäre also ein guter Ratgeber. Von diesen Gesprächen könnte man sich, vorsichtig formuliert, eine Öffnung des Bausch-Zirkels erhoffen. Dem oft als "Closed Shop" bezeichneten Tanztheater, dessen Stücke von anderen Compagnien nicht aufgeführt werden, würde eine solche Öffnung hin zu anderen Konzepten, Ideen und Choreografen sicher zugute kommen.
Wer auch immer diese Öffnung gemeinsam mit Lutz Förster anstößt, sie ist nötig. Nur dann kann ein zukunftsfähiges Konzept für das weltberühmte "Tanztheater Pina Bausch" die Compagnie nach 2015 weiter tragen. Die beiden ehemaligen Leiter Dominique Mercy und Robert Sturm hatten zwar wegen der kräftezehrenden Arbeit um ihre Entlassung gebeten. Sie werden allerdings dem Tanztheater Pina Bausch erhalten bleiben: Sturm als Betriebsdirektor und Mercy als Berater.