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Politik

NGOs: Angeschlagen, aber ungeschlagen

Roman Goncharenko
20. November 2017

Seit fünf Jahren müssen russische NGOs mit ausländischer Finanzierung sich als "Agenten" registrieren lassen. Trotz Stigmatisierung machen viele weiter. Eine Bilanz.

Russland Roter Platz mit Kreml in Moskau
Bild: Getty Images/AFP/V. Maximov

Die russische Teilrepublik Tschetschenien ist für Marina Kolzowa und ihre Kollegen eine Art No-Go-Area, ein weißer Fleck auf der Landkarte. "Wir dürfen im Nordkaukasus grundsätzlich keine Seminare durchführen, allein weil wir so ein Stigma haben", sagte die Juristin der renommierten Moskauer Menschenrechtsorganisation "Memorial" in einem DW-Gespräch. "Die Staatsorgane auf allen Ebenen sagen uns offen, ihr seid als ausländischer Agent eingestuft worden, sprich Spion, wir können nicht mit euch zusammenarbeiten." Die Behörden hätten einen mündlichen oder gar schriftlichen Hinweis erhalten.

Nicht nur Menschenrechtler

Die Einschränkung ist eine direkte Folge eines Gesetzes, das vor fünf Jahren, am 21. November 2012, in Kraft trat. Es verpflichtet Nichtregierungsorganisationen, die sich politisch engagieren und Geld aus dem Ausland erhalten, sich als "ausländische Agenten" zu registrieren. Darüber hinaus müssen sie diese Markierung sichtbar machen, etwa auf der Webseite, und regelmäßig ihre Finanzen offenlegen. Betroffen sind vor allem Menschenrechtsorganisationen, aber auch solche NGOs, die sich für Umwelt oder Gesundheitsfragen engagieren.

Die NGO "Memorial" klagt vor dem Europäischen Gerichtshof für MenschenrechteBild: Getty Images/AFP/Kudryavtsev

Das "Agentengesetz" war eines von einer ganzen Reihe restriktiver Maßnahmen, mit denen der russische Staat auf die oppositionelle Protestbewegung zwischen der Parlaments- und der Präsidentenwahl im Winter 2011/2012 reagiert hatte. NGOs sind in den Augen der russischen Führung ein Instrument, mit dem der Westen angeblich einen Machtwechsel vorbereitet. Offiziell begründete Moskau die Initiative mit einem Gesetz in den USA (Foreign Agents Registration Act, FARA), das ausländische Rechtspersonen verpflichtet, ihre Tätigkeit offenzulegen. Fachleute halten einen direkten Vergleich jedoch für problematisch, auch weil der Ausdruck "ausländischer Agent" in Russland seit Sowjetzeiten Spionage bedeutet.     

Klagen in Straßburg 

Der Imageschaden sei für sie das Schwierigste, sagt Kolzowa von "Memorial". Die Organisation kümmert sich um die Erinnerung an politische Repressionen in der Sowjetunion. Viele NGOs empfinden das Gesetz als eine Diffamierung und weigerten sich, sich in das entsprechende Register des Justizministeriums eintragen zu lassen. Sie bekamen Unterstützung vom Europarat, der Europäischen Union und westlichen Regierungen. Auch in Russland selbst gab es Kritik, etwa vom präsidialen Menschenrechtsrat. Geholfen hat das nicht. Das Justizministerium übernahm die Initiative und trug selbst NGOs gegen ihren Willen in das "Agenten"-Register ein.

Nach fünf Jahren sieht die Bilanz gemischt aus. Manche, wie etwa die Moskauer Helsinki-Gruppe, verzichteten auf ausländische Finanzierung komplett und überlebten. Viele klagten vor russischen Gerichten und scheiterten, auch "Memorial", erzählt Kolzowa. "Die Gerichte glauben, dass wenn man eine Ausstellung oder einen Runden Tisch veranstaltet, ist das schon eine politische Tätigkeit", so die Juristin. "Memorial"  ist eine von rund 60 NGOs, die Klagen vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg eingereicht haben. Mit einer Entscheidung wird frühestens Ende 2018 gerechnet.

Als informelle Gruppe weitermachen  

Inzwischen ist die Zahl der im Register des Justizministeriums eingetragenen NGOs deutlich zurückgegangen: von rund 150 vor einem Jahr auf aktuell 87. Das Justizministerium in Moskau teilte auf DW-Anfrage mit, Gründe für Ausschluss aus dem Register können unterschiedlich sein. So könne eine NGO aufgehört haben, als "ausländischer Agent" tätig zu sein, oder sie sei aufgelöst oder reorganisiert worden. Genauere Angaben zu Einzelfällen machte das Ministerium nicht. Insgesamt hörten dutzende russische NGOs auf zu existieren.

Pawel Tschikow musste seine Organisation "Agora" nach einem Gerichtsbeschluss auflösenBild: DW/E. Winogradow

Eine solche Organisation heißt "Agora" und wurde Anfang 2016 per Gerichtsbeschluss zwangsaufgelöst. "Agora" mit dem Hauptquartier in Kasan war eine einflussreiche Menschenrechtsorganisation, die auch in prominente Fälle wie etwa der Punkband "Pussy Riot" involviert war. Heute machen ihre über ganz Russland verteilten Anwälte in einem losen Verbund weiter. "Unsere Arbeit unterscheidet sich stark von dem, wie es früher war", sagte der DW "Agora"-Gruppenchef Pawel Tschikow. "Wir sind eine Art Interessensvertretung geworden, in der jeder seine eigene Motivation hat, eigene Schwerpunkte und eigene Einnahmequellen." Ein Büro und angestellte Mitarbeiter hat "Agora" heute nicht mehr, nur eine Webseite.

Ziele erreicht, Erweiterung in Sicht?

"Die Obrigkeit hat das Ziel gehabt, den Sektor der illoyalen zivilgesellschaftlichen Organisationen in Russland zu zerstören", so Tschikows Bilanz nach fünf Jahren. "In diesem Sinne hat sie das erreicht." Hunderten, einst etablierten und mächtigen NGOs sei die institutionelle Grundlage entzogen worden. Geblieben seien meist "prostaatliche Strukturen".   

Pünktlich zum Jahrestag tauchte das inzwischen  in die Vergessenheit geratene "Agentengesetz" wieder in den Schlagzeilen auf. Die Staatsduma verpflichtete in der vergangenen Woche auch ausländische Medien, sich als "Agenten" zu registrieren - ähnlich wie NGOs das tun müssen. Der Föderationsrat, die Länderkammer, soll am 22. November über das entsprechende Gesetz abstimmen.     

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