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Politik

Neue Chance für Westafrikas Koranschüler?

Katrin Gänsler
2. Juni 2020

In Westafrika müssen täglich mehrere Millionen Kinder für ihre Imame betteln gehen. Durch die Corona-Pandemie wird über diese uralte Praxis wieder neu diskutiert. Aber eine Lösung ist nicht in Sicht.

Almajiri-Kinder in Westafrika
Bild: DW/Katrin Gänsler

In Westafrika kennt sie jeder: In aller Regel sind es Jungen, die zerschlissene Kleidung tragen, eine Plastikschüssel in den Händen halten und um Geld oder Essen betteln. In kleinen Gruppen ziehen sie umher und rezitieren aus dem Koran. Oft stehen sie an Straßenkreuzungen, auf Busbahnhöfen oder versuchen bei großen Menschenansammlungen ihr Glück. Zum Unmut vieler Passanten: Anstatt den Kindern etwas zuzustecken, verscheuchen sie die Almajirai, wie sie in Nigeria heißen.

2014 schätzte das UN-Kinderhilfswerk UNICEF ihre Zahl allein dort auf rund 9,5 Millionen. Unter dem Namen Talibés sind die Kinder aber auch in französischsprachigen Ländern bekannt. Im Senegal soll es laut Human Rights Watch mehr als 100.000 geben.

Viele Kinder betteln an beleben OrtenBild: DW/Katrin Gänsler

Das System ist überall ähnlich: In der Regel sind es Eltern aus ländlichen Regionen, die ihre Söhne zu Imamen in größere Dörfer und Städte schicken. Die Kinder sind oft noch im Grundschulalter. Die Praxis existiert seit 300 Jahren und sei weder neu, noch merkwürdig, sagt Sheik Nuruddeen Lemu vom Da'wah-Institut für islamische Studien in Nigeria. "Almajiri ist das Haussa-Wort für [Al] Muhajir, was auf Arabisch Migrant bedeutet." Die Imame sind für die religiöse Erziehung der Kinder zuständig, unterrichten aber unter anderem auch Steuer- und Eherecht. In Nigeria ist das Almajiri-Konzept vor allem bei den Volksgruppen der Haussa und Fulani verbreitet und gilt deshalb mehr als kulturelles denn als religiöses Phänomen.

Schlimm sind aber die Lebensbedingungen vieler Kinder, die von den Imamen gezwungen werden, betteln zu gehen. Die Unterbringung ist schlecht. Ihr Essen müssen sich die Kinder oft erbetteln. Zur Strafe werden sie geschlagen. Sanitäranlagen oder sichere Rückzugsorte gibt es nicht.

Kinder werden abgeschoben

Die Corona-Pandemie ist für die Koranschüler daher besonders gefährlich. Durch die schlechten Lebensbedingungen können sie sich besonders einfach anstecken. Gleichzeitig werfen ihnen viele Menschen vor, das Virus beim Betteln zu verbreiten. Belege dafür gibt es jedoch nicht. 

Viele Kinder werden gefesselt und müssen unter schlechten Bedingungen hausenBild: Reuters/Str

Einige Gouverneure in Nigeria haben sich deshalb entschieden, die Jungen in ihre Heimat zu deportieren - oft gegen ihren Willen, mitten in der Nacht und mitunter durch den Einsatz von Gewalt. Nasir El-Rufai ist Gouverneur des Bundestaates Kaduna, dessen Regierung noch einen Schritt weitergegangen ist. Sie hat dem Parlament ein Gesetz zum Verbot der Almajirai vorgelegt. "Wir verbieten das System und wollen, dass jedes Kind bei seinen Eltern ist. Es soll morgens moderne Bildung erhalten und nachmittags Koran-Unterricht", so El-Rufai. 

Seitdem wird einmal mehr über die alte Praxis gestritten. El-Rufais Vorpreschen gilt vielen als nicht ausgereift. "Ich denke nicht, dass es notwendigerweise hilft, sie in ihre Heimatdörfer zurückzubringen. Es hat Gründe gegeben, weshalb sie diese Orte verlassen haben", sagt Hannah Hoechner. Die Dozentin an der Universität East Anglia in Großbritannien hat zu Koranschulen in Nordnigeria und dem Senegal geforscht. "Die Familien haben Schwierigkeiten, überhaupt alle Kinder zu ernähren." Ihre Forderung: Anstatt die Kinder zu deportieren, müsste die Wirtschaft im ländlichen Raum gestärkt werden.

Ein Vorbild aus Mali

Eine weitere Forderung ist, das System grundlegend zu reformieren. "Es bietet religiöses Lernen an, was als sehr nützlich gilt", sagt Peter Hawkins, UNICEF-Repräsentant in Nigeria. Dennoch fehle es an Transparenz und verbindlichen Standards. "Wir wissen nicht, welches Wissen den Kindern vermittelt wird und wie sie sich entwickeln. Wir wissen jedoch, dass Kinder und Jugendliche aus diesem System Schwierigkeiten auf dem Arbeitsmarkt haben. Sie finden es schwierig, sich anzupassen."

Bettelnde Koranschüler gibt es in vielen westafrikanischen LändernBild: DW/Katrin Gänsler

Ein Vorbild könnten franko-arabische Schulen sein, die es in französischsprachigen Ländern wie Mali gibt. Seit Jahren haben sich Nichtregierungsorganisationen für ihre Gründung stark gemacht und nach und nach auch Imame überzeugt. Kinder erhalten Koranunterricht, aber auch Mathematik und Französisch stehen auf den Stundenplänen. Auch immer mehr Mädchen besuchen diese Schulen. In Nigeria gibt es ein ähnliches System, das Islamiyya heißt.

Die Gesellschaft ist in der Verantwortung

Hannah Hoechner sagt jedoch: "Die Schulen lösen nicht alle Probleme." In beiden Fällen müssten Eltern Gebühren, sowie Uniformen und Lernmaterialien zahlen. Die Koranschulen haben aber noch einen weiteren Vorteil: "Sie passen sich kulturellen Arbeitszyklen an. Die Schüler bekommen Ferien, wenn sie ihren Eltern auf den Feldern helfen müssen", so Hannah Hoechner. "Danach können sie ganz einfach zurückkommen, was bei den Islamiyya- und Franco-Arabes-Schulen nicht der Fall ist."

Mohammed Sabo Keana, Gründer der „Initiative für die Rechte des Almajiri-Kindes", fordert deshalb die Schaffung eines neuen Konzepts. Die Organisation, die im Norden Nigerias Almajirai unterstützt, setzt auf Almajiri-Schulen, die nicht mehr von einzelnen Imamen, sondern von der Dorfgemeinschaft getragen werden.

Daran sollen sich Staat, Eltern und Gesellschaft gleichermaßen beteiligen und unter anderem eine nachhaltige Finanzierung sicherstellen. Niemand dürfe aus der Verantwortung gelassen werden. "Was wir aber brauchen, ist ein System von Regeln", so Mohammed Sabo Keana. Doch genau das fehlt bisher.