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GesellschaftDeutschland

35. Neurodiversität – Vielfalt statt Krankheit  

8. Dezember 2021

Für Menschen, die unseren Podcast nicht hören können, stellen wir hier ein Transkript zur Verfügung: Die Neurodiversitätsbewegung tritt dafür ein, dass die Vielfalt menschlicher Gehirne endlich anerkannt wird.

Zum Podcast geht es hier.

Jingle: "Echt Behindert!"

Moderator, Matthias Klaus: Herzlich willkommen zu "Echt behindert!". Mein Name ist Matthias Klaus. Heute gibt es eine Variation auf das Thema "krank oder behindert oder vielleicht etwas ganz anderes". Es geht um ein Thema, was irgendwie kompliziert ist. Das hört man schon am Wort. Es geht, um Neurodiversität und Neurodivergenz und was das mit Behinderung zu tun hat, was alles dazugehört. Und natürlich um die Frage, warum das ganze Thema so umstritten ist. Dazu im Podcast ist Tanja Serapinas. Sie ist Coach zum Thema Autismus und ADHS.

Schönen guten Morgen, Frau Serapinas.

Tanja Serapinas: Guten Morgen.

Matthias Klaus: Von Autismus hat schon jeder mal gehört. ADHS haben Kinder in der Schule, das kennt man. Aber was ist Neurodiversität? Das ist ja ein weites Feld. Können Sie mal erzählen, was alles dazugehört?

Tanja Serapinas: Ja, also zunächst einmal kann man sagen, dass Neurodiversität die natürliche Vielfalt menschlicher Gehirne ist. Und als Neurodiversitätsparadigma verstehen wir die Philosophie der Neurodiversität.

Wir müssen zunächst einmal verstehen, dass neurodivergente Personen zur Vielfalt unserer Gesellschaft beitragen. Es gibt eine Normvariante, sozusagen die normtypischen Personen. Das sind die, deren Gehirn der sogenannten "Norm" entsprechen. Und eine Abweichung dieser sogenannten "Norm" wird als Neurodivergenz bezeichnet. Dazu gehört zum Beispiel Autismus, ADHS, aber auch Legasthenie oder Dyskalkulie.

Matthias Klaus: Jetzt ist das ja an sich erst mal ein Theoriekonstrukt. Gleichzeitig ist es aber auch ja so eine Art, ich will nicht sagen: "Kampfbegriff", aber eine Idee, die dahinter steht, Neurodiversität zu propagieren. Wogegen wendet sich dieses Wort denn überhaupt? Warum ist das hier wichtig für uns?

Tanja Serapinas: Es ist wichtig, weil Personen, die neurodivergent sind, von Diskriminierung betroffen sind. Wir haben verschiedene Formen der Diversität. Wenn Sie zum Beispiel an die LGBTQ Community denken: Homosexualität und so weiter, dann ist das eben auch Ausdruck menschlicher Vielfalt, nicht heterosexuell zu sein. Und es ist kein Problem homosexuell zu sein.

Genauso wenig ist es ein Problem, neurodivergent zu sein. Warum darüber so viel gesprochen wird, ist, weil häufig neurodivergente Personen einem Anpassungsdruck unterliegen. Da werden dann Therapien angeboten, die eben entsprechende Verhaltensweisen oder Wahrnehmungsbesonderheiten verändern sollen.

Matthias Klaus: Gehen wir doch mal ins Detail. Im Rheinland sagen wir ja gern "Jeder Jeck ist anders". Das ist doch im Prinzip ein Plädoyer für Diversität. Gleichzeitig werden eine Menge Leute als "krank" angesehen. Zum Beispiel das, was Sie haben, was Sie sind: ADHS. Wie lebt es sich denn mit ADHS und hatten Sie Anpassungsdruck?

Tanja Serapinas: Ich würde das gar nicht in die Vergangenheit setzen. Ich habe Anpassungsdruck. Grundsätzlich ist es so, dass ADHS als "Aufmerksamkeits, Hyper- bzw. Hyperaktivitäts Syndrom" (ausgeschrieben) bezeichnet wird. Und das gilt in der wissenschaftlichen Welt als eine genetische Störung der Selbstregulation und Selbstkontrolle durch eine Störung im Dopamin- und Noradrenalinsystem.

Das ist angeboren, wie gesagt genetisch bedingt. Daran lässt sich nichts verändern. Das ist wie es ist. Damit lebt man. Damit lebt man ja, wenn die Umstände passen, ganz gut. Wenn die Umstände nicht passen, ist das durchaus Auslöser für ganz viele verschiedene Probleme. 

Matthias Klaus: Sie machen ja jetzt gerade einen relativ ruhigen Eindruck. So stellt man sich keinen ADHS Menschen vor, sage ich mal...

Tanja Serapinas: Tatsächlich muss man sagen ADHS ist als Spektrum zu sehen. Das bedeutet, dass die Ausprägung der individuellen Symptome sehr unterschiedlich ist. Es gibt nicht nur den Hyperaktiven Typ, es gibt auch den Hypoaktiven Typ und es gibt auch den Mischtyp.

Matthias Klaus: Klären wir es mal Was ist der Hypoaktive Typ?

Tanja Serapinas: Der Hypoaktive Typ wäre der Typ, den man so als verträumt bezeichnet. Das sind die, die häufig abgelenkt sind, aber jetzt nicht durch Zappeligkeit auffallen, sondern eher so: "zooming out". Also wenn die Gedanken so abschweifen, was man so in der Schule so als "Träumerchen" bezeichnet, das wäre dann eben der Hypoaktive Typ.

Der Hyperaktive Typ, das sind eben die, die motorisch sehr unruhig sind. Wobei man auch da sagen muss, gerade bei ADHS im Erwachsenenalter verlagert sich häufig die motorische Unruhe in so eine gedankliche Unruhe. Also man hat dann seine Bewegungen, seine körperlichen Bewegungen einigermaßen im Griff.

Und der Mischtyp ist sozusagen der, wo's mal wechselt, wo es sowohl hyperaktive Anteile als auch hypoaktive Anteile gibt.

Matthias Klaus: Was für Symptome gibt es denn bei ADHS überhaupt? Und dann vielleicht auch noch die Frage Was haben Sie denn davon?

Tanja Serapinas: Unaufmerksamkeit ist ein ganz großes Symptom bei dem Hyperaktiven Typ. Man hat eine Reizfilterschwäche. Das betrifft alle Personen mit ADHS.

Das bedeutet: Wenn wir davon ausgehen, dass unser Gehirn pro Sekunde in etwa mit 400 Milliarden Bits an Informationen bombardiert wird - "normale Menschen" (in Anführungszeichen", "normal neurotypische" können diese Reize filtern und es kommen dann nur noch ungefähr 2000 Bits pro Sekunde an.

Bei einer ADHS-Person fehlt dieser Filter. Das heißt, dass sämtliche Reize gleich intensiv, gleich wichtig wahrgenommen werden. Reize sind nicht nur Laute oder Licht, sondern auch Berührung, z.B. Gerüche, Geschmack. Alle diese Reize werden einfach sehr intensiv wahrgenommen. Wir haben häufig ein Problem mit der Selbstkontrolle. Wir haben häufig ein Problem mit der Impulsivität.

Das Symptom, was ich als am schwierigsten empfinde, wo ich auch sehr darunter leide, das ist "Rejection Sensitivity". Das ist eine Sensitivität auf eine wahrgenommene oder tatsächliche Ablehnung. Als Beispiel: Ich schreibe jemandem eine Nachricht. Die Person liest auch diese Nachricht und antwortet aber nicht. Dann geht in meinem Kopf ein Gedankenkarussell los. Ich frage mich dann nicht: "Vielleicht hat die Person ihr Handy zu Hause vergessen, es ist kaputt gegangen, die Person hatte vielleicht einen Unfall", sondern ich denke: "Was habe ich geschrieben, weshalb diese Person jetzt nicht antwortet? Ist diese Person jetzt enttäuscht von mir, sauer auf mich etc.?" Also das sind so diese typischen Gedanken, die dann losgehen. Und da kommt man sehr schlecht raus.

Ein weiteres Symptom ist ein Problem mit der emotionalen Regulierung. ADHS Personen nehmen Emotionen sehr viel intensiver wahr. Sie halten auch sehr viel länger an. Das heißt, wenn man traurig ist, ist man sehr traurig und auch sehr lange traurig. Das sind eben auch so Symptome, unter denen man sehr stark leiden kann.

Und das sind eben diese unsichtbaren Symptome, die von außen niemand sieht und die man auch selten mit Menschen teilt, weil es sehr schambehaftet ist. Oft ist es so, dass man dann immer die "empfindliche" Person ist. Oder: "reg dich doch nicht immer so auf. Entspann dich doch mal." Wenn man dann beschämt wird für diese Art der Wahrnehmung, dann teilt man das nicht mehr.

Matthias Klaus: Wann ist das bei Ihnen festgestellt worden?

Tanja Serapinas: Mit 33.

Matthias Klaus: Ah, das ist ja ungewöhnlich. Ich wollte gerade was sagen über Kinder und Erwachsene. Und jetzt reden wir über 33, das ist interessant. Ist dass nicht selten?

Tanja Serapinas: Grundsätzlich ist es so, dass gerade bei Frauen ADHS häufig erst sehr spät diagnostiziert wird und häufig erst dann, wenn schon ein Burnout oder andere Probleme aufgetreten sind. Denn das Leben mit ADHS ist sehr anstrengend und häufig treten eben Komorbiditäten auf.

Gerade auch die nicht hyperaktiven Personen mit ADHS fallen halt selten auf. Es ist so: Wenn in der Umgebung ein Kind beispielsweise sehr auffällig ist, sehr laut ist, sehr sprunghaft ist, da gucken alle hin und da braucht man dann irgendwie eine Lösung dafür.

Die, die sehr leise sind und die nicht auffallen durch herausforderndes Verhalten zum Beispiel, die werden halt auch häufig einfach übersehen. Die leiden dann "im Stillen" sozusagen.

Matthias Klaus: Das heißt aber dieses: "Ja, das hat man als Kind und das verwächst sich dann", ist im Grunde genommen Quatsch.

Tanja Serapinas: Das ist Quatsch. Das hat man sehr lange gedacht. Es ist aber so, dass ein ganz großer Teil derer, die auch als Kind diagnostiziert wurden, auch im Erwachsenenalter eben noch ausgeprägte Symptome haben. Bei denen, wo man sagt, "das hat sich vielleicht verwachsen", ist trotzdem ADHS da. Die Leute haben nur gelernt zu kompensieren.

Matthias Klaus: Wenn wir noch ein bisschen über ihr Persönliches reden dürfen... Also wenn Sie mit 33 eine Diagnose bekommen haben, dann müssen sie ja irgendwann die Idee gehabt haben: "Ich brauche eine Diagnose, irgendwas ist mit mir". Wie war das?

Tanja Serapinas: Ja, das war tatsächlich eigentlich so über Umwege, denn ich habe neurodivergente Kinder und mein Sohn bekam kurz vor der Einschulung seine ADHS Diagnose. Und wie man das dann als Eltern so macht, man informiert sich darüber.

Und dann habe ich da diverse Texte zu gelesen und habe gedacht: "Moment, das bin ja ich!" Dann habe ich mich damit intensiver auseinandergesetzt, auch mit ADHS bei Frauen. Und dann habe ich gedacht, es macht vielleicht Sinn, da mal mit jemandem darüber zu sprechen, der sich da auskennt.

Matthias Klaus: Dann waren sie beim Arzt und kriegen so eine Diagnose und dann können Sie vielleicht ein bisschen entspannter sein, weil sie denken: "Es ist nicht einfach, dass ich irgendwie in meiner Biografie ein Problem habe, sondern ich habe da ein wirkliches Problem". Hilft das dann schon mal?

Tanja Serapinas: Ja, und das hilft total. Bei mir ist es so, dass ich mich dann tatsächlich habe medikamentös einstellen lassen. Ich hatte kurz vor der Diagnose noch ein Studium begonnen und habe auch während der Vorlesungszeit zum Beispiel festgestellt, dass das schon wirklich anstrengend ist für mich, da zu folgen, wenn man mit 200 Menschen in einem Raum sitzt.

In der Schule war das eigentlich kein so großes Problem, weil die Klassengröße irgendwie nie mehr als 25 Schüler/Schülerinnen war. Aber an der Uni, wenn man dann so in einem Vorlesungssaal sitzt und der eine raschelt mit der Tüte und der nächste entscheidet sich zu gehen, dann wird gesprochen, gequatscht, dann tippt jemand auf der Tastatur - da hatte ich massive Schwierigkeiten den Dozenten oder den Dozentinnen zu folgen. Und hab mich dann entschieden, mich Medikamentös einstellen zu lassen.

Matthias Klaus: Das ist ja vielleicht umstritten mit den Medikamenten, weil natürlich man eine Vielfalt in Richtung normal therapiert. Macht Ihnen das Probleme oder muss das jeder selbst wissen, wie er das macht?

Tanja Serapinas: Also ich bin der Ansicht, dass es erstens mal natürlich jeder selbst wissen muss. Es ist ja so, dass die Medikamente in meinen Augen letztlich ein Hilfsmittel sind. So wie jemand, der auf einen Gehstock oder eine Brille angewiesen ist.

So sehe ich das: Das Medikament hilft mir, mit meinen Symptomen umgehen zu können. Es gibt mir einen Filter, wo normalerweise keiner ist. Und das führt letztlich dazu, dass ich mit meinen Ressourcen viel besser aushalten kann.

Matthias Klaus: Sie haben gesagt: "Stock oder Brille". Da kommen wir doch mal zum Thema eigentlich dieses Podcasts: Ist das eine Behinderung? Fühlen Sie sich behindert?

Tanja Serapinas: Ja, eindeutig.

Matthias Klaus: Ist das eine Behinderung, die in Ihnen liegt oder in der Umwelt? Die klassische Frage.

Tanja Serapinas: Also ich sehe Behinderung als soziales Konstrukt, wenn man so will. Also es ist natürlich so, dass die Teilhabe dadurch beeinträchtigt ist, dass die Welt nicht für Menschen wie mich gemacht ist. 

Matthias Klaus: Gut. Wäre es denn wünschenswert, dass die Welt für Menschen wie Sie gemacht wäre?

Tanja Serapinas: Auf jeden Fall wäre es wünschenswert, dass alle Menschen in der Gesellschaft einfach so sein könnten, wie sie sind. Wenn ich jetzt das Beispiel Uni nehme, hätte ich die Chance gehabt, in einem Vorlesungssaal mit 20 Leuten zu sitzen, wäre das für mich eine Erleichterung gewesen. Und in dem Moment wäre ich vermutlich nicht mehr behindert gewesen. Die Welt funktioniert aber leider noch nicht so. Wird sie vielleicht auch nie.

Demzufolge glaube ich nicht, dass es wirklich möglich ist, die Welt so zu gestalten. Aber es wäre natürlich sehr hilfreich, wenn einfach die Akzeptanz da wäre für unsichtbare Behinderungen.

Matthias Klaus: ADHS ist jetzt ein Thema zum Thema Neurodiversität und auch Neurodivergenz. Es gibt da ja so verschiedene andere Sachen, die auch noch dazu gehören. Es ist nicht nur Autismus, da reden wir gleich auch noch drüber. Aber es gibt ja...

...Sie können es besser aufzählen, was jetzt da im Einzelnen noch dazugehört.

Tanja Serapinas: Da gibt es verschiedene Ansätze dazu. Also die meisten Personen zählen eben auch eine Legasthenie oder auch eine Dyskalkulie dazu, weil das eben auch angeborene Divergenzen sind. Das Gehirn funktioniert einfach anders als das der meisten anderen.

Matthias Klaus: Nur mal kurz gesagt: Lese-, Schreib-Schwäche und Rechenschwäche.

Jetzt haben wir schon wieder das Wort "Schwäche". Ist es überhaupt eine Schwäche oder ist das auch nur eine andere Art, auf die Welt zu gucken? Sie merken, worauf ich hinauswill? Das ist ja der Kern der Debatte! Eigentlich würden Sie sagen Dyskalkulie oder Legasthenie sind Schwächen, da muss man etwas gegen machen. Oder sollte man es einfach lassen und sich mit anderen Dingen beschäftigen?

Tanja Serapinas: Also es wird sehr häufig sehr Defizit-orientiert betrachtet. Das haben Sie gesagt mit dem Thema: "Schwäche". Es wird immer so betrachtet, wenn man die Defizite in den Vordergrund stellt. Aber zum Beispiel haben eben auch Personen, die eine Rechenschwäche oder eine Lese-Rechtschreibschwäche haben, häufig ganz viele andere Fähigkeiten, die wiederum neurotypische Menschen nicht haben. Aber darauf wird selten der Fokus gelegt.

Wenn eine Person sich entscheidet... Das ist für mich immer so der Kern! ...Also, wenn eine Person sich entscheidet, Dinge an sich zu verändern, selbstbestimmt!, dann sehe ich darin kein Problem. Wenn jemand sagt: "Ich möchte gerne besser lesen und schreiben können und ich mache ein Training" oder so.

Das Problem ist aber immer die Frage: "Warum muss sich das denn ändern? Also: "Wer hat einen Leidensdruck? Wer ist davon gestört?" Und: "Ist das wirklich eine Einschränkung, wenn ich diese Dinge nicht kann?"

Also gerade, wenn ich an die heutige Zeit denke mit technischen Hilfsmitteln. Ich weiß nicht, wann ich zum Beispiel das letzte Mal eine größere Rechenaufgabe aus dem Kopf gerechnet habe. Da benutze ich einen Taschenrechner. So, also es gibt ja Möglichkeiten, diese sogenannte "Schwäche" zu umgehen und sich da einfach Unterstützung zu holen.

Matthias Klaus: Ich habe Sie gefunden, indem ich einfach im Internet Wörter wie Neurodiversität, Autismus und Ähnliches eingegeben habe. Und da kam ein Coaching für ADHS und Autismus. Sie sind Coach. Mit was kommen die Menschen zu Ihnen?

Tanja Serapinas: Die Menschen kommen mit ganz unterschiedlichen Fragen auf mich zu. Es ist so, dass ich zum Beispiel Familien berate, deren Kinder Verdachtsdiagnosen haben oder auch schon gesicherte Diagnosen haben. Da geht es in erster Linie darum, die Familien über die Divergenz aufzuklären, weil ich der Meinung bin, dass ein Kind dann sicher und beschützt groß werden kann, wenn das Umfeld weiß, welchen Bedarf es hat.

Es kommen erwachsene Personen auf mich zu, die beispielsweise langzeitarbeitslos sind und gerne wieder in den Beruf möchten. Dann mache ich Job-Coachings. Es kommen auch zum Beispiel Logopädiepraxen auf mich zu und fragen, ob ich zum Thema Autismus etwas aufklären kann und so weiter. Das ist sehr breit gefächert.

Was ein ganz großer Vorteil ist, ist tatsächlich der Peer-Gedanke dahinter. Das wird sehr gut angenommen. Ich höre von vielen Klientinnen und Klienten, dass sie sich sehr verstanden fühlen, dass sie sich einfach wohl damit fühlen, dass ich weiß, wovon ich spreche.

Und, wie gesagt, das können Job-Coachings sein. Das kann Alltags-Coaching sein, auch so was wie Strukturen für den Alltag entwickeln. Das ist ganz individuell. Aber im weitesten Sinne geht es darum, dass Aufklärung stattfindet und dass eben Hilfen installiert werden, die aber nichts mit Anpassung zu tun haben.

Matthias Klaus: Das Thema "Anpassung" ist ja trotzdem ein großes. Wir haben letzte Woche vorher telefoniert und da sagte ich mal kurz das Wort "ABA" und dann sagen Sie: "Oh, da werde ich jetzt aber Aktivist." Also Anpassungsmethoden, um Verhalten die Menschen mit Neurodivergenz an den Tag legen, abzutrainieren. Da wenden Sie sich massiv gegen. Erzählen Sie da mal ein bisschen drüber. 

Tanja Serapinas: ABA das steht ja für Applied Behavior Analysis. Das ist die "Angewandte Verhaltensanalyse" und das ist eine Therapieform, die zur Behandlung unter anderem von Autismus aber auch anderen Diagnosen eingesetzt wird.

Matthias Klaus: Wird es bei ADHS auch eingesetzt?

Tanja Serapinas: Es wird auch bei ADHS eingesetzt. Es wird auch bei anderen Behinderungen eingesetzt. Ich habe zu dem Thema mal recherchiert. Teilweise werden auch Personen mit Trisomie, zum Beispiel mit ABA behandelt. Also wo man sich auch fragt: "Naja, wie funktioniert das denn eigentlich?" Es geht immer um diese Verhaltensweisen, die unerwünscht sind.

Also es ist so, dass das ein behaviouristisch geprägter verhaltensanalytischer Ansatz ist. Es ist so, dass da ein Verhalten analysiert wird: Man erkennt, dass das Verhalten unerwünscht ist. Man versucht das abzutrainieren, indem man beispielsweise Verhalten vorgibt. Das Kind übernimmt dieses Verhalten und bekommt dafür eine Belohnung.

Matthias Klaus: Also so, wie Hundeschule?

Tanja Serapinas: Ja, das könnte man ein bisschen so ausdrücken. Genau, es ist ähm... Da würden mir jetzt Verhaltenstherapeuten und -Therapeutinnen aufs Dach steigen, wenn ich das sage: Aber es hat schon was von Dressur.

Matthias Klaus: Ja und das gilt aber als sinnvolle Methode. Ich habe vorhin noch kurz gelesen, was so ABA-Anbieter sagen, vor allen Dingen: "Ja, danach haben sie wieder eine entspannte Familie." Da sieht man eventuell nicht: Danach entfaltet sich das Kind, sondern danach ist es für das Umfeld einfacher. Das scheint ja eines der größten Probleme daran zu sein. 

Tanja Serapinas: Das ist auch der Grundgedanke. Das ist auch die größte Kritik, die ich daran habe: Dass es nicht darum geht, dem Kind dazu zu verhelfen, besser teilhaben zu können in dieser Gesellschaft, sondern dass es darum geht, das Kind anzupassen und zu sagen: "Das Umfeld hat ein Problem mit dir! Du musst dich verändern, damit das Umfeld kein Problem mehr mit dir hat!" Es ist einfach da auch wieder verschoben.

Also worum geht's? Ein Kind zeigt nicht das Verhalten, was erwünscht ist und das muss verändert werden. Und wenn dann eben die Anbieter schreiben, danach ist die Familie entspannt. Das ist prima, dass die Familie entspannt ist. Das Kind, was mit ABA behandelt wird, ist danach nicht entspannt.

Matthias Klaus: Noch mal ein bisschen konkreter. Vielleicht, weil ich nicht glaube, dass jeder der hier zuhört weiß wie so was überhaupt funktioniert.

Das Kind wird belohnt und bestraft. Oder wie geht es?

Tanja Serapinas: Also "bestrafen" im herkömmlichen Sinne... (der Ursprung von ABA - da war das so, dass dann auch teilweise wirklich körperlich gezüchtigt wurde)... Es ist so, dass erwünschtes Verhalten verstärkt wird und unerwünschtes Verhalten sozusagen sanktioniert wird, indem man den positiven Verstärker wegnimmt.

Wenn ich jetzt ein Kind habe, was seine Lieblingspuppe mit in die Therapiesitzung bringt, dann kann ich das ganz bewusst einsetzen, um Verhalten zu lehren, zu dressieren, trainieren was erwünscht ist. 

Das heißt, wenn das Kind, das nicht macht, was es soll, dann kann ich diese Puppe beispielsweise wegnehmen oder eben die Puppe zurückgeben. Wenn es dann doch das Verhalten zeigt, was erwünscht ist.

Matthias Klaus: Indirekte Bestrafung.

Tanja Serapinas: Da gibt es eben verschiedene Möglichkeiten, wie man das machen kann. Es ist auch sehr oft eine subtile Beeinflussung. Es ist oft sogar nicht so ganz eindeutig sichtbar, was wird da jetzt eigentlich verstärkt oder was wird da bestraft? Aber das kann eben durch... (Na also: "Nahrungsmittelentzug" hört sich jetzt auch krass an) ...aber es wird auch ganz bewusst zum Beispiel eingesetzt.

Also, wenn ich jetzt weiß, das Kind trinkt gerne ein bestimmtes Getränk, dann stelle ich das in Aussicht und dann bekommt es dieses Getränk eben erst dann, wenn es das Verhalten zeigt, was ich mir wünsche.

Und da finde ich diesen Grundsatz schon hochgradig problematisch, weil das Kind dieses Verhalten ja nicht freiwillig verändert oder auch den Grund nicht versteht, warum es das Verhalten jetzt ändern soll, sondern es macht, das damit es sein Lieblingsgetränk bekommt.

Matthias Klaus: Und nicht weil es in die natürliche Bahn zurückfindet oder so etwas.

Tanja Serapinas: Genau. Es heißt ja so schön "Verhaltensanalyse", aber die Analyse findet im Grunde nicht statt, wie man sich das Wünschen würde. Also, wenn ich ein Kind habe, was autistisch ist und ein sogenanntes herausforderndes Verhalten zeigt, dann muss ich mich immer fragen: "Wo kommt denn dieses Verhalten her? Was ist denn die Ursache dafür?"

Das heißt, ein Kind, was regelmäßig in einen Meltdown hinein rutscht, also in einen Zustand allergrößter Not, was häufig mit Wutanfällen verwechselt wird, dann kann ich dem Kind beibringen, nicht mehr zu schreien und sich nicht selbst zu verletzen. Ich habe aber die Ursachen für dieses Verhalten nicht bekämpft.

Wenn ich die Umgebung so schaffe für dieses Kind, dass es dieses Verhalten nicht mehr zeigen muss, dann habe ich doch eigentlich die Lösung. Denn das Verhalten entsteht ja aus der Kommunikation. Und ich muss immer gucken: Was fehlt den Kindern gerade? Wo ist denn der Bedarf gerade? Warum?

Warum muss es denn irgendwie schreien oder sich selbst verletzen? Oder solche Dinge? Wahrscheinlich, weil es eine Reizüberflutung hat. Also ist die Lösung ja nicht, das Verhalten abzustellen, indem ich sage: "Du darfst das nicht mehr", sondern die Reize zu minimieren. Und das passiert bei ABA einfach nicht.

Matthias Klaus: Ist denn ABA eine Behandlungsmethode, die immer noch weitverbreitet ist? Oder kommt das jetzt langsam aus der Mode?

Tanja Serapinas: Es kommt leider überhaupt nicht aus der Mode. Im Gegenteil: Es wird immer stärker... (gefühlt). Wir haben zum Beispiel Fortbildungsreihen zum Thema Autismus, wo ABA als Modul angeboten wird. Wir haben jetzt eine Lehrerfortbildung! Seit neuestem gibt es jetzt eine Lehrerfortbildung oder einen Studien Anteil... (Ich weiß jetzt nicht an welcher Uni) ...aber es ist seit neuestem so, dass ein Lehrer-Studiengang für Autismus irgendwie entwickelt worden ist und da sind eben auch die ABA-Anteile drin.

Also es findet in Deutschland permanent und überall statt. Das kann man beobachten. Der Punkt ist eben der, dass es halt funktioniert. Also das Verhalten ändert sich zu einem sehr hohen Preis und diesen Preis zahlen die Menschen, die eben durchmachen müssen. Aber für den Moment funktioniert es genauso wie auch zum Beispiel eine Konversionstherapie funktioniert bei Homosexuellen oder bei Transpersonen. Das ist eigentlich sehr ähnlich. 

Eigentlich haben die beiden Therapieformen auch die gleichen Wurzeln. Also Konversionstherapie ist zum Beispiel in Deutschland seit 2020 verboten bei Jugendlichen. Und wir sehen: Wir sind in dem Bereich Neurodivergenz noch 20 Jahre zurück. Ich hoffe, dass es auch bald verboten ist, anpassende Therapien an neurodivergenten Personen durchzuführen. 

Matthias Klaus: Das Bewusstsein dafür, dass Autismus keine Krankheit ist und vielleicht nicht mal eine Behinderung im Sinne, "Es kommt etwas aus mir selber" ist ja sehr klein. Wenn ich im Internet lese, dann treffe ich zwei komplette Fraktionen. Die einen sind die mit dem Neurodiversitätsparadigma und die anderen sind die mit dem Internationalen Klassifikationssystem der psychischen Störungen. Und dazwischen gibt es irgendwie kaum Verständigung. Also nicht mal bei Wikipedia werden diese Artikel gegenseitig groß verlinkt. Man hat den Eindruck, das sind zwei verschiedene Welten. Haben Sie eine Idee? Auch jetzt vom Aktivistischen her lässt sich das irgendwie überbrücken. Wie kriegt man denn die klassischen Autismus-Ärzte überzeugt?

Tanja Serapinas: Also ich glaube schon, dass es da inzwischen vereinzelt auch eine Veränderung eben in diesen Paradigmen gibt. Es gibt privat niedergelassene Ärzte, die da auch schon nach arbeiten, nach diesem Neurodiversitätsparadigma. 

Aber das ist leider auch immer eine Sache, das wissen Sie auch, was in der Forschung herausgefunden wird oder was Aktivisten fordern. Bis das in der Praxis ankommt, vergehen leider oft Jahrzehnte.

In den USA, zum Beispiel ist es so, da gibt es Facebook-Gruppen wie die Neurodiversity Affirmative Therapists. Also da sind dann Therapeuten, Therapeutinnen, die ganz bewusst nach dem Neurodiversitätsparadigma arbeiten. Das ist eben hier in Deutschland noch sehr unbekannt. Aber ich glaube, dass sich da was verändern wird.

Wir haben ja auch Ärzte und Ärztinnen, die selbst autistisch sind oder die selbst ADHS sind. Das ist ja nicht so, dass es nicht die auch gäbe. Und ich glaube, da verändert sich was. Aber es wird wohl noch ein bisschen dauern.

Matthias Klaus: Haben Sie eine ganz konkrete Idee was müsste man in den nächsten drei Jahren ändern?

Tanja Serapinas: Man müsste erstens in den nächsten drei Jahren ändern... Das ist, wenn wir ja auch das Thema "Behinderung" noch mal aufnehmen: Mit einer ADHS Diagnose einen Schwerbehindertenausweis zu bekommen, ist praktisch ausgeschlossen. 

ADHS ist sehr bagatellisiert in unserer Gesellschaft, auch in der Fachwelt. Es wird oft nicht so als das gesehen, was es ist, nämlich tatsächlich eine Einschränkung in vielen Lebensbereichen. Es müsste sich ändern, dass Personen nicht nachweisen müssten, dass sie zum Beispiel autistisch oder ADHS sind.

Es wird häufig bei Erwachsenen, zum Beispiel in Frage gestellt, auch bei Kindern häufig in Frage gestellt: "Du kannst gar nicht autistisch sein, du kannst mich ja angucken, das sieht man dir gar nicht an!"

Einfach Hilfen gewähren, bewilligen, die die individuelle Person braucht. Es müsste viel mehr Aufklärung passieren - einfach eine gesellschaftliche Akzeptanz, dass Menschen wie ich und wie viele andere einfach dabei sind und dazugehören. Das müsste sich eigentlich nächste Woche schon ändern.

Matthias Klaus: Wünsche von Tanja Serapinas, Autismus- und ADHS-Coach. Wir verlinken hier natürlich auf die Webseite.

Das war "Echt behindert!". Schon fast für heute.

Frau Serapinas, ich danke Ihnen, dass Sie Zeit hatten, mit mir hier zu sprechen. Vielen Dank!

Tanja Serapinas: Vielen Dank für die Einladung, Herr Klaus. Es hat mich sehr gefreut.

Matthias Klaus: Das war echt behindert für heute. Mein Name ist Matthias Klaus.

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Hinweis der Redaktion: Dieses Transkript wurde unter Nutzung einer automatisierten Spracherkennungs-Software erstellt. Danach wurde es auf offensichtliche Fehler hin redaktionell bearbeitet. Der Text gibt das gesprochene Wort wieder, erfüllt aber nicht unsere Ansprüche an ein umfassend redigiertes Interview. Wir danken unseren Leserinnen und Lesern für das Verständnis.