"Neues Kapitel der Geschichte in Tunesien"
17. Januar 2011Die katholische französische Tageszeitung La Croix schreibt über die Lage in Tunesien:
Es hat die Selbstverbrennung eines jungen fahrenden Händlers vor genau einem Monat erfordert, damit Tunesien ein neues Kapitel seiner Geschichte aufschlägt. Man denkt an den Tschechoslowaken Jan Palach, der sich 1969 in Prag verbrannt hat, um gegen die Invasion seines Landes durch russische Panzer zu protestieren. Man denkt auch nach 20 Jahren an die tollkühne Tat eines jungen Chinesen, der sich den Panzern entgegenstellte, die die Proteste auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking auflösen wollten: Dies sind Menschen und Schicksale, die auf lange Zeit in Erinnerung bleiben und vielleicht die Geschichte prägen werden. Mögen die Tunesier mit Hilfe der internationalen Gemeinschaft der Verzweiflung des fahrenden Händlers Mohammed Bouazizi einen Sinn geben.
Mit den politischen Umbrüchen setzt sich die konservative Pariser Zeitung Le Figaro auseinander:
Man muss die Zurückhaltung des tunesischen Militärs in diesen historischen Tagen anerkennen. Die Versuche der Destabilisierung durch politische Provokateure müssen eingedämmt werden und die Wirtschaft muss in Gang gehalten werden. Langsam organisiert sich die Bevölkerung und nimmt ihr Schicksal in die Hand. Gleichzeitig zeichnet sich der politische Übergang ab. Von der Bildung einer Regierung der nationalen Einheit, die so repräsentativ wie möglich sein sollte, hängt die Organisation allgemeiner Wahlen ab, die bald stattfinden sollten. Angesichts der bisherigen Politik ist Frankreich schlecht beraten, Lehren zu erteilen oder einen Fahrplan zu diktieren. Doch Paris hat schnell reagiert und sich vom entmachteten Präsidenten und seinen Anhängern klar distanziert.
Dass der Sturz Ben Alis für einen politischen Neuanfang ausreiche bezweifelt die in Zürich erscheinende Neue Zürcher Zeitung:
Ben Alis Abgang erfreut gewiss all jene Tunesier, die sich nach Demokratie und einem freieren, weniger vom Staat kontrollierten Leben sehnen. Er ist aber nur eine notwendige, keine hinreichende Bedingung für einen politischen Neuanfang. Nach wie vor beherrschen Ben Alis Gefolgsleute und Anhänger die meisten staatlichen Institutionen. Ihr bisheriges Betragen deutet nicht darauf hin, dass sie nach der Flucht ihres Beschützers ihre Machtpositionen freiwillig aufgeben. Der neue Präsident Fouad Mebazza hat zwar ein Bekenntnis zum politischen Pluralismus abgelegt. Aber seine bisherige Karriere weist ihn als Gefolgsmann des gestürzten Präsidenten aus. Dies weckt Zweifel an der Bereitschaft Mebazzas, seinen Worten auch Taten folgen zu lassen und gänzlich freie Wahlen durchzuführen.
Die britische linksliberale Zeitung Independent beschäftigt sich mit den Auswirkungen der Ereignisse in Tunesien auf benachbarte Länder der Region:
Tunesien gehört zwar zu den kleinsten Ländern Nordafrikas, doch der Geist der Revolte, der dort entstand, könnte auf das übrige Nordafrika übergreifen. Fast jedes Land ist mit ähnlichen Übeln geplagt: Korrupte und unterdrückende Regimes, die auf die Bedürfnisse der Bürger nicht reagieren, scharfe soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten, hohe Nahrungsmittelpreise und eine große jugendliche Bevölkerung mit hoher Arbeitslosigkeit. Die Schlussfolgerung, dass in Nordafrika endlich ein Wandel eingeleitet wurde, oder dass sich die Dinge nun zum Besseren wenden, wäre verfrüht. Es kann noch mehr Gewalt ausbrechen, es kann zu Unruhen und zu Militäraktionen kommen, bevor sich die Lage bessert. Der Westen wird als Beobachter der Szenerie starke Nerven benötigen.
Einen Wandel in Tunesien hält die Leipziger Volkszeitung für möglich. Sie sieht den Aufstand der tunesischen Bevölkerung als Chance:
Die Revolution der Straße gegen das Betonregime in Tunis stößt aber nicht nur in Tunesien die Chance für eine neue Epoche an. Das Echo vom Ende des Wüstendiktators Ben Ali hallt durch die ganze nordafrikanische Welt. Millionen junger Araber von Ägypten bis Marokko feiern den tunesischen Bürgeraufstand als ermutigendes Beispiel. Heftige Debatten bei Twitter und Facebook, wichtige soziale Ventile der frustrierten jungen Generation in der Region, sprechen Bände.
Die Berliner Zeitung äußert sich zu den Zukunftsperspektiven Tunesiens verhalten:
Der neue Übergangspräsident Foued Mebazaa hat eine Koalitionsregierung und Wahlen innerhalb von zwei Monaten versprochen. Das ist gut, aber reicht nicht. Es muss nun ein nationaler Dialog aller gesellschaftlichen Kräfte beginnen, die sich auf die demokratischen Prinzipien verpflichten - dazu gehören neben Parteien auch NGOs, Gewerkschaften, Industrieverbände, Menschenrechtsorganisationen. (...) Es geht darum, eine demokratisch legitimierte Macht aufzubauen und die um den Clan von Ben Ali entstandene Wirtschaftsmafia zu zerschlagen. Es gibt viele Leute, die dabei vieles zu verlieren haben. Sie schüren in diesen Tagen Gewalt und Angst vor dem Chaos. Die Angst der anderen aber war schon immer die stärkste Waffe der Despoten.
Zusammengestellt von: Katrin Ogunsade (afp, dpa)
Redaktion: Klaudia Pape