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Politik

NGO dokumentiert Vietnams größte Umweltkatastrophe

27. Januar 2020

Vietnam legt seit Jahren eine rasante wirtschaftliche Entwicklung hin. Oft zulasten der Umwelt. Aktivisten und Bürger, die sich für den Schutz der Natur einsetzen, haben es schwer, wie ein aktueller Film zeigt.

Vietnam Fischsterben Vergiftung tote Fische am Strand von Quang Trach
Bild: Getty Images/AFP

Mit Stolz und Zuversicht präsentierte Vietnams Regierung die im Bau befindliche Wirtschaftszone in Vung Anh bei einem Besuch der Deutschen Welle im Jahr 2014. Ein Kohlekraftwerk, ein Tiefseehafen, ein Stahlwerk und weitere industrielle Ansiedlungen sollten der wirtschaftlich wenig entwickelten zentralvietnamesische Küstenprovinz Ha Tinh einen Schub verleihen und dringend benötigte Jobs schaffen. Mehr als 40.000 Arbeitsplätze würden entstehen, hoffte die Regierung.

Doch nur zwei Jahre später verursachte ebendiese Wirtschaftszone eine der schwersten Umweltkatastrophen in Vietnams Geschichte. Das Stahlwerk "Formosa Ha Tinh Steel" leitete während des Testbetriebs Abwässer in das Südchinesische Meer ein. Diese waren unter anderem mit Phenol und Zyanid kontaminiert. An den Küsten von vier Provinzen wurden tonnenweise tote Fische angespült, Korallen verendeten und Aquakulturen wurden zerstört. Nach Angaben der Regierung vernichtete die Katastrophe die Lebensgrundlage von mehr als 40.000 Fischern für mehrere Jahre. Die Regierung gestand ein, dass 200.000 Menschen betroffen waren. Die vietnamesische Umweltorganisation "Green Trees" aus Hanoi, die die Katastrophe dokumentiert hat, geht sogar von fast einer Million Menschen aus, deren Lebensgrundlage zerstört wurde.

Große Erwartungen waren mit dem Bau der Wirtschaftszone in Ha Tinh 2014 verbunden (Archivbild)Bild: DW/R. Ebbighausen

Widerstand der Bevölkerung

Die Umweltkatastrophe führte zu Protesten in der Region, in den Metropolen Hanoi und Saigon und einigen anderen Städten. Sicherheitskräfte unterbanden die Proteste gewaltsam, viele Aktivisten wurden verhaftet und zu langen Haftstrafen verurteilt.

Green Trees hat Filmdokumente der Ereignisse gesammelt und durch eigene Filmaufnahmen ergänzt. Entstanden ist die Rohfassung eines Dokumentarfilms, der Anfang Januar in der "taz Kantine", dem Veranstaltungsort der Berliner Tageszeitung taz, zum ersten Mal in Deutschland gezeigt wurde. Weltpremiere feierte der Film im März 2019 vor einem ausgewählten Publikum in Hanoi.

Dokumentarische Sammlung

Der Film mit dem Titel "So???" (zu Deutsch: "Angst???") zeigt Bilder der Umweltkatastrophe, Aufnahmen von Demonstrationen und Verhaftungen, Bilder der Wirtschaftszone, und befragt die Einwohner der am schwersten betroffenen Regionen zwei Jahre nach der Katastrophe. Aktivisten und katholische Priester, die bei den Protesten eine wichtige Rolle gespielt haben, ordnen die Ereignisse ein und geben Hintergründe. Die katholische Kirche ist in der vergleichsweise armen Provinz Ha Tinh traditionell gut organisiert und ein Fürsprecher der Bevölkerung.

Das Stahlwerk "Formosa Ha TInh Steel"Bild: Getty Images/AFP/H.Dinh Nam

Die Aktivisten im Film sagen, Vietnams Regierung hätte der Bevölkerung mehr Rechte und vor allem Mitsprache gewähren müssen. Schlagworte wie Demokratie und Zivilgesellschaft fallen. Doch es wird nicht ganz klar, ob es sich tatsächlich um eine breite politische Bewegung handelt, welche das politische System des Landes in Frage stellt. Die Bilder vermitteln vielmehr den Eindruck, dass sich hier eine Protestbewegung formiert hat, die sich - mit guten Gründen - gegen den Umgang der Regierung mit der Katastrophe wendet.

Versagen der Regierung

Das Krisenmanagement der Behörden war ohne Zweifel mangelhaft. Vietnams Regierung, die auf ausländische Investitionen wie die des taiwanesischen Stahlwerks angewiesen ist, folgte einem altbekannten Drehbuch: Verleugnung, partielles Zugeständnis, Schuldzuweisungen und Kuhhandel.

Zuerst bestritten die Behörden jeden Zusammenhang des Fischsterbens mit der Industriezone und führten eine Algenpest ins Feld. Nach knapp drei Monaten räumte die Regierung dann ein, dass "Formosa Ha Tinh Steel" verantwortlich war. Schuld seien aber das Unternehmen, das sich nicht an Auflagen gehalten habe, und lokale Kader, die nicht rechtzeitig reagiert hätten. Keinesfalls könne der Zentralregierung die Schuld gegeben werden. Am Schluss wurde mit Formosa hinter verschlossenen Türen ein Deal ausgehandelt, bei dem sich das Unternehmen bereiterklärte, 500 Millionen US-Dollar als Wiedergutmachung zu zahlen. Begleitet wurde der Prozess von der Staatspresse, die den Volten der Regierung willfährig folgte und die Demonstranten als Aufrührer oder gar vom Ausland gesteuerte Terroristen bezeichnete.

Unzureichende Kompensation

Am Ende gingen die 500 Millionen US-Dollar an staatliche Agenturen, die die Kompensationszahlungen leisten sollten, was der im Land weit verbreiteten Korruption und Vetternwirtschaft Tür und Tor öffnete. Viele Betroffene, die auf Jahre ihre Lebensgrundlage verloren hatten, erhielten als Widergutmachung einen Sack Reis und 50.000 vietnamesische Dong (etwa zwei Euro).

Demonstration wegen des Fischsterbens in HanoiBild: Reuters/Kham

Der Film erklärt diese Hintergründe nur zum Teil, aber er zeigt deutlich, welch tiefe Spuren die Katastrophe im Leben vieler Menschen hinterlassen hat. Die Einwohner der Region sind frustriert und verbittert. Der Film macht auch deutlich, dass sich die Demonstrierenden mit ihren Forderungen nach direkter Beteiligung und höheren Entschädigungen letztendlich nicht durchsetzen konnten.

Zivilgesellschaft im Aufwind?

Die zweite Aussage des Films, dass nämlich die Zivilgesellschaft in Vietnam gestärkt aus der Katastrophe hervorgegangen sei, überzeugt nicht. Es entsteht vielmehr der Eindruck, dass sich die Aktivisten, die unter erheblichem Druck stehen, selbst Mut zusprechen. Das deutet auch die Titelfindung des Films an. In einer ersten Version hieß er: "Hab keine Angst!". Die Filmemacher wählten am Schluss aber den Titel: "Angst???". Der neue Titel sollte laut der Soziologin Anh Susann Pham Thi von der Universität Manchester, die über die Zivilgesellschaft in Vietnam und der betroffenen Region forscht, dem Gefühl der Angst mehr Raum geben. 

Pham hat beobachtet, dass die Krise lokale und sogar überregionale Netzwerke geschaffen hat, die bis heute fortbestehen. "Diese Netzwerke haben zwei Funktionen: Die Aktivisten unterstützen die Aktionen und Proteste anderer und helfen sich gegenseitig im Alltag." Die Unterstützung anderer Aktivisten spielt sich vor allem in den sozialen Medien ab. In kürzester Zeit werden bei Protesten oder Aktionen im ganzen Land Solidaritätsbekundungen geteilt. Über die virtuelle Unterstützung, die zum Teil in geschlossenen Facebook-Gruppen stattfindet, geht es aber oft nicht hinaus.

Sicherheitskräfte versuchen die Demonstranten zu zerstreuenBild: Reuters/Kham

Zugleich bilden die verschiedenen Netzwerke eine Art Ersatzfamilie. Aktivisten haben in Vietnam nämlich nicht nur mit der Staatsgewalt zu kämpfen, sondern werden oft auch gesellschaftlich ausgegrenzt. Teile der Familie wenden sich aus Angst ab, Nachbarn und Bekannte meiden wichtige soziale Ereignisse wie Hochzeiten oder Beerdigungen. Diese Form der Isolation betrifft auch die Filmemacher. Der Regisseur Dang Vu Luong, mit dem die Deutsche Welle gesprochen hat, zieht seit Jahren immer wieder um, in der Hoffnung der stetigen Überwachung und dem Druck der Staatsgewalt zu entgehen.

Keine breite soziale Bewegung

Der Politologe Jörg Wischermann vom Institut für Asienforschung des GIGA in Hamburg, der Vietnams Zivilgesellschaft über Jahre erforscht hat, sieht wenig Anzeichen für eine gestärkte soziale Bewegung. Er stellt im Gespräch mit der Deutschen Welle fest: "Der organisierten Zivilgesellschaft in Vietnam fehlt es an jungen Leuten. Und die verschiedenen Proteste, entstehende soziale Bewegungen und Organisationen der Zivilgesellschaft sind oft nicht miteinander vernetzt." Anders gesagt, es gibt viele kleine und mittlere Grupen wie in Ha Tinh, aber es fehlt an einer starken Verbindung untereinander.

Dass es an jungen Leuten fehlt, zeigt auch der Film, in dem vor allem die Elterngeneration zwischen 30 und 50 demonstriert. Junge Leute sind in Vietnam damit beschäftigt, sich eine Existenz aufzubauen und sie wissen, dass ein falscher Facebookpost sie jahrelang ins Gefängnis bringen kann. Die fehlende Vernetzung wiederum macht es unwahrscheinlicher, dass eine breite soziale Bewegung entsteht, die den Einparteienstaat ernsthaft herausfordern könnte.

Allerdings weist Wischermann auch darauf hin, dass niemand im Vorhinein wisse, wann und in welche Richtung ein politisches System kippen kann.