Benachteiligte Aborigines
20. August 2013Alice Springs liegt mitten in der Wüste, im Süden des australischen Bundesstaates Northern Territory. 25.000 Einwohner leben in der größten Stadt im Herzen Australiens, wo die Sonne an 300 Tagen im Jahr schient. Doch Alice Springs hat auch eine Schattenseite: Hier wird mehr Alkohol konsumiert als irgendwo sonst in Australien, ungefähr doppelt so viel wie im Bundesdurchschnitt. 60 Prozent aller Straftaten stehen in Zusammenhang mit Alkohol. "Wäre der Bundesstaat Northern Territory ein unabhängiger Staat, würde er in Sachen Alkoholkonsum direkt hinter Moldawien rangieren – dem Land, in dem weltweit am meisten getrunken wird“, erklärt der Medizin-Anthropologe Richard Chenhall von der Universität Melbourne.
Um das Alkoholproblem von Alice Springs in den Griff zu bekommen, hat sich der Ministerpräsident des Staates Northern Territory, Adam Giles, besonders dafür eingesetzt, Entzugstherapien für Alkoholiker gesetzlich verpflichtend zu machen. Im Juli traten die entsprechenden Regelungen in Kraft. Danach droht jedem, der sich weigert in eine Rehaklinik zu gehen, eine Strafanzeige oder eine Haftstrafe. Die neue Gesetzgebung erlaubt es zudem, jeden, der in der Öffentlichkeit trinkt, festzunehmen.
Aborigines sind die Zielgruppe
Giles ist der erste Aborigine-Spitzenpolitiker auf Landes- und Bundesebene überhaupt in Asutralien. Er weiß, wie schädlich Alkohol für die indigene Bevölkerung sein kann. In den Straßen von Alice Springs sieht man häufig trinkende Aborigines. Zu Hause in ihren Siedlungen ist der Alkoholkonsum verboten. Knapp 5000 Ureinwohner leben in Alice Springs, die meisten in den insgesamt sechzehn Townships außerhalb der Stadt. Häufig gibt es dort kein fließendes Wasser in den Häusern. Arbeitslosigkeit, Gewalt, Kriminalität und Alkoholmissbrauch prägen den Alltag. Um diese Probleme zu bekämpfen wurde der Alkoholkonsum in den Townships verboten. Das jedoch habe die Probleme nicht gelöst, sagen Beobachter. Im Gegenteil: Die Alkoholiker trinken jetzt auf öffentlichen Plätzen und inden Parks im Stadtzentrum von Alice Springs und anderen Städten.
Laut Russel Goldfam, Präsident des Verbandes der Northern Territory Strafrechtler, wird die neue Gesetzgebung nur in größeren Städten umgesetzt. "Es gibt keinen Zweifel daran, dass diese Gesetzgebung eine unverhältnismäßige Auswirkung auf die einheimische Bevölkerung des Northern Territory haben wird", sagt der Jurist in einem Interview mit der DW. "Mit diesem Gesetz verfolgt die Regierung in erster Linie das Ziel, die Menschen von der Straße zu kriegen. Das ist die eigentliche Absicht.“
Abhängig oder kriminell?
Auch wenn das neue Gesetz dazu führen sollte, dass die Straßen von Alice Springs sicherer werden, löst es nicht die grundlegenden Probleme. Die neuen verpflichtenden Therapiegesetze sind schon in Kraft getreten, die ersten alkoholkranken Aborigines sind bereits zur Behandlung inhaftiert worden. Die Maßnahmen werden kontrovers in der australischen Gesellschaft diskutiert. Auch die ehemalige australische Premierministerin Julia Gillard hat sich zu Wort gemeldet. In einem Brief an Giles äußerte sie ihre Besorgnis über die Entwicklung.
Die australische Ärztekammer bezeichnet es als verwerflich, suchtkranke Menschen wie Kriminelle zu behandeln. Doch Ministerpräsident Adam Giles entgegnet, dass die Folgen gravierender wären, wenn man die alkoholkranken Aborigines nicht zwangstherapieren würde.
Menschenrechtler befürchten, dass verpflichtende Therapien die bereits hohen Zahlen inhaftierter Aborigines im Staat Northern Territory weiter erhöhen werden. Obwohl Aborigines nur 30 Prozent der Bevölkerung ausmachen, sind 80 Prozent der inhaftierten Erwachsenen und 95 Prozent der inhaftierten Jugendlichen indigener Abstammung.
"Unsere größte Sorge ist, dass hier versucht wird ein sehr ernstes Problem des Gesundheitswesens strafrechtlich zu lösen", sagt Ben Schokman, der für das Zentrum für Menschenrechtsgesetzgebung in Aborigines Gemeinden in Alice Springs arbeitet. "Diese Personen benötigen einen besseren Zugang zum Gesundheitswesen. Stattdessen werden sie inhaftiert."
Unterschiedlicher Ansatz mit dem gleichen Ziel
Die Regierung des Northern Territory hofft, dass der Plan für die verbindliche Therapie Ergebnisse bringt. Während die Debatte über die Effektivität dieser Maßnahme weiter geht, gibt der Medizin-Anthropologe Richard Chenhall von der Universität Melbourne zu bedenken, dass sie nur ein Teil der Lösung sein kann.
Die Regierung des Northern Territory müsse einen ganzheitlicheren Ansatz wählen, um die Alkoholabhängigkeit der Einheimischen in den Griff zu kriegen: "Eine Behandlung der Kranken ist sehr wichtig. Aber man muss auch über die Preise und die Verfügbarkeit von Alkohol kritisch nachdenken", sagt er im Gespräch mit der DW. "Junge Menschen müssen über die Gefahren des Alkoholkonsums aufgeklärt werden.“ Das Problem des Alkoholismus unter den Aborigines von Alice Springs könne nur gelöst werden, wenn die grundlegenden Bedürfnisse der Menschen befriedigt werden.