1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
Politik

Jacinda Ardern: feinfühlig und führungsstark

Ian P. Johnson pgr
24. März 2019

Bis vor kurzem war Neuseelands Premierministerin der Welt kaum bekannt. Doch ihre ebenso mitfühlende wie konsequente Art, mit den Anschlägen von Christchurch umzugehen, brachte ihr einen ungeahnten Popularitätsschub.

Jacinda Ardern
Bild: picture-alliance/AP Photo/New Zealand Prime Minister Office

Seit 16 Monaten ist Jacinda Ardern Premierministerin einer von den Grünen gestützten Koalition aus Sozialdemokraten und "New Zealand First", einer populistischen Anti-Einwanderungspartei. Nach den Anschlägen von Christchurch geht die 39-Jährige jetzt gegen die Waffenlobby vor, will alle halbautomatischen Waffen in Neuseeland verbieten.

Ein Vorhaben, das konservative Politikberater nicht gerade als Stimmenfänger empfehlen würden. Aber Ardern kennt sowohl Neuseelands stolze multikulturelle Tradition als auch den unterschwelligen rassistischen Unterton in weiten Teilen der Gesellschaft sowie die komplexe Vergangenheit des Landes. Sie begann ihre politische Karriere im Alter von 17 Jahren und ist seitdem schwierigen Debatten nie aus dem Weg gegangen. So setzt sie sich etwa dafür ein, die Unsicherheiten der modernen Zeit zu bekämpfen oder die Schere zwischen Arm und Reich zu schließen.

"Nenne nicht den Namen des Täters": Jacinda Ardern setzt im Parlament AkzenteBild: Getty Images/M. Tantrum

"Was auch immer man von dem hält, was sie sagt, sie tut es immer mit einer gewissen Ehrlichkeit", sagte ihr Vize-Premier und Außenminister Winston Peters vom populistischen Koalitionspartner "New Zealand First" im vergangenen Jahr. "Sie ist authentisch, sie hat keine Allüren", sagte Peters und gab zu, dass das nach seiner jahrzehntelangen Erfahrung der aggressiven Rhetorik im Parlament von Wellington durchaus "einzigartig" sei. Nach den Parlamentswahlen im Jahr 2017 wurde Peters populistische Partei mit ihren nur neun Sitzen zum Zünglein an der Waage: Regieren mit der Mitte-Rechts-Partei "National Party" oder mit Arderns gewerkschaftsnaher Arbeiterpartei, die bereits die Unterstützung der Grünen hatte? Peters erzählte später, dass er zum Fischen herausgefahren sei, um auf das offizielle Ergebnis zu warten. Dort habe er sich schließlich für Ardern und die Labour Party entschieden.

Wortwahl mit Wirkung

Vier Tage nach den Anschlägen von Christchurch eröffnete Ardern eine Parlamentssitzung. Viele Abgeordnete standen noch immer unter Schock. Ardern gedachte zunächst der 50 muslimischen Opfer, die in zwei Moscheen umgebracht wurden. Unter den Opfern waren auch vier Kinder im Alter von drei, vier, 14 und 16 Jahren. Die Premierministerin würdigte in ihrer Rede mehrere Überlebende, die versucht hatten, den Schützen zu stoppen. Sie erklärte auch, dass sie niemals den Namen des Täters öffentlich aussprechen werde - vielmehr solle man die Namen der Opfer und damit die Menschen selbst in Erinnerung rufen.

Einen Tag zuvor hatte Ardern, in ein schwarzes Kopftuch gehüllt, das Büro des Islamverbands in Wellington besucht. Acht muslimische Gemeinden sind darin zusammengeschlossen, auch die der Stadt Auckland, in der der Wahlkreis der Premierministerin liegt. "Ich habe gestern Christchurch besucht. Mein Ziel war es, im Namen Neuseelands die Botschaft der Trauer und Solidarität für ihre Brüder und Schwestern zu überbringen", sagte Ardern den Vertretern des Wellingtoner Islamverbands.

Trauer und Solidarität: Jacinda Ardern tröstet Mitglieder der muslimischen GemeindeBild: picture-alliance/dpa/AP/TVNZ

Am Sonntag nach den Anschlägen hatte sie bereits die Nation über die Besonderheiten und die Sicherheitsvorkehrungen bei der Bestattung der muslimischen Opfer in Kenntnis gesetzt. Gleichzeitig kündigte sie an, zusätzliche Psychotherapeuten einsetzen zu wollen. Das passt auch zu einem der zentralen Versprechen Arderns und ihrer Partei während des Wahlkampfes im Jahr 2017, die "große Lücke" in der Versorgung Neuseelands mit Psychiatern und Therapeuten zu schließen. Damals versprach Ardern, Millionen in konkrete Therapiemöglichkeiten zu investieren.

Bekannt ist Neuseeland vor allem für seine idyllischen Landschaften. Doch beim Weltwirtschaftsforum in Davos im Januar erzählte Ardern der Welt, dass Neuseeland viele Selbstmorde, auch unter sehr jungen Menschen, verzeichne. "Eines der traurigen Fakten über Neuseeland ist, dass jeder jemanden kennt, der sich selbst das Leben genommen hat", sagte die Premierministerin. "Wir sind ein kleines Land mit weniger als fünf Millionen Einwohnern, aber über 600 Selbstmorden im vergangenen Jahr." Sie selbst habe Freunde verloren und sie müsse nicht lange in ihrem Kabinett suchen, um jemanden zu finden, der das Gleiche durchgemacht habe, sagte sie den Zuhörern in Davos.

Der "Jacinda-Effekt"

Ardern wuchs in der Region Waikato auf, im Norden des langgestreckten Inselstaats - nicht weit entfernt von "Hobbiton", dem Hauptdrehort der "Herr der Ringe"-Filme. Ihr Vater war Polizist auf dem Land, ihre Mutter arbeitete als Küchenhilfe an Schulen. Ardern selbst studierte Politische Kommunikation an der University of Waikato in Hamilton. Sie sammelte erste Erfahrungen als Praktikantin bei Helen Clark, ehemalige Labour-Premierministerin und bis 2017 Leiterin des UN-Entwicklungsprogramms. Während der Amtszeit des britischen Premiers Tony Blair arbeitete sie in einer Außenstelle Großbritanniens in Neuseeland. Seit 2008 sitzt sie im Parlament in Wellington.

In der Opposition war sie Sprecherin für Frauen, Kinder, Jugendliche sowie für das Kulturerbe und stieg nach und nach innerhalb ihrer Partei auf. Bei einer Nachwahl gewann sie schließlich das Direktmandat in ihrem Wahlkreis in Auckland. Dieser Sieg im März 2017 brachte ihr größere Bekanntheit ein.

Eloquent auf den internationalen Bühnen: Großbritanniens Prinz William und Jacinda Ardern in DavosBild: Reuters/A. Wiegmann

Sieben Wochen vor der Parlamentswahl 2017 kam der damalige Anführer der Arbeiterpartei und Justizminister Andrew Little auf sie zu, um ihr den Vorsitz anzubieten. Er schätzte Arderns Talent und Umfragen zeigten, dass es ihm wohl nicht gelingen würde, der National Party die Macht zu entreißen. Sie sagte zu und sorgte international für Aufmerksamkeit. Medien sprachen bereits vom "Jacinda-Effekt".  Im Oktober 2017 wurde sie schließlich zu Neuseelands jüngster Premierministerin seit mehr als 100 Jahren.

"Ziehen sie uns zur Verantwortung"

Im Februar 2018 war Ardern bereits schwanger, als sie für fünf Tage Waitangi im Norden von Auckland besuchte. An dem Ort hatten die Maori, die neuseeländischen Ureinwohner, schon mehrfach ehemalige Premierminister aufgefordert, die oft brutalen Landnahmen und Enteignungen der Maori durch britische Siedler im 19. Jahrhundert anzuerkennen. "Ziehen sie uns zur Verantwortung", sagte Ardern dort und bezog das aktuelle sowie künftige Kabinette mit ein. "Denn eines Tages möchte ich meinem Kind sagen können, dass ich das Recht habe, hier zu stehen. Und das können nur Sie mir zusprechen."

Ardern und ihr Partner Clarke Gayford, Moderator einer TV-Show zum Thema Fischen, kamen im vergangenen September gemeinsam zur Generalversammlung der UN mit ihrem Baby Neve Te Aroha im Arm. Der Name des Mädchens ist eine Mischung aus irischen und maorischen Worten. Bei der UN sprach sich die Premierministerin dann für Multikulturalismus und Klimaschutz aus - ein Kernthema der grünen Partei, die ihre Regierung in Wellington bei entscheidenden Abstimmungen unterstützt.

Mit Mann und Tochter: Jacinda Ardern bei der UN-Generalversammlung in New YorkBild: Reuters/C. Allegri

Nach den Anschlägen von Christchurch hob sie in einem Telefonat mit US-Präsident Donald Trump hervor, wie wichtig ihr Diversität ist. Sie rief den Präsidenten zu Sympathie und Liebe gegenüber Muslimen auf.

Erst Feier, dann Tragödie

Am Freitag, dem Tag der Christchurch-Attentate, begann Ardern ihren Tag bei Aucklands Polyfest - eine Feier der diversen pazifischen und asiatischen Kulturen in einem scheinbar mehrheitlich europäischen Land. In Neuseeland haben Kinder durch ihre Eltern und Großeltern oft zwei, drei oder noch mehr ethnische Hintergründe.

Anschließend besuchte sie ihre Eltern in Niue, wo ihre Vater lange als Kommissar arbeitete. "Wir haben dort auch angehalten, um über die großartige Arbeit zu sprechen, die dort für erneuerbare Energien und den Schutz des Meeres geleistet wird", sagte Ardern während in mehreren Städten des Landes Schüler bei den "Fridays for Future"-Demos für den Klimaschutz auf die Straße gingen.

Nur wenige Stunden später verübte ein 28-jähriger Australier in Christchurch während des Freitagsgebets Anschläge auf zwei Moscheen. Ardern eilte zurück nach Wellington, und informierte die Nation mit zitternder Stimme zunächst über erste Details des Massakers. Dann, in ihrer weiteren Rolle als Sicherheits- und Geheimdienstministerin, rief sie den Krisenstab zusammen.

Wenige Tage später kündigte Ardern striktere Waffengesetze an. Simon Bridges, Vorsitzender der oppositionellen National Party, und die ehemalige Polizeiministerin Judith Collin, die noch 2017 eine Änderung der Waffengesetze ablehnte, sagten, dass sie sich auf Arderns Seite stellen würden. Sie unterstützten jetzt ein Verbot von militärähnlichen halbautomatischen Waffen. "Dieser Freitag hat alles verändert", so Bridges.

Den nächsten Abschnitt Mehr zum Thema überspringen