"Wo die Menschenwürde zerstört, ermordet, vernichtet, gequält, gefoltert, gedemütigt, bekämpft wurde." Claudia Roth besucht die Gedenkstätte KZ Buchenwald. Und macht deutlich, wie wichtig ihr Erinnerungskultur ist.
Anzeige
"Dieser Ort ist so wichtig für die Erinnerung. Für eine Erinnerung, die sich aber nicht in der Vergangenheit begräbt, sondern in die Zukunft weist." Gut eine Stunde ging Claudia Roth - nur mit zwei, drei Begleitern - durch die KZ-Gedenkstätte Buchenwald in Thüringen, nun steht sie vor zwei Dutzend Journalisten. Gerade einmal zwei Tage ist die Grünen-Politikerin im Amt als Staatsministerin für Kultur."Es ist mir sehr wichtig, dass ich am Anfang meiner neuen Tätigkeit als Kulturstaatsministerin ein Zeichen setzen kann, welche Bedeutung Erinnerungskultur hat."
Es ist 15:15 Uhr - das ist jene Zeit, die die Uhr am kleinen Turm über dem Eingang zum KZ Buchenwald stets zeigt. Am 11. April 1945 endete um diese Uhrzeit für all jene, die die Nazis hier eingesperrt hatten, die Hölle und begann die Freiheit. Es ist jene Zeit, die die Überlebenden nie mehr loswurden.
Innehalten
Auch heute, an diesem sonnig-kalten Dezembertag, ist es 15:15 Uhr, als Roth nach ihrem gut 60-minütigen Gang durch das Areal an das "Denkmal an ein Denkmal" tritt, den dort liegenden Kranz mit weißen Blüten richtet, still verweilt.
Buchenwald - das war die Hölle. Eine der vielen Höllen in der nationalsozialistischen Verfolgungs- uns Tötungsmaschine. Im KZ Buchenwald auf dem Ettersberg bei Weimar waren zwischen 1937 und 1945 etwa 280.000 Menschen inhaftiert. Die meisten der etwa 56.000 Häftlinge, die während der Haft an den schrecklichen Bedingungen starben oder von Mitgliedern der Nazi-Organisation SS getötet wurden, waren Juden. Zum System Buchenwald gehörten außer dem KZ auf dem Ettersberg mehr als 50 kleine Außenlager - zumeist an Stätten kriegswichtiger Produktion. Und nach 1945 nutzten die Sowjets das Gelände für eines ihrer "Speziallager". Bis 1950 starben hier wohl weitere 7000 Menschen. Später spricht Roth von einem Ort, an dem "die Menschenwürde zerstört, ermordet, vernichtet, gequält, gefoltert, gedemütigt, bekämpft wurde".
Digitale Vermittlung
Thüringens Kulturminister Benjamin-Immanuel Hoff begleitet mit dem stellvertretenden Leiter der Gedenkstätte, Philipp Neumann-Thein, Roth durch das Gelände. Durch das Portal mit der zynischen Beschriftung "Jedem das Seine" entlang der Zäune hinüber zum Krematorium. Dann geht es in die Dauerausstellung in einem der erhaltenen Gebäude. Alle drei berichten später, wie wichtig neue Formen der Vermittlung zum Beispiel im digitalen Bereich seien, um junge Menschen auch noch zu erreichen, wenn die Überlebenden, die Zeitzeugen verstorben seien.
"Die Würde des Menschen"
Und Roth nennt noch einen weiteren Punkt, warum ihr der Besuch an diesem Freitag so wichtig war. Der 10. Dezember ist der "Tag der Menschenrechte" der Vereinten Nationen. "Die Menschenrechte sind unteilbar, sind universell gültig", sagt die 66-Jährige. Und in der Charta der Vereinten Nationen und im Grundgesetz stehe eben nicht, "die Würde des männlichen oder des weißen oder des christlichen oder des heterosexuellen oder des nichtbehinderten Menschen ist unantastbar, sondern da steht: Die Würde des Menschen ist unantastbar."
Ob Heranwachsende in Deutschland einmal in ihrer Schulzeit einen Ort wie Buchenwald besuchen sollten? Sie würde sich das sehr wünschen, sagt Roth, erzwingen könne man das kaum. Und dann kommt sie wieder auf das "Denkmal an ein Denkmal" zu sprechen. Zum ersten Mal habe sie gesehen, dass in Buchenwald auch Häftlinge aus dem Senegal, aus Syrien oder der Türkei interniert waren. Insgesamt sind die Namen von 57 Nationen und Opfergruppen auf der metallenen Bodenplatte eingraviert. Und ihr Mittelteil ist dauerhaft auf eine Temperatur von 37 Grad erwärmt, die menschliche Körpertemperatur. "Was macht das mit jungen Leuten, die hierhin kommen", fragt Roth.
Anzeige
Hass und Drohungen
Und alle drei mahnen für die Gegenwart. Claudia Roth spricht von den Feinden der Demokratie, die mit Hass und Drohungen arbeiteten und Politiker, Künstler oder Journalisten einschüchtern wollten. Dass ein Fackelzug vor das Privathaus einer Politikerin ziehe, "hätte ich nicht für möglich gehalten". Der Direktor der "Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau Dora", Jens-Christian Wagner, beklagt in einem schriftlichen Statement Angriffe auf die Gedenkstättenarbeit. So gebe es in den letzten Wochen Hassmails, "in denen die Corona-Schutzmaßnahmen mit den NS-Verbrechen gleichgesetzt wurden".
#DailyDrone: KZ-Gedenkstätte Buchenwald
01:32
Vor der Gedenkstätte stehen, während Claudia Roth zu Gast ist, nur zwei Polizeiwagen. Aber während der Fahrt hinab nach Weimar sieht man dann doch eine ganze Reihe von zivilen Fahrzeugen, die das geübte Auge des Taxifahrers dem Landeskriminalamt zuordnet.
Gegen das Vergessen
Seit zwei Tagen ist die 66-Jährige Kulturstaatsministerin der Bundesregierung. Ihr erster Termin außerhalb der Hauptstadt Berlin ist dabei schon ihr zweites Signal, wie wichtig ihr Erinnerungskultur ist, wie sehr sie daran arbeiten möchte in den kommenden Jahren. Noch am Mittwochmorgen, vor ihrer offiziellen Ernennung, hatte sie in Berlin in der Nähe des Reichstages das Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma besucht und dort Blumen niedergelegt.
Lange verdrängt: Völkermord an Sinti und Roma
Seit 600 Jahren leben Sinti und Roma in Europa. Im Machtbereich der deutschen Nationalsozialisten wurden sie ausgegrenzt, zwangssterilisiert und ermordet. Nach 1945 wurde ihre Verfolgung über Jahrzehnte bestritten.
Bild: Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma
Im Einsatz für Volk und Vaterland
Viele deutsche Sinti hatten nicht nur im Ersten Weltkrieg für das Kaiserreich gedient, sie kämpften auch ab 1939 in der Wehrmacht. 1941 ordnete das Oberkommando "aus rassenpolitischen Gründen" die "Entlassung von Zigeunern und Zigeunermischlingen aus dem aktiven Wehrdienst" an. Alfons Lampert wurde danach gemeinsam mit seiner Frau Else nach Auschwitz deportiert, wo beide starben.
Bild: Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma
Vermessen und erfasst von Rassenforschern
Die Krankenschwester Eva Justin lernte die Sprache Romanes, um das Vertrauen der Minderheit zu gewinnen. Im Gefolge des Rassenforschers Robert Ritter zog sie quer durchs Land, um Menschen zu vermessen und lückenlos als "Zigeuner" und "Zigeunermischlinge" zu registrieren - die Grundlage für den Völkermord. Man erforschte Verwandtschaftsverhältnisse und wertete die Taufregister der Kirchen aus.
Bild: Bundesarchiv
Eingesperrt und entrechtet
Wie hier in Ravensburg im Südwesten Deutschlands wurden Sinti und Roma-Familien Ende der 1930er Jahre vielerorts in Lagern am Stadtrand eingesperrt, umzäunt mit Stacheldraht, kontrolliert von Hundeführern. Niemand durfte seinen Aufenthaltsort verlassen. Haustiere wurden getötet. Die Menschen mussten Zwangsarbeit leisten. Viele wurden zwangssterilisiert.
Bild: Stadtarchiv Ravensburg
Deportation in aller Öffentlichkeit
Im Mai 1940 wurden Sinti- und Roma-Familien aus Südwestdeutschland durch die Straßen von Asperg zum Bahnhof gebracht und von dort direkt in das besetzte Polen deportiert. Im Kripo-Bericht hieß es: "Der Abtransport ging glatt vonstatten." Für die meisten Deportierten wurde es eine Fahrt in den Tod, sie starben in Arbeitslagern und jüdischen Ghettos.
Bild: Bundesarchiv
Von der Schulbank nach Auschwitz
Karl Kling auf einem Klassenfoto der Volksschule in Karlsruhe Ende der 1930er Jahre. Im Frühjahr 1943 wurde er während des Unterrichts abgeholt und ins "Zigeunerlager" nach Auschwitz-Birkenau deportiert, wo er dem Völkermord zum Opfer fiel. Überlebende berichteten, dass sie schon vor der Deportation in den Schulen ausgegrenzt und teilweise gar nicht mehr unterrichtet wurden.
Die Verantwortung eines Bürgermeisters
Der Bürgermeister von Herbolzheim beantragte 1942 die "Wegnahme" der Sinti-Familie Spindler. 16 Familienmitglieder wurden nach Auschwitz deportiert, zwei überlebten. 60 Jahre später klärte Bürgermeister Ernst Schilling die Ereignisse auf. Die Stadt erinnert seitdem an die Ermordeten. Schilling sagt, ihm sei bewusst geworden, wie viel Verantwortung ein Bürgermeister für das Leben von Menschen habe.
Bild: DW/A. Grunau
Mord und Verfolgung quer durch Europa
Wo immer das nationalsozialistische Deutschland die Herrschaft hatte, wurde die Minderheit verfolgt. Sinti und Roma wurden in "Zigeunerlager" oder mit Juden in Ghettos wie Warschau eingeschlossen, in "Vernichtungslager" deportiert und ermordet. Man schätzt, dass bis zu 500.000 Menschen durch Erschießungen, Gas, Verhungern, Krankheiten, medizinische Experimente oder andere Gewaltakte starben.
Lüge am Eingangstor
"Ich kann arbeiten", dachte der 9-jährige Hugo Höllenreiner aus München, als er 1943 wie Tausende andere mit der Familie im Viehwaggon nach Auschwitz kam. Der Schriftzug "Arbeit macht frei" machte Hoffnung, erinnerte er sich später. Er wollte seinem Vater beim Arbeiten helfen: "Dann kommen wir schon wieder frei." Nur etwa jeder Zehnte der nach Auschwitz Deportierten überlebte.
Bild: DW/A. Grunau
Die Schwarze Wand
Namentlich bekannt sind 54 Sinti und Roma, die 1943 vor der Schwarzen Wand im Hof des Stammlagers Auschwitz zwischen Block 10 und dem Todesblock 11 von SS-Leuten hingerichtet wurden - darunter auch Jugendliche. Im Buch "Auschwitz. Die Geschichte des Vernichtungslagers" schreibt Susanne Willems: "Johann Betschker ermordeten sie am 29. Juli 1943, an seinem 16. Geburtstag."
Bild: DW/A. Grunau
"Die Lagerstraße war übersät mit Toten"
"In einer Baracke, die vielleicht Platz für 200 Menschen gehabt hätte, waren oft 800 und mehr untergebracht", erinnerte sich Elisabeth Guttenberger, "die Hölle war das." 40 Baracken gab es im "Zigeunerlager" im Abschnitt BIIe, ein Block war "die Toilette für das ganze Lager". Franz Rosenbach, damals 15 und Zwangsarbeiter, erinnerte sich: "Die Lagerstraße von Birkenau war übersät mit Toten."
Bild: Staatliches Museum Auschwitz-Birkenau
"Kopf einer Leiche (12-jähriges Kind)"
SS-Arzt Josef Mengele war Lagerarzt im Abschnitt BIIe. Er und seine Kollegen quälten zahllose Häftlinge. Sie verstümmelten Kinder, infizierten sie mit Krankheiten, forschten an Zwillingspaaren und ermordeten sie mit Spritzen ins Herz. Augen, Organe und ganze Körperteile schickte Mengele nach Berlin. Im Juni 1944 versandte er den Kopf eines 12-jährigen Kindes. Er stand nie vor Gericht.
Bild: Staatliches Museum Auschwitz-Birkenau
Asche der Ermordeten
Die Häftlinge litten an Hunger, Durst, Kälte, Krankheiten und brutaler Gewalt. Kleine Kinder und alte Menschen starben zuerst. Kranke wurden in den Gaskammern ermordet. Die Leichen wurden verbrannt. Im "Zigeunerlager" in Auschwitz-Birkenau konnte man den Rauch der Krematorien sehen und riechen. Die Asche der Toten wurde auch in solchen Teichen versenkt, wo Angehörige heute Blumen niederlegen.
Bild: DW/A. Grunau
Befreiung - zu spät für Sinti und Roma
Als die Rote Armee am 27. Januar 1945 Auschwitz erreichte, traf sie dort auch auf gefangene Kinder. Für Sinti und Roma kamen die Befreier zu spät. Schon in der Nacht auf den 3. August 1944 trieb die Lagerleitung die verbliebenen Menschen aus dem "Zigeunerlager" in die Gaskammern. Zwei Kinder kamen am Morgen nach der Mordnacht weinend aus den Baracken, sie wurden "nachgeliefert".
Bild: DW/A. Grunau
Aus rassischen Gründen verfolgt
Nach der Befreiung aus den Konzentrationslagern stellten alliierte oder deutsche Stellen Überlebenden Bescheinigungen über rassische Verfolgung und die KZ-Haft aus. Später mussten sich viele anhören, sie seien nur als Kriminelle verfolgt worden, Anträge auf Entschädigungen wurden abgelehnt. Hildegard Reinhardt hat in Auschwitz ihre drei kleinen Töchter verloren.
Bild: Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma
Hungerstreik gegen Kriminalisierung
Anfang der 1980er Jahre wussten sich die Vertreter der Sinti und Roma keinen Rat mehr. Mit einem Hungerstreik auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers Dachau kämpften KZ-Überlebende gegen die Kriminalisierung der Minderheit und für die Anerkennung der NS-Verfolgung. 1982 stellte Bundeskanzler Helmut Schmidt offiziell fest, dass Sinti und Roma Opfer eines Völkermords waren.
Bild: picture-alliance/dpa
Ort des Gedenkens in Berlin
In der Nähe des Bundestags entstand 2012 im Berliner Tiergarten die Gedenkstätte für die in der Zeit des Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma. Verbände rufen besonders am Welt-Roma-Tag zum Kampf gegen Antiziganismus auf. Diese Feindseligkeit der Mehrheitsgesellschaft erleben auch heute noch viele Mitglieder der Minderheit in Deutschland und Europa.