Fünf Viertel bis zum Glück
4. November 2013 Gottseidank! Es regnet nicht, die Luft ist kühl und klar. Das Wetter passt, als ich mich um kurz nach acht im Startbereich unter die unglaubliche Läufermasse auf Staten Island mische. Der erste der fünf New Yorker Stadtteile, durch die uns das Rennen führen wird. Vor uns ragt die Verrazano Bridge auf, die längste Hängebrücke in den USA. In der Ferne spiegelt sich die Morgensonne in den Glasfassaden von Manhattan. Ein geniales Gefühl, jetzt hier zu sein. Vier Jahre habe ich auf diesen Moment gewartet. Einerseits bebe ich vor Vorfreude, anderseits bin ich nervös. Was, wenn die Beine heute nicht wollen, oder mich Magenprobleme stoppen? Ablenkung schaffen die Gespräche mit den anderen Läufern. "Ich bin das dritte Mal hier am Start", erzählt mir unvermittelt ein drahtiger Mittfünfziger, "jedes Mal ist es besonders."
10:05 Uhr: Der Startschuss ertönt. Aus riesigen Boxen singt Frank Sinatra "New York, New York...", um mich herum passiert aber erstmal wenig, alles steht. Zu groß ist das Starterfeld. Dann, ganz langsam, ist das Getrappel von Tausenden Laufschuhen auf dem Asphalt zu hören. Auch ich mache meine ersten Schritte. Das Tempo steigert sich. Die Masse kommt in Bewegung. "Jetzt ruhig bleiben und die richtige Geschwindigkeit finden", sage ich mir immer wieder. Doch leicht ist das nicht. Ich muss mich um langsamere Läufer vor mir herumschlängeln, gleichzeitig ziehen entschlossen aussehende Frauen und Männer an mir vorbei. Und es geht stetig bergauf. Erst nach über einem Kilometer, auf dem Scheitelpunkt der Brücke, merke ich, wie sich meine Anspannung löst.
Der New York Marathon geht auf die Ohren
"Eigentlich zu schnell, aber noch im Rahmen", denke ich mir beim Blick auf meine Uhr in Höhe der Vier-Meilen-Marke in Brooklyn. Kein Wunder, auf der schnurgeraden 4th Avenue drängen sich die Zuschauer links und rechts der Strecke. Alle 100 Meter spielt eine Live-Band. Trommeln, Glocken, Musik und Anfeuerungen vereinen sich zu einem Dröhnen, das die Läufer voran drängt. Auch mich. Ich laufe immer noch deutlich schneller als die Zwischenzeiten, die mir auf ein Armband gedruckt ums Handgelenk baumeln.
Ich habe gerade etwas mehr als zehn Kilometer geschafft, da geht bei der eine Stunde vor mir gestarteten Gruppe der Favoriten im Central Park die Post ab. Geoffrey Mutai aus Kenia spurtet die letzten Meter ins Ziel und gewinnt den New York Marathon in 2:08:54 Stunden. "Ein Rennen einmal zu gewinnen ist leicht. Aber den Titel zu verteidigen ist alles andere als einfach", sagt er wenig später zu seinem zweiten Erfolg in New York nach 2011. Bei den Frauen siegt die Kenianerin Priscah Jeptoo (2:25:07). Von alldem bekomme ich während des Rennens nichts mit. Ich darf mitlaufen, das ist für mich schon Erfolg genug.
42 Kilometer laufen - manch einem ist das allein zu langweilig
"Nimm Dich in Acht. Das Ding ist ellenlang", höre ich meinen Freund sagen, der den New York Marathon schon vor zwei Jahren gelaufen ist. Mit "Ding" meint er die Queensborough Brücke, die uns Läufer jetzt von Queens nach Manhattan führt. Tatsächlich tue ich mich schwer, auf der ansteigenden Brückenrampe mein Tempo zu halten. Nach rund 25 Kilometern sind meine Beine angespannt. Sie sind der Puffer beim ständigen Aufeinanderprallen von Körpergewicht und Straße. Die Muskeln ächzen. Ich schimpfe. Mit mir selbst: "Das hast Du jetzt davon. Vorhin warst du doch zu schnell unterwegs. Dafür musst Du jetzt bezahlen." Im gleichen Moment muss ich mit dem Kopf schütteln. Ein junger Mann, den ich überhole, ist mit freiem Oberkörper unterwegs und dribbelt unablässig zwei Basketbälle. Er ist auf der Jagd nach einem Eintrag ins Guiness Buch der Rekorde. Verrückt!
Wir sind in Manhattan. Auf der First Avenue geht es nach Norden. Konditionell geht es mir gut, aber die Schmerzen kommen. Noch entfalten die Anfeuerungen der Zuschauer ihren Zweck. "Du siehst locker aus", ruft mir eine Frau vom Streckenrand zu. Das tut gut. In Dreier- und Viererreihen drängen sich die Zuschauer. Doch je weiter wir uns der Bronx nähern, desto schlechter fühle ich mich. Zuerst schmerzen die Oberschenkel, dann zwickt der Rücken. "Jetzt dranbleiben", spreche ich mir selbst Mut zu. Alle müssen jetzt kämpfen. Das spüre ich auf dem Weg zurück nach Manhattan. Wenige hundert Meter sind keine Zuschauer am Streckenrand. Zu hören sind nur die meist schon schweren Schritte der Marathonläufer. Tiefes Atmen. Vereinzeltes Husten. Pure Freude klingt anders.
Der Körper sagt: "Es geht nicht mehr."
"Bring it home!" - klingt es von einer der Bühnen in Harlem zu mir herüber. Noch knapp zehn Kilometer. "Irgendwie pack ich das", mache ich mir Mut. Realisiere aber im gleichen Moment, dass ich keine Körner mehr übrig habe. Meine Hoffnung, am Ende noch mal etwas zulegen zu können, schwindet. Immerhin kann ich mein Tempo halten. Ich sehe andere Läufer, die von Krämpfen geplagt stehen bleiben. Meistens sind sofort einige der Tausenden Freiwilligen zur Stelle. Stille Helden, die dieses Rennen erst möglich machen. Endlich kommt der in bunte Herbstfarben getauchte Central Park in Sicht. Den Streckenabschnitt bin ich während eines längeren Aufenthalts in New York schon viele Male gelaufen. Das gibt mental zwar neuen Schwung. Schneller laufen kann ich trotzdem nicht mehr.
Der wellige Weg durch den Park wird zur innerlichen Achterbahn. Der Körper sagt: "Es geht nicht mehr." Der Kopf antwortet: "Muss aber!" Und die Seele fordert: "Genieß es, Mensch! Nur dafür bist du hier." Das versuche ich. Ich klatsche Zuschauer ab, ich schaue mich um, ich sauge den Jubel, die einzigartige Atmosphäre auf. Gänsehaut. Am Südende des Parks weiß ich, dass ich es schaffen werde. Zum Lächeln habe ich trotzdem keine Kraft. Oft habe ich diese Streckenpassage schon im Fernsehen gesehen. Ich richte mich auf. Vor so vielen Zuschauern will kaum einer einen leidenden Eindruck machen.
Knie und Füße haben genug
Noch zwei Rechtskurven bis zur Zielgeraden. Ein blau-orangenes Tor markiert die Ziellinie. Ich bin kurz davor, drüber, geschafft! 3:54:21 Stunden zeigt die Uhr, Platz 12.882 - soweit die nackten Zahlen. "Schön, dass es vorbei ist", melden meine Knie und meine Füße als ich austrudele. 42,195 Kilometer Asphalt sind eindeutig zuviel für ihren Geschmack. Mit etwas Erholung werden sie den Lauf in ein paar Tagen vergessen haben. Ich aber werde diesen Tag nie vergessen. Andere laufen zwar schneller, sie laufen in Verkleidung oder jagen wie der Basketballdribbler nebenbei Rekorde. Für mich war der Marathon an sich Erlebnis genug. Er war hart und schmerzhaft und gleichzeitig ergreifend schön. Gottseidank!