Deutschland ist polarisiert - wirklich?
20. September 2018Viele Medien, vor allem die "sozialen", beschreiben Deutschland derzeit als ein gespaltenes Land. Auf der einen Seite die Unterstützer von Kanzlerin Angela Merkel. Auf der anderen Seite ihre Gegner, darunter viele Wähler und Sympathisanten der Rechtspopulisten. So manche Debatte der letzten Wochen im Bundestag hat diesen Eindruck verstärkt.
Anfang der Woche wurde in Berlin eine Studie vorgestellt, die deshalb zunächst irritierte. Das Klima zwischen Migranten und Nicht-Migranten sei im Zuge der Flüchtlingskrise 2015/16 gar nicht wesentlich schlechter geworden und noch immer im positiven Bereich. Da schüttelten einige der immer kritischen Journalisten zunächst einmal zweifelnd mit dem Kopf.
Gemeinsamer Alltag entscheidet
Die Studien-Autoren des Sachverständigenrats deutscher Stiftungen für Integration und Migration antworteten auf die Frage, wie sie die Kluft im Meinungsbild erklären können, mit dem besonderen Ansatz der Studie: Hier seien Alltagserfahrungen abgefragt worden - also auf der Arbeitsstelle, in der Schule oder im Mietshaus.
Besonders an der Studie ist aber auch, dass sowohl Deutsche mit, als auch Deutsche ohne Migrationshintergrund befragt wurden. Von den rund 9000 Befragten hatten sogar die meisten - nämlich 6000 - einen Migrationshintergrund. In deren Alltag hätte sich nun einmal nicht so viel geändert, hieß es. Man stehe noch immer gemeinsam am Band in der Autofabrik oder teile eine Schulbank.
Angst vor dem Fremden
Dass die Diskussion über Flüchtlinge den gesellschaftlichen Zusammenhalt nachhaltig gefährdet habe, sei aus den Ergebnissen nicht herauszulesen, sagte der Vorsitzende des Sachverständigenrats, Thomas Bauer. Das Integrationsklima sei stabil positiv, deutet er den Wert. "Es läuft im Alltag recht gut", ergänzte Studienautorin Claudia Diehl.
Wo es aber im Alltag wenig Berührungspunkte mit Migranten gibt, so haben es die Autoren gemessen, sehen die Werte auch schlechter aus. So vor allem in vielen Teilen Ost-Deutschlands, in denen die Migrantenquote einstellig ist. Anders als in manchen westlichen Bundesländern, wo jeder Dritte Migrationshintergrund hat. Der Index liege dort, wo Integrationserfahrungen fehlten, unter dem Wert von 50.
Deutschland nicht mit den USA zu vergleichen
"Die Polarisierung wird überzogen wahrgenommen", sagte dann am Mittwoch auch Renate Köcher. Als Chefin des renommierten Instituts für Demoskopie Allensbach ist sie so etwas wie ein wandelndes Stimmungsbarometer. Zwar gebe es eine Polarisierung, sie sei aber nur in Minderheiten zu finden. Vom "kranken" Klima in den USA, so Köcher, sei Deutschland wirtschaftlich und politisch "meilenweit" entfernt.
Also alles nicht so schlimm? Mitnichten, denn Köcher stellte in Berlin eine alarmierende Studie zur Stimmung der 30- bis 59-Jährigen vor. Trotz der seit vielen Jahren wirtschaftlich guten Lage habe sich das Vertrauen in die politische Stabilität seit 2015 halbiert. Für noch 27 Prozent der rund 1000 Befragten ist Politik ein Thema, das ihnen Stabilität gibt. Die Politik ist also zum Sorgenkind geworden.
Die wahren Ängste und Sorgen der Deutschen
Eine Erklärung für die "Alternative für Deutschland" (AfD) wollte Köcher damit aber nicht verbinden. Aktuell misst ihr Institut eine Zustimmung von 15 Prozent für die deutschen Rechtspopulisten. Die AfD lebe noch immer zum einen von ihrem "Potenzmittel", dem Flüchtlingsthema, so Köcher. Zum anderen sei die Partei ein Sammelbecken der Unzufriedenen geworden, was sich im kritischen Verhältnis zum Staat und Institutionen zeige. Als relevanter für die Gesamtstimmung aber beschrieb Köcher etwas anderes.
In Deutschland dominiere das Ideal des gesellschaftlichen Zusammenhalts. Selbst die Oberschicht wolle einen starken Sozialstaat und keine verfestigte Unterschicht. Die Bereitschaft zur Umverteilung sei hoch. Hier lauerten die wahren Ängste und Sorgen der Deutschen, so die Botschaft der Demoskopin. Denn zwei Drittel der Befragten hätten laut Studie die Abnahme des gesellschaftlichen Zusammenhalts kritisiert. Außerdem vermissten viele einen ausreichenden Respekt vor Regeln, sähen zunehmende "Vorbehalte gegenüber Ausländern", kritisierten Rücksichtslosigkeit und Materialismus. Nur ein Drittel sage: Wir leben in glücklichen Zeiten. Deutschland fröstele, beschrieb es Köcher.
Die Deutschen streben nach Gemeinschaft, Ausgleich und Miteinander im Alltag, so lassen sich die Ergebnisse beider Studien zusammenfassen. Von gesellschaftlicher Polarisierung halten sie also eigentlich nicht viel - und sehen die Politik in der Pflicht, das zu verhindern.