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Neues Leben für eine Synagoge in Polen

Jacek Lepiarz (aus Orla)
29. Juli 2025

In Orla, einst einem typischen Schtetl in Ostpolen, gibt es heute keine Juden mehr. Hat die dortige Synagoge trotzdem eine Überlebenschance? Freiwillige aus dem Dorf bewahren das Baudenkmal vor dem Verfall.

Ein imposantes Gebäude mit einem Haupt- und einem Seiteneingang mit einem Windfang. Die Hauptfassade weist einen dreieckigen Giebel mit einem Fries auf, der von zwei Säulen getragen wird. Über der schmalen Eingangsöffnung befand sich früher eine hebräische Inschrift: „Wie ehrfurchtgebietend ist dieser Ort! Hier ist nichts Geringeres als das Haus Gottes.“ (Gen 28,17)
Die Synagoge von Orla. Über der Tür befand sich früher eine hebräische InschriftBild: Jacek Lepiarz/DW

Orla ist ein verschlafenes Dorf im Osten Polens. Die Grenze nach Belarus ist nur rund 20 Kilometer entfernt. Im Zentrum der Ortschaft, in der heute nur noch etwa 400 Menschen leben, steht ein prachtvolles Bauwerk: die Synagoge. Umgeben von einfachen Holzhäusern wirkt das riesige Gebetshaus auf den ersten Blick wie ein Fremdkörper aus einer anderen Welt. Ein massives Vorhängeschloss samt Kette an der Eingangstür verwehrt den Zugang zu dem verwaisten Bauwerk.

Am vergangenen Wochenende (25.-27.07.2025) aber erwachte die Synagoge zu neuem Leben. In den historischen Räumlichkeiten fand das Festival der jüdischen Kultur unter dem Motto "Schalom - trotz allem" statt. Auf dem Programm: eine Theater-Aufführung, ein Klezmer-Konzert, Diskussionen über das Verhältnis zwischen Juden und Christen, traditionelle jüdische Tänze und koscheres Kochen sowie eine Fotoausstellung mit Bildern aus Jerusalem. Zwischen 50 und 100 Besucher, einige sogar aus der Hauptstadt Warschau, fanden den Weg an den abgelegenen Ort.

Szene aus der Theateraufführung 'Sztetl Krasnik' unter der Regie von Monika Nitkiewicz-Mikrut, aufgeführt vom Teatr Notoco Senior aus Krasnik.Bild: Beata Horodecka

"Ich bin überglücklich, dass alles gut geklappt hat", zieht Dorfvorsteher Marek Chmielewski im Gespräch mit der DW Bilanz. Der 61-jährige Landwirt gilt als Spiritus Rector des Festivals. Der Mann, der der ethnischen Minderheit der christlich-orthodoxen Ruthenen angehört, versteht sich als "Hüter der Erinnerung" an die jüdische Vergangenheit des Ortes, in dem seine Familie seit Generationen lebt.

"Ohne Juden ist Orlas Vergangenheit nicht zu verstehen. Juden haben jahrhundertelang diesen Ort entscheidend mitgeprägt. Deshalb will ich die Erinnerung an sie wachhalten. Und die Synagoge ist das letzte materielle Zeugnis dieser Vergangenheit", erläutert er seinen Einsatz für den Erhalt des Gebetshauses.

Erinnerung an jüdische Vergangenheit wachhalten

Schon vor Jahren hat Chmielewski eine kleine Gruppe von Freiwilligen um sich geschart. Zu seinem Team gehören der Dorflehrer Dariusz Horodecki sowie Filmfan Andrzej Puchalski. Beide sind aus anderen Landesteilen hierher gezogen. Die alteingesessenen Einwohner Orlas dagegen lassen sich nicht so einfach für jüdische Themen begeistern. "Die meisten Einwohner schauen skeptisch zu, werfen uns aber keine Knüppel zwischen die Beine", sagt Horodecki.

Andrzej Puchalski, Marek Chmielewski und Dariusz Horodecki (v.l.n.r.) setzen sich für den Erhalt der Synagoge und die Erinnerung an die polnischen Juden einBild: Jacek Lepiarz/DW

Alles begann mit den Gedenkmärschen, die seit etwa zehn Jahren an die Ermordung der Orlaer Juden durch die deutschen Besatzer erinnern sollten. Es folgte eine Aktion, bei der alte Fotos gesammelt und die Erinnerungen der älteren Einwohner aufgezeichnet wurden. Ein bis heute gefragter Fotoband krönte die mehrjährigen Recherchen. "Dann kamen wir auf die Idee, die alte Synagoge als Treffpunkt und Ausstellungsort zu nutzen", erinnert sich Horodecki.

Die mehrmals umgebaute Synagoge stammt ursprünglich aus dem 17. Jahrhundert. Damals erlebte Orla seine Glanzzeit als Privatstadt im Besitz des einflussreichen Adelsgeschlechts Radziwill. Der Calvinist Krzysztof Radziwill erlaubte den Juden, sich auf seinem Land niederzulassen und Handel zu treiben.

Ein Schtetl in Ostpolen

Die Stadt, die damals an einer wichtigen Handelsroute zwischen West und Ost lag, entwickelte sich zu einem starken Zentrum jüdischen Lebens. Bei der Volkszählung 1921 bekannten sich mehr als drei Viertel der Einwohner zum jüdischen Glauben. Orthodoxe und katholische Christen waren in der Minderheit.

Die historischen Quellen sprechen vom friedlichen Miteinander verschiedener Religionen und Ethnien. Als ein nationalistischer Schlägertrupp 1937 jüdische Geschäfte in Orla stürmte, wehrten Juden und Christen den Überfall Schulter an Schulter gemeinsam ab. "Die Angreifer kamen nie wieder", bemerkt nicht ohne Stolz Chmielewski.

Die Synagoge von Orla im Jahr 1935, damals umrahmt von zwei hölzernen BethäusernBild: D. Duksin/Cyfrowego Archiwum Tradycji Lokalnej Fundacji EDM

Vor dem Zweiten Weltkrieg lebten mehr als drei Millionen Juden in Polen. Die meisten von ihnen wurden von den deutschen Nationalsozialisten in den Vernichtungslagern ermordet. Auch die Juden von Orla fielen den SS-Schergen zum Opfer. Im November 1942 wurden sie in den Gaskammern von Treblinka ermordet.

Nach dem Holocaust - Synagogen ohne Juden

Nach dem Krieg und dem Holocaust - der Vernichtung der europäischen Juden durch Nazi-Deutschland - blieben in Polen tausende jüdische Objekte ohne Besitzer: Synagogen, Friedhöfe, Schulgebäude und Ritualbäder (Mikwen). Der polnische Staat enteignete das Eigentum der Gemeinden. Die Gebetshäuser dienten dann meistens als Lagerräume lokaler Betriebe oder verfielen. Die Grabsteine wurden zur Befestigung der Straßen und Häuser verwendet, die Friedhöfe als Weiden genutzt oder zu Parkanlagen umfunktioniert. Die kommunistischen Behörden wollten, dass die Erinnerung an die Juden verschwindet. 

Ein Gedenkstein und ein siebenarmiger Leuchter erinnern an den Friedhof von OrlaBild: Jacek Lepiarz/DW

Die Synagoge von Orla erlitt ein ähnliches Schicksal. Die deutschen Besatzer nutzten die Räumlichkeiten als Lagerraum für geraubtes jüdisches Eigentum. Nach dem Krieg wurden im verlassenen Gebetshaus künstliche Düngemittel und Baumaterialien gelagert. Das wertvolle Bauwerk verfiel immer mehr, auf dem beschädigten Dach wuchsen die Bäume, die Wandmalereien verschwanden. Mitte der 1980er Jahre gelang es wenigstens, das Dach abzudichten.

Stiftung kümmert sich um jüdisches Erbe

Erst nach der demokratischen Wende von 1989 in Polen wurde das Verhältnis zwischen dem Staat und den jüdischen Gemeinden neu geregelt. Ein 1997 beschlossenes Gesetz schuf die Grundlage für die Rückgabe des jüdischen Eigentums. Seit 2002 kümmert sich die Stiftung zum Erhalt des jüdischen Erbes (FODZ) darum, die im Namen der nach 1989 neu gegründeten Gemeinden handelt und die zurückgegebenen Immobilien verwaltet. Sie besitzt aktuell 21 Synagogen und 153 Friedhöfe. Das ist aber ein Tropfen auf den heißen Stein, denn registriert sind mehr als 1200 jüdische Grabstätten. Die meisten Objekte befinden sich in desolatem Zustand, das Geld für Erhaltung und Renovierung fehlt. Nur einige wenige Objekte konnten in voller Pracht wiederhergestellt werden.

Die Synagoge von Orla im Jahr 1974 vor ihrer Restaurierung in den 1980er JahrenBild: J. Hościłowicz

Der Ex-Direktor der FODZ-Stiftung, Piotr Puchta, hält die Synagoge in Orla für ein Objekt mit Potenzial. Vor seinem Ausscheiden aus dem Amt am 1. Juli 2025 ließ er eine Studie in Auftrag geben, die ausloten sollte, ob dort ein "Zentrum kreativer Arbeit" eingerichtet werden könnte. Puchta hofft dabei auf die Kooperation mit den Hochschulen in Bialystok und Posen. Allein die Kosten der Renovierung werden auf mehr als 10 Millionen Zloty (rund 2,4 Millionen Euro) geschätzt.

"Wir suchen lokale Partner, die uns helfen, die erneuerten Objekte finanziell mitzutragen", sagt Krzysztof Bielawski von FODZ. Aus seiner Sicht sind Menschen wie Chmielewski ein Glücksfall. "Die Stiftung vertraute uns und gab uns freie Hand. Seit 2019 läuft die Zusammenarbeit perfekt", lobt auch Chmielewski den Partner.

Breites Netz von Aktivisten

Die Freiwilligen aus Orla sind dabei kein Einzelfall. Seit 1998 baut die Stiftung Forum des Dialogs ein Netz von Personen auf, die sich in ihren Gemeinden um die Erinnerung an die jüdische Vergangenheit kümmern. "Wir organisieren seit 2013 Begegnungen lokaler Aktivisten, damit sie sich kennenlernen und sehen, dass sie nicht alleine sind", sagt Stiftungsdirektorin Olga Kaczmarek. Zurzeit beteiligen sich 217 Personen aus ganz Polen an der Netzwerksarbeit. Auch Chmielewski ist dabei.

In diesem Jahr wurde Orla zu einem der sieben am meisten bedrohten Sehenswürdigkeiten und Kulturgütern in Europa erklärt. Auf der Liste, die von Europa Nostra und dem Institut der Europäischen Investitionsbank zusammengestellt wurde, befinden sich unter anderem auch das Schloss im dänischem Nyborg und die Victoria Tower Gardens in London.

"Dank dieser Nominierung hat die internationale Presse Orla bemerkt. Ich hoffe, dass danach konkrete Angebote zur Zusammenarbeit folgen, vielleicht auch aus Deutschland", schwärmt Chmielewski. "Ich möchte, dass dieser Ort lebt, dass er Menschen verschiedener Nationalitäten und Religionen anzieht und ihnen als Treffpunkt dient", betont der Dorfvorsteher von Orla.

Jacek Lepiarz Journalist in der polnischen Redaktion mit Schwerpunkt auf deutsch-polnischen Themen.
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