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Neues Parlament Kasachstans überraschend zur ersten Sitzung einberufen

3. November 2004

– Beobachtern zufolge fürchtet der kasachische Präsident Nursultan Nasarbajew um seine Macht

Bonn, 2.11.2004, DW-RADIO / Russisch

Die Parlamentswahlen in Kasachstan, die Ende September stattgefunden haben, bestimmen weiterhin das politische Klima im Lande. Nicht nur die Opposition behauptet, bei dem Wahlgang sei es zu groben Verstößen gekommen. Dies verlautete auch aus den Reihen der sogenannten "Partei der Macht". Unter anderem erklärte dies der jetzt schon ehemalige Vorsitzende des Unterhauses des kasachischen Parlaments, Scharmachan Tujakbaj. Experten sprechen von einer möglichen Krise, die im Umfeld des Präsidenten Nursultan Nasarbajew entstanden ist. Beschlüsse der Staatsführung, die unter anderen Bedingungen möglicherweise gelassen aufgenommen worden wären, werden derzeit vor dem Hintergrund einer Krise erörtert. Dazu gehört unter anderem der überraschende Entschluss des kasachischen Präsidenten, das neue Parlament bereits Anfang November einzuberufen.

Am Nachmittag des 1. November unterzeichnete der kasachische Präsident Nasarbajew einen Erlass, gemäß dem das neugewählte Parlament am 3. November zu seiner ersten Sitzung einberufen wird, was für die jetzigen Abgeordneten völlig überraschend kam. Der ehemalige Parlamentsvorsitzende Tujakbaj sagte, niemand habe gedacht, dass das Parlament der zweiten Legislaturperiode so plötzlich seine Arbeit beenden werde, weil gemäß dem Mandat die Amtszeit der Abgeordneten erst am 1. Dezember 2004 enden würde.

Tujakbaj sagte: "Am Montag erörterten wir eines der wichtigsten Finanzdokumente des Landes – den Staatshaushalt. Bis zur zweiten Lesung blieben drei Tage und dann kam es wie zu einer Revolution! Das neue Parlament hätte man auch am Montag einberufen können, damit es den Haushalt auch in erster Lesung erörtert."

Man muss erwähnen, dass Nasarbajew einen formalen Anlass hatte, das Parlament der zweiten Legislaturperiode vorzeitig aufzulösen. Gemäß Artikel 59, Punkt 2 der Verfassung Kasachstans muss das neue Parlament seine Arbeit spätestens 30 Tage nach Bekanntgabe des Wahlergebnisses aufnehmen. Bekanntlich teilte die Zentrale Wahlkommission am 3. Oktober die vorläufigen Ergebnisse der Parlamentswahlen mit. Trotzdem sind zahlreiche Parlamentsabgeordnete der zweiten Legislaturperiode der Ansicht, dass Nasarbajew sie noch bis zum Ende ihrer Amtszeit hätte arbeiten lassen können. Der Abgeordnete Wladislaw Kosarjow sagte in diesem Zusammenhang der Deutschen Welle:

"Man muss verstehen, dass die Abgeordneten, die das Parlament verlassen, zahlreiche Anfragen und Gesetzesvorlagen hatten. Sie wollten tatsächlich ihre Fragen noch klären. Das hätte zu starken Spannungen in den Beziehungen zur Regierung geführt. Der Präsident ging vor, wie es ihm passt."

Der politische Berater von Präsident Nasarbajew, Ermuchamet Ertysbajew, sagte der Deutschen Welle, einer der Hauptgründe für die vorzeitige Auflösung des Parlaments der zweiten Legislaturperiode sei die Erklärung des Parlamentsvorsitzenden und stellvertretenden Vorsitzenden der Präsidentenpartei "Otan", Scharmachan Tujakbaj, vom 14. Oktober gewesen, der das Ergebnis der Parlamentswahlen scharf kritisiert habe:

"Können Sie sich vorstellen, dass, wenn es diese aufsehenerregende Erklärung Tujakbajs nicht gegeben hätte, es zu dieser Situation gekommen wäre, wo das neue Parlament einen Monat früher seine Arbeit aufnimmt? Natürlich nicht! Das ist doch klar! Das ist aber nur eine oberflächliche Antwort!"

Tujakbajs Erklärung sei nur der Anlass für die vorzeitige Auflösung des Parlaments gewesen. Der wahre Grund sei die Tatsache, dass Nasarbajew Angst um seine Macht habe, sagte der Parlamentsabgeordnete Serikbolsyn Abdildin. Der oppositionelle Abgeordnete betonte, der kasachische Präsident löse unbequeme Strukturen immer dann auf, wenn irgendetwas seine Alleinherrschaft bedrohe. So sei es 1993 mit der Auflösung des Obersten Rates der 12. Legislaturperiode und 1995 mit dem Obersten Rat der 13. Legislaturperiode gewesen, aber auch mit zahlreichen kasachischen Regierungen. Abdildin sagte: "Formal gibt es in unserem Land eine Verfassung und auch Gesetze, sie funktionieren aber nicht. Alles, was die Innenpolitik des Landes berührt, hängt von einem Menschen ab."

Nasarbajew müsse noch vor Beginn der Gerichtsverhandlungen in den USA im "Kasachgate-Fall" seine Macht festigen, glaubt der ehemalige Leiter der Katastrophenschutz-Behörde, Samanbek Nurkadilow, der noch bis vor kurzem zu Nasarbajews Umfeld zählte. Heute, wo eine ernstzunehmende Spaltung innerhalb der politischen Elite Kasachstans zu erkennen sei und Nasarbajew praktisch alle seine engen Mitkämpfer den Rücken gekehrt hätten, brauche der kasachische Präsident wie noch nie zuvor einen treuen Parlamentsvorsitzenden, sagte Nurkadilow. Zurzeit kursierten in den Fluren der kasachischen Hauptstadt Astana drei Namen. Genannt werden der ehemalige Gouverneur des Gebiets Atyrau, Rawil Tscherdabajew, der ehemalige Leiter der Präsidentenadministration, Oral Muchametschanow, und die älteste Präsidententochter Dariga Nasarbajewa. Mit Hilfe "seines" Parlamentsvorsitzenden könne das Staatsoberhaupt seine Zukunft sichern, indem er vom Parlament notwendige Gesetze oder sogar Verfassungsänderungen verabschieden lasse, meint der in Ungnade gefallene Politiker: "Das Szenario kann folgendermaßen ablaufen. Wenn es Dariga Nasarbajewa sein wird, dann müssen wir damit rechnen, dass sie bald Präsidentin wird. Das wird innerhalb von zwei Monaten geschehen. Wenn es Rawil Tscherdabajew sein wird, dann müssen wir mit einer Verfassungsänderung rechnen, gemäß der nur das Parlament den Präsidenten wählt. Das wird 2005 im siebten Amtsjahr geschehen. Das Zweikammerparlament wird er auflösen und ein Einkammerparlament schaffen, das nicht vom Volk, sondern von den Ältesten gewählt wird. Eine direkte Wahl des Parlaments und des Präsidenten durch das Volk wird es nicht mehr geben."

Nach Samanbek Nurkadilows Ansicht würde Präsident Nasarbajew sowohl mit Rawil Tscherdabajew als auch mit Dariga Nasarbajewa und Oral Muchametschanow zufrieden sein. Die beste Lösung zur Festigung der persönlichen Macht des Staatsoberhauptes wäre aber Dariga Nasarbajewa. Nurkadilow meint, dass es auch Überraschungen geben könnte. Dem ehemaligen Leiter der Katastrophenschutz-Behörde zufolge wird schon am 3. November bekannt sein, wer den Vorsitz im Parlament der dritten Legislaturperiode übernimmt. Vielleicht werde es aber jemand, mit dem niemand rechne, weil Nasarbajew immer schon unberechenbar gewesen sei.

Übrigens wurden Nurkadilow zufolge wegen der Auflösung des Parlaments der zweiten Legislaturperiode auf Befehl des kasachischen Präsidenten die Truppen des Innenministeriums, die Polizei und das Komitee für nationale Sicherheit am 1.

November um 17 Uhr Astanaer Zeit in volle Einsatzbereitschaft versetzt. (...) (MO)