Vorurteile gegen Sinti und Roma sind in Deutschland weit verbreitet. Um dies zu ändern, arbeitet eine Kommission für die Bundesregierung Handlungsempfehlungen aus. Doch der Kampf gegen Antiziganismus ist zäh.
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Sinti und Roma sind in Deutschland bereits seit Hunderten Jahren beheimatet. Dennoch werden sie bis heute oftmals nicht als Teil der Gesellschaft wahrgenommen, erfahren auf vielen Ebenen Diskriminierung und Ausgrenzung. Mit dieser Problematik beschäftigt sich die von der Bundesregierung eingesetzte Kommission Antiziganismus. Die elfköpfige Expertengruppe hat Ende März ihre Arbeit aufgenommen. Bis spätestens Anfang 2021 soll sie einen Bericht mit Handlungsempfehlungen liefern, um Rassismus entgegenzuwirken, der sich gegen Roma, Sinti, Fahrende, Jenische und andere Personen richtet, die als "Zigeuner" stigmatisiert werden.
Ein Mitglied der Kommission ist Frank Reuter von der Forschungsstelle Antiziganismus an der Universität Heidelberg: "Sowohl gesamtgesellschaftlich als auch in der Wissenschaft wurde das Thema lange vernachlässigt", sagt der Historiker. Allein bis der Völkermord der Nationalsozialisten an den Sinti und Roma offiziell als solcher anerkannt wurde, habe es Jahrzehnte gedauert. "Sie hatten anders als beispielsweise die Juden einfach niemanden, der sich für sie starkmacht."
Lange verdrängt: Völkermord an Sinti und Roma
Seit 600 Jahren leben Sinti und Roma in Europa. Im Machtbereich der deutschen Nationalsozialisten wurden sie ausgegrenzt, zwangssterilisiert und ermordet. Nach 1945 wurde ihre Verfolgung über Jahrzehnte bestritten.
Bild: Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma
Im Einsatz für Volk und Vaterland
Viele deutsche Sinti hatten nicht nur im Ersten Weltkrieg für das Kaiserreich gedient, sie kämpften auch ab 1939 in der Wehrmacht. 1941 ordnete das Oberkommando "aus rassenpolitischen Gründen" die "Entlassung von Zigeunern und Zigeunermischlingen aus dem aktiven Wehrdienst" an. Alfons Lampert wurde danach gemeinsam mit seiner Frau Else nach Auschwitz deportiert, wo beide starben.
Bild: Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma
Vermessen und erfasst von Rassenforschern
Die Krankenschwester Eva Justin lernte die Sprache Romanes, um das Vertrauen der Minderheit zu gewinnen. Im Gefolge des Rassenforschers Robert Ritter zog sie quer durchs Land, um Menschen zu vermessen und lückenlos als "Zigeuner" und "Zigeunermischlinge" zu registrieren - die Grundlage für den Völkermord. Man erforschte Verwandtschaftsverhältnisse und wertete die Taufregister der Kirchen aus.
Bild: Bundesarchiv
Eingesperrt und entrechtet
Wie hier in Ravensburg im Südwesten Deutschlands wurden Sinti und Roma-Familien Ende der 1930er Jahre vielerorts in Lagern am Stadtrand eingesperrt, umzäunt mit Stacheldraht, kontrolliert von Hundeführern. Niemand durfte seinen Aufenthaltsort verlassen. Haustiere wurden getötet. Die Menschen mussten Zwangsarbeit leisten. Viele wurden zwangssterilisiert.
Bild: Stadtarchiv Ravensburg
Deportation in aller Öffentlichkeit
Im Mai 1940 wurden Sinti- und Roma-Familien aus Südwestdeutschland durch die Straßen von Asperg zum Bahnhof gebracht und von dort direkt in das besetzte Polen deportiert. Im Kripo-Bericht hieß es: "Der Abtransport ging glatt vonstatten." Für die meisten Deportierten wurde es eine Fahrt in den Tod, sie starben in Arbeitslagern und jüdischen Ghettos.
Bild: Bundesarchiv
Von der Schulbank nach Auschwitz
Karl Kling auf einem Klassenfoto der Volksschule in Karlsruhe Ende der 1930er Jahre. Im Frühjahr 1943 wurde er während des Unterrichts abgeholt und ins "Zigeunerlager" nach Auschwitz-Birkenau deportiert, wo er dem Völkermord zum Opfer fiel. Überlebende berichteten, dass sie schon vor der Deportation in den Schulen ausgegrenzt und teilweise gar nicht mehr unterrichtet wurden.
Die Verantwortung eines Bürgermeisters
Der Bürgermeister von Herbolzheim beantragte 1942 die "Wegnahme" der Sinti-Familie Spindler. 16 Familienmitglieder wurden nach Auschwitz deportiert, zwei überlebten. 60 Jahre später klärte Bürgermeister Ernst Schilling die Ereignisse auf. Die Stadt erinnert seitdem an die Ermordeten. Schilling sagt, ihm sei bewusst geworden, wie viel Verantwortung ein Bürgermeister für das Leben von Menschen habe.
Bild: DW/A. Grunau
Mord und Verfolgung quer durch Europa
Wo immer das nationalsozialistische Deutschland die Herrschaft hatte, wurde die Minderheit verfolgt. Sinti und Roma wurden in "Zigeunerlager" oder mit Juden in Ghettos wie Warschau eingeschlossen, in "Vernichtungslager" deportiert und ermordet. Man schätzt, dass bis zu 500.000 Menschen durch Erschießungen, Gas, Verhungern, Krankheiten, medizinische Experimente oder andere Gewaltakte starben.
Lüge am Eingangstor
"Ich kann arbeiten", dachte der 9-jährige Hugo Höllenreiner aus München, als er 1943 wie Tausende andere mit der Familie im Viehwaggon nach Auschwitz kam. Der Schriftzug "Arbeit macht frei" machte Hoffnung, erinnerte er sich später. Er wollte seinem Vater beim Arbeiten helfen: "Dann kommen wir schon wieder frei." Nur etwa jeder Zehnte der nach Auschwitz Deportierten überlebte.
Bild: DW/A. Grunau
Die Schwarze Wand
Namentlich bekannt sind 54 Sinti und Roma, die 1943 vor der Schwarzen Wand im Hof des Stammlagers Auschwitz zwischen Block 10 und dem Todesblock 11 von SS-Leuten hingerichtet wurden - darunter auch Jugendliche. Im Buch "Auschwitz. Die Geschichte des Vernichtungslagers" schreibt Susanne Willems: "Johann Betschker ermordeten sie am 29. Juli 1943, an seinem 16. Geburtstag."
Bild: DW/A. Grunau
"Die Lagerstraße war übersät mit Toten"
"In einer Baracke, die vielleicht Platz für 200 Menschen gehabt hätte, waren oft 800 und mehr untergebracht", erinnerte sich Elisabeth Guttenberger, "die Hölle war das." 40 Baracken gab es im "Zigeunerlager" im Abschnitt BIIe, ein Block war "die Toilette für das ganze Lager". Franz Rosenbach, damals 15 und Zwangsarbeiter, erinnerte sich: "Die Lagerstraße von Birkenau war übersät mit Toten."
Bild: Staatliches Museum Auschwitz-Birkenau
"Kopf einer Leiche (12-jähriges Kind)"
SS-Arzt Josef Mengele war Lagerarzt im Abschnitt BIIe. Er und seine Kollegen quälten zahllose Häftlinge. Sie verstümmelten Kinder, infizierten sie mit Krankheiten, forschten an Zwillingspaaren und ermordeten sie mit Spritzen ins Herz. Augen, Organe und ganze Körperteile schickte Mengele nach Berlin. Im Juni 1944 versandte er den Kopf eines 12-jährigen Kindes. Er stand nie vor Gericht.
Bild: Staatliches Museum Auschwitz-Birkenau
Asche der Ermordeten
Die Häftlinge litten an Hunger, Durst, Kälte, Krankheiten und brutaler Gewalt. Kleine Kinder und alte Menschen starben zuerst. Kranke wurden in den Gaskammern ermordet. Die Leichen wurden verbrannt. Im "Zigeunerlager" in Auschwitz-Birkenau konnte man den Rauch der Krematorien sehen und riechen. Die Asche der Toten wurde auch in solchen Teichen versenkt, wo Angehörige heute Blumen niederlegen.
Bild: DW/A. Grunau
Befreiung - zu spät für Sinti und Roma
Als die Rote Armee am 27. Januar 1945 Auschwitz erreichte, traf sie dort auch auf gefangene Kinder. Für Sinti und Roma kamen die Befreier zu spät. Schon in der Nacht auf den 3. August 1944 trieb die Lagerleitung die verbliebenen Menschen aus dem "Zigeunerlager" in die Gaskammern. Zwei Kinder kamen am Morgen nach der Mordnacht weinend aus den Baracken, sie wurden "nachgeliefert".
Bild: DW/A. Grunau
Aus rassischen Gründen verfolgt
Nach der Befreiung aus den Konzentrationslagern stellten alliierte oder deutsche Stellen Überlebenden Bescheinigungen über rassische Verfolgung und die KZ-Haft aus. Später mussten sich viele anhören, sie seien nur als Kriminelle verfolgt worden, Anträge auf Entschädigungen wurden abgelehnt. Hildegard Reinhardt hat in Auschwitz ihre drei kleinen Töchter verloren.
Bild: Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma
Hungerstreik gegen Kriminalisierung
Anfang der 1980er Jahre wussten sich die Vertreter der Sinti und Roma keinen Rat mehr. Mit einem Hungerstreik auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers Dachau kämpften KZ-Überlebende gegen die Kriminalisierung der Minderheit und für die Anerkennung der NS-Verfolgung. 1982 stellte Bundeskanzler Helmut Schmidt offiziell fest, dass Sinti und Roma Opfer eines Völkermords waren.
Bild: picture-alliance/dpa
Ort des Gedenkens in Berlin
In der Nähe des Bundestags entstand 2012 im Berliner Tiergarten die Gedenkstätte für die in der Zeit des Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma. Verbände rufen besonders am Welt-Roma-Tag zum Kampf gegen Antiziganismus auf. Diese Feindseligkeit der Mehrheitsgesellschaft erleben auch heute noch viele Mitglieder der Minderheit in Deutschland und Europa.
Bild: picture-alliance/dpa/K. Nietfeld
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Reuter hat vor seiner jetzigen Tätigkeit lange am Dokumentationszentrum Sinti und Roma in Heidelberg gearbeitet. Die intensiven Begegnungen und Gespräche, die er dort mit Überlebenden des Völkermords hatte, sind einer der Hauptgründe, warum er sich in der Expertenkommission engagiert: "Diese Arbeit war sowohl wissenschaftlich als auch menschlich sehr einprägsam und hat mir vor Augen geführt, welche verheerenden Folgen Antiziganismus haben kann."
"Der Alltagsrassismus ist sehr frustrierend"
Unter den Experten im Gremium seien auch Angehörige der Sinti und Roma selbst, berichtet Reuter. Eine Information, die in der offiziellen Presseerklärung des Bundesinnenministeriums zur Gründung der Kommission Antiziganismus nicht auftaucht. Dieser Punkt sei aber nicht unerheblich, findet die Buchautorin Bluma Meinhardt: "Ich begrüße die Initiative der Bundesregierung, aber bitte, bitte redet nicht nur über uns, sondern auch mit uns."
Die 57-jährige Sinteza stammt aus Wuppertal, lebt jedoch schon lange in den Niederlanden, wo sie sich als Angehörige der Sinti und Roma deutlich weniger diskriminiert fühlt: "Wenn ich in Deutschland in den Supermarkt gehe, bemerke ich die misstrauischen Blicke nach dem Motto 'Klaut sie?'. Dieser Alltagsrassismus ist sehr frustrierend und wohl auch ein Grund, warum sich viele isolieren."
Ein weiteres Beispiel für die Diskriminierung von Roma und Sinti ist der Fall einer wohnungssuchenden Sinteza, über den mehrere Medien kürzlich berichteten. Demnach wurde die Frau aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit von einer Wohnungsbaugesellschaft als Anwärterin abgelehnt, wie aus einem internen Vermerk des Unternehmens hervorgeht: "Leichter Zigeunereinschlag; besser nichts anbieten!"
Auf das Bild der Armutsmigranten reduziert
Das Zerrbild über Sinti und Roma, das sich über Jahrzehnte in den Köpfen der Mehrheitsgesellschaft festgesetzt hat, lautet: Armut, Arbeitslosigkeit, Kriminalität. Eine deutschlandweite Studie von 2018 zeigt, dass derartige Vorurteile weit verbreitet sind. So stimmen beispielsweise mehr als 60 Prozent der rund 2500 Befragten der Aussage zu, Sinti und Roma würden "zur Kriminalität neigen".
Dabei tut das Klischee vom Leben in prekären Verhältnissen Sinti und Roma gleich zweifach unrecht. Zum einen schwingt dabei oft der Gedanke mit, dass die betreffenden Personen an ihrer Situation selbst schuld sind. Dabei ist die Lage, in der sich viele Sinti und Roma heute befinden, ja gerade auch eine Folge ihrer Chancenlosigkeit und Diskriminierung.
So erzählt Bluma Meinhardt beispielsweise, ihr Vater habe als Sinto nicht zur Schule gehen dürfen und sei folglich nie alphabetisiert worden. Deshalb habe er es - als ehemaliger Insasse mehrerer Konzentrationslager - nach dem Zweiten Weltkrieg auch lange nicht geschafft, Entschädigungszahlungen geltend zu machen - abgesehen von allen anderen Problemen, die ein Leben als Analphabet und traumatisierter Mensch mit sich bringt.
Kommission hat Mammutaufgabe vor sich
Zum anderen leben längst nicht alle Sinti und Roma so, wie es oft dargestellt wird. "Es gibt in Deutschland so unterschiedliche Gruppen von Sinti und Roma, sowohl unter den Alteingesessenen als auch unter den Zugewanderten. Man kann da keineswegs von einer homogenen Lebensrealität sprechen", so Kommissionsmitglied Reuter. "Wenn eine Bankangestellte oder eine Beamtin an Ihnen vorbeigeht, würden sie niemals denken, die Person könnte eine Sinteza oder Romni sein. Sie ist es aber vielleicht - und behält aus guten Gründen ihre Identität für sich."
Trotz aller Verbesserungen der letzten Jahre gibt es dem Heidelberger Historiker zufolge immer noch eine wirkungsmächtige antiziganistische Vorurteilsstruktur, die nicht nur in den Köpfen der Einzelnen, sondern auch im institutionellen Handeln verankert ist. Diese zu analysieren und dann Maßnahmen - etwa im Bereich Bildung - herauszuarbeiten, um sie aufzubrechen, das ist die Mammutaufgabe der Kommission Antiziganismus.
Dass die Bundesregierung das Expertengremium zu diesem Zweck eingesetzt hat, zeigt aus Sicht von Frank Reuter, dass die Politik das Thema mittlerweile ernst nimmt: "Innenminister Seehofer hat in aller Klarheit zum Ausdruck gebracht, dass wir diesen Bericht nicht für den Papierkorb schreiben, sondern dass er in politisches Handeln münden soll."