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PolitikFrankreich

Neuwahlen in Frankreich - die Szenarien

Andreas Noll
1. Juli 2024

Der extrem rechte Rassemblement National hat die erste Runde der vorgezogenen Parlamentswahlen gewonnen. Was bedeutet dies für Frankreichs politische Zukunft? Die wichtigsten Fragen und Antworten.

Frankreichs Präsident Emmanuel Macron schaut betrübt nach unten
Frankreichs Präsident Emmanuel Macron sieht nach dem Wahlerfolg des RN schweren Zeiten entgegenBild: Dylan Martinez/Pool via AP/picture alliance

In der ersten Runde der vorgezogenen Parlamentswahlen in Frankreich hat der extrem rechte Rassemblement National (RN) die meisten Stimmen erhalten. Über die endgültige Sitzverteilung im französischen Parlament, der Nationalversammlung, entscheiden die Stichwahlen der zweiten Runde, die am 7. Juli stattfindet.

Was bedeutet dies für die Regierungsfähigkeit in Paris? Die wichtigsten Fragen und Antworten. 

Welchen Premierminister wird Präsident Macron nach der Wahl ernennen?

Die 1958 verabschiedete Verfassung der Fünften Republik kennt keine verfassungsrechtlichen Beschränkungen für den Präsidenten bei der Auswahl und Ernennung des Premierministers. Er muss jedoch die Mehrheitsverhältnisse im Parlament berücksichtigen.

Fehlt dem Premierminister die parlamentarische Unterstützung, würde ihm die Nationalversammlung das Misstrauen aussprechen. Die Regierung müsste dann beim Präsidenten ihren Rücktritt einreichen.

Falls der RN die Mehrheit der Sitze in der Nationalversammlung erränge, müsste  Präsident Emmanuel Macron  RN-Parteichef Jordan Bardella das Amt des Premierministers anbieten.

Eine Alternative habe er nicht, sagt Frankreich-Experte Hans Stark von der Pariser Universität Sorbonne. "Macron ist so geschwächt. Er hat keinen großen Spielraum." 

RN-Parteichef Jordan Bardella möchte neuer Premierminister Frankreichs werdenBild: Sarah Meyssonnier/REUTERS

Der 28-jährige Bardella macht allerdings eine absolute Mehrheit der Parlamentssitze zur Bedingung für die Übernahme von Regierungsverantwortung. Andernfalls könne er sein politisches Programm nicht umsetzen. 

Mit der Ernennung von Bardella zum Premierminister würde Frankreich in die vierte "Kohabitation" seiner Geschichte eintreten.

Wie funktioniert die "Kohabitation"?

Wenn Staatspräsident und Premierminister aus unterschiedlichen politischen Lagern stammen, ist die exekutive Macht in Frankreich geteilt. Präsident und Premierminister müssen dann in einer so genannten "Kohabitation" zum Wohle des Landes zusammenarbeiten.

Die erste "Kohabitation" wurde 1986 - nach stürmischem Vorlauf - unter dem sozialistischen Präsidenten François Mitterrand gebildet. Nach verlorenen Parlamentswahlen ernannte Mitterrand 1986 den Gaullisten Jacques Chirac und 1993 dessen Parteifreund Edouard Balladur zum Premierminister.

Von 1997 bis 2002 regierte der sozialistische Premierminister Lionel Jospin unter dem konservativen Präsidenten Chirac.

Die Machtaufteilung zwischen zwei unterschiedlichen politischen Lagern führt zu mehr Reibungsverlusten. Entscheidungsprozesse werden oft komplizierter und langsamer.

Macron und sein Kabinett: Die Sitzungen im Elysée-Palast leitet der Staatspräsident (3. von links)Bild: MICHEL EULER/POOL/AFP via Getty Images

Wie erfolgreich eine Kohabitation regiert, hängt entscheidend davon ab, wie gut Premierminister und Präsident zusammenarbeiten können. In der Verfassung der V. Republik von 1958, die bis heute gilt, ist eine "Kohabitation" nicht explizit vorgesehen.

Wie viel Entscheidungsspielraum hat die Regierung in einer "Kohabitation"?

In einer "Kohabitation" gehen Funktionen des Staatspräsidenten vorübergehend auf den Premierminister über. Nicht Macron, sondern der neue Premierminister würde dann die großen Linien der Politik vorgeben.

Gerade in der Innenpolitik verfügt die Regierung in der "Kohabitation" über einen weitreichenden Handlungsspielraum. In der Außen- und Sicherheitspolitik teilt sie sich die Macht mit dem Staatspräsidenten, der für die internationalen Beziehungen zuständig ist.

Wie sich der RN die Machtaufteilung vorstellt, erklärte Marine Le Pen kurz vor dem ersten Wahlgang: "Oberbefehlshaber der Streitkräfte ist für den Präsidenten (der Republik) ein Ehrentitel, da der Premierminister die Fäden in der Hand hält".

Frankreich mal 2: Premier Jospin (l) und Präsident Chirac (r) bei einem Gipfel in BerlinBild: Thomas Koehler/photothek/picture alliance

Auch innen- und wirtschaftspolitische Fragen können zu Machtkämpfen zwischen Präsident und Premier führen, wie die erste "Kohabitation" unter Mitterrand beweist.

Am 14. Juli 1986, dem französischen Nationalfeiertag, desavouierte der Präsident seinen Premierminister in aller Öffentlichkeit. Er werde die Regierungsdekrete Chiracs zur Reprivatisierung von insgesamt 65 verstaatlichten Banken, Versicherungen und Industrieunternehmen, nicht unterzeichnen, verkündete Mitterrand.

Ohne die Unterschrift des Präsidenten kann wiederum kein Regierungsdekret in Kraft treten. Diese Weigerung kann das Regierungsvorhaben aber lediglich verzögern, nicht aufhalten.

Wie gut würden Macron und Bardella zusammenarbeiten?

Präsident Macron lehnt zumindest Teile des Programms des RN ab. Der RN würde womöglich versuchen, analysiert Hans Stark, "Macron in die Ecke zu treiben, bis er endlich zurücktritt".

Eine Totalblockade der Arbeit einer RN-Regierung wäre allerdings auch nicht denkbar. Macron und Bardella würden sich wohl zusammenraufen.

Als Parteichef des Rassemblement National ist Bardella schon heute ein Gesprächspartner für Präsident MacronBild: Eliot Blondet/abaca/picture alliance

Sollte der Präsident Vorhaben seiner neuen Regierung ablehnen, müsste Macron dies begründen. Gut möglich, dass der Präsident dann häufiger den Verfassungsrat anruft, um Gesetze schon vor ihrer Verkündung auf die Verfassungskompatibilität prüfen zu lassen. Einige Projekte einer RN-Regierung könnten bereits an dieser Hürde scheitern.

Was passiert bei einer relativen Mehrheit der RN?

Frankreich-Experte Stark geht davon aus, dass Bardella seine Ankündigung wahr macht und der RN auf die Regierungsübernahme verzichtet, wenn die Partei zwar stärkste Kraft wird, aber die absolute Mehrheit deutlich verfehlt.

Sollte auch kein anderes Lager eine Mehrheit bilden können, wäre die Republik blockiert. Eine erneute Auflösung des Parlaments kann der Präsident in diesem Fall nicht anordnen. Die Verfassung sieht eine Karenzzeit von einem Jahr vor.

Schon im Anfang Juni von Macron aufgelösten Parlament verfügten die Parteien des Präsidentenlagers lediglich über eine relative Mehrheit. Die Regierung hat daher für wichtige Gesetze mehrfach auf Artikel 49.3 der französischen Verfassung zurückgegriffen.

Dieser ermöglicht es der Regierung, ein Gesetz ohne Abstimmung in der Nationalversammlung zu verabschieden. Es sei denn, innerhalb von 24 Stunden wird ein Misstrauensantrag eingebracht und angenommen.

Dieser Verfassungsartikel ist in Frankreich allerdings sehr umstritten. Es ist unwahrscheinlich, dass eine neue Kohabitations-Regierung von Beginn einer Legislaturperiode mit Hilfe des Artikels 49.3 regieren möchte.

Gibt es eine klare Mehrheit in der nächsten Nationalversammlung?Bild: Ludovic Marin/AFP/dpa/picture alliance

Welchen Ausweg gäbe es für eine blockierte Nationalversammlung?

Die Parteien halten sich bislang mit Vorschlägen zurück, wie sie auf eine Nationalversammlung ohne Mehrheit reagieren würden. Von Marine Le Pen vom RN ist bekannt, dass sie in diesem Fall den Zeitpunkt für vorgezogene Präsidentschaftswahlen gekommen sieht.

Macron könnte jedoch nicht zum Rücktritt gezwungen werden. Ein klares Szenario für eine "blockierte Republik" gibt es in Frankreich nicht. Viel würde von der politischen Dynamik nach der Wahl abhängen.

Grundsätzlich denkbar wäre auch die Einsetzung einer parteiunabhängigen Expertenregierung. Ein historisches Vorbild dafür gibt es in der V. Republik allerdings nicht.

Kann der Präsident die "blockierte Republik" auflösen?

Präsident Emmanuel Macron könnte Artikel 16 der französischen Verfassung aktivieren. Dieser gibt dem Präsidenten in Krisensituationen außerordentliche Befugnisse, um die Kontinuität des Staates zu gewährleisten.

Der Präsident könnte dann ohne Zustimmung des Parlaments Gesetze erlassen und Dekrete verkünden. Frankreich-Experte Hans Stark glaubt allerdings nicht, dass Artikel 16 eine reale Option für Macron ist.

"Ich sehe nicht, wie er das drei Jahre lang - bis zur nächsten Präsidentschaftswahl - durchhalten kann. Das würde im Grunde bedeuten, dass wir in einem permanenten Krisenmodus wären."

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