Neue Datenbank zu Euthanasie-Opfern der NS-Zeit
20. August 2025
Vor ziemlich genau zehn Jahren erfährt Barbara Baum, was wirklich mit ihrer Tante passiert ist. Die "Süddeutsche Zeitung" startet 2015 einen Aufruf, dass sie sich näher mit dem Thema Euthanasie im Nationalsozialismus beschäftigen will und sucht nach Angehörigen von Opfern. Mehr als 100 Betroffene melden sich, unter ihnen auch die 82-jährige Münchnerin Barbara Baum. Wenig später erhält sie Akteneinsicht zum Leben und zum Tod von Anneliese Weidert. Es sind Dokumente aus der früheren Heil- und Pflegeanstalt Eglfing-Haar bei München.
"Ich konnte mir gar nicht vorstellen, dass das alles so detailliert dokumentiert war, aber die Nazis waren ja immer ganz genau. Die Berichte sind am Ende immer spärlicher und grausamer geworden. Meine Tante wurde oft mit Medikamenten ruhiggestellt, schließlich an ein Bett gefesselt und ist laut Obduktionsbericht an einer Lungenentzündung verstorben", sagt Baum der DW.
"Aktion T4": Systematischer Massenmord
Anneliese Weidert war gehörlos, lernte nicht sprechen und galt deswegen als "schwachsinnig". 1921 wurde sie in die Heil- und Pflegeanstalt Eglfing-Haar eingewiesen, wo sie 20 Jahre später an den Folgen gezielten Nahrungsentzugs starb. Mit der Diagnose Lungenentzündung wurde, wie so häufig, die wahre Todesursache verschleiert.
Ihr Schicksal steht exemplarisch für die grausame Tötungsmaschinerie der Nazis, welche mit dem Runderlass des Reichsinnenministeriums vom 18. August 1939 begann: Der systematische Massenmord an kranken Kindern und Kindern mit Behinderung und kurze Zeit später auch an Erwachsenen, das "Euthanasieprogramm Aktion T4".
Schätzungen zufolge wurden in ganz Europa etwa 300.000 Menschen mit psychischen Erkrankungen oder Behinderungen ermordet, die den Nationalsozialisten als nicht nützlich für die Gesellschaft galten. Opfervertreter gehen von einer noch größeren Zahl aus.
Die Nazis betrieben in großem Maß Hirnforschung
Doch damit nicht genug: Die Gehirne vieler "Euthanasie"-Opfer, wie auch von Anneliese Weidert, wurden nach ihrem Tod von den Nazis zu Forschungszwecken missbraucht. Herwig Czech, österreichischer Medizinhistoriker an der Medizinischen Universität Wien, sagt:
"Gehirne wurden auf diesem Weg zusammengetragen, katalogisiert, zu Präparaten, meist in einer Form von mikroskopischen Schnitten verarbeitet und für spätere Untersuchungen sorgfältig aufbewahrt. Von Kindern mit Behinderungen, die in Einrichtungen vergiftet wurden. Von Menschen mit psychischen Erkrankungen, die man in psychiatrischen Einrichtungen an systematischer Vernachlässigung oder Hunger zugrunde gehen ließ. Oder auch von Kindern und Erwachsenen, die in den Gaskammern der sogenannten 'T4-Aktion' ermordet wurden."
Bustransporte zu Tötungsanstalten
Von der Heil- und Pflegeanstalt Eglfing-Haar, in der später auch Anneliese Weidert starb, startete auch am 18. Januar 1940 der Bus für die erste T4-Aktion im Deutschen Reich. 25 Männer werden zur Tötungsanstalt Grafeneck gefahren, wo sie noch am selben Tag mit Gas umgebracht wurden. Davor waren schon psychisch Kranke in Polen ermordet worden.
Bettina Rockenbach, Präsidentin der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina, sagt: "Die Ermordung von Kranken und Menschen mit Behinderungen, bewusst verharmlosend als 'Euthanasie' bezeichnet, ist ein Beispiel für die Verstrickung zwischen Medizin, biowissenschaftlicher Forschung und nationalsozialistischer Rassenideologie. In Deutschland hat es viel zu lange gedauert, dem Gedenken an die Opfer der sogenannten 'Euthanasie'-Morde öffentlich Raum zu geben."
Online-Datenbank der Opfer als digitaler Gedenkort
Die Leopoldina hat jetzt in Zusammenarbeit mit der Max-Planck-Gesellschaft und Forschungsgruppen in Deutschland, Österreich und Großbritannien eine Online-Datenbank entwickelt, die erstmals einen systematischen Zugang zu tausenden Namen und Lebensdaten von Opfern medizinischer Zwangsforschung bietet. Auch das Profil von Anneliese Weidert ist in der Datenbank hinterlegt.
Für Barbara Baum, die seit Jahren unermüdlich in Schulklassen über die "Euthanasie"-Morde der Nationalsozialisten aufklärt, ist dies ein weiterer wichtiger Schritt, dass das Schicksal ihrer Tante und der vielen anderen Opfer nicht in Vergessenheit gerät. "Natürlich leben wir im Jetzt und nicht in der Vergangenheit, aber man muss aus ihr lernen. Das Wissen darüber, was passiert ist und wozu Menschen fähig sind, muss uns helfen, damit nie wieder das Gleiche passiert."