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PolitikNicaragua

Nicaragua: Präsidentenwahl als Farce

7. November 2021

Alles spricht dafür, dass sich Daniel Ortega an diesem Sonntag seine vierte Amtszeit in Folge sichert. Kritiker sitzen in Haft, stehen unter Hausarrest oder flohen ins Ausland. Die Opposition ruft zum Wahlboykott auf.

Nicaraguanischer Präsident Daniel Ortega
Nicaraguas Staatschef Daniel Ortega mit seiner Frau und Vize-Präsidentin Rosario MurilloBild: Inti Ocon/AFP/Getty Images

José Adán Aguerri, 60 Jahre, festgenommen am 8. Juni, Anklage: Verschwörung. Der Unternehmer wurde in seiner Einzelzelle seitdem 130 mal verhört. Er hat 16 Kilogramm abgenommen und durfte nicht an der Beerdigung seiner Mutter teilnehmen. José Pallais, 68 Jahre, festgenommen am 9. Juni, Anklage: Verschwörung. Der Rechtsanwalt konnte seinen Verteidiger bis heute nicht sprechen, verlor 23 Kilogramm in der Haft. Violeta Granera, 68 Jahre, festgenommen am 8. Juni, Anklage: Verschwörung. Die Soziologin leidet an Diabetes, bekommt nur Wasser in ihrer Zelle.

Nur drei prominente Namen in der langen Liste der 39 Oppositionellen, die vor den Präsidentschaftswahlen an diesem 7. November in den letzten Monaten aus dem Weg geräumt wurden. Unter ihnen auch sieben potenzielle Präsidentschaftskandidaten, die gegen das umstrittene und vor einem Jahr verabschiedete "Gesetz zur Verteidigung der Rechte des Volkes auf Unabhängigkeit, Souveränität und Selbstbestimmung für den Frieden" verstoßen haben sollen. Die Beschuldigten dürfen demzufolge nicht für ein öffentliches Amt kandidieren, weil sie vermeintlich einen Staatsstreich angeführt, zu ausländischer Einmischung angestiftet oder terroristische Handlungen geschürt haben.

Was ist da los in einem Land, das weltweit und besonders in Deutschland jahrzehntelang Hoffnung und Projektionsfläche für linke Träume war? Mit einem Mann an der Spitze, der 1979 als Revolutionsführer der sandinistischen Guerilla die verhasste Somoza-Diktatur stürzte? Und der vor mehr als 40 Jahren eine bessere Welt, soziale Gerechtigkeit und eine neue Gesellschaft versprach?

Gioconda Belli: von der Sandinistin zur Ortega-Kritikerin

Gioconda Belli war damals ein Puzzleteil der Revolution, hatte sich 1970 der Sandinistischen Nationalen Befreiungsfront angeschlossen und Seite an Seite mit Ortega gekämpft. Heute zählt die 72-Jährige zu den renommiertesten Autorinnen Lateinamerikas und gilt nicht nur als literarische, sondern auch moralische Stimme Nicaraguas – und erbitterte Gegnerin des Präsidenten. Die DW erreicht sie in Madrid. Belli sagt: "Ich hätte nie gedacht, dass ich in meinem Alter noch mal im Exil leben muss. Es ist vollkommen surreal: damals wegen Somoza außer Landes zu sein und jetzt wegen Ortega."

"Die oberste Wahlbehörde, das Heer, die Polizei – Ortega hat die absolute Macht und Kontrolle" - Gioconda BelliBild: picture-alliance/ROPI/A. Weise

Auch für die Schriftstellerin war Daniel Ortega der Hoffnungsträger schlechthin, jetzt regiert er mit eiserner Hand und hat die Repression zu seinem Regierungsstil gemacht. Im Nicaragua von heute werden Menschen mitten in der Nacht verhaftet, von Sicherheitskräften zusammengeschlagen oder verschwinden spurlos. 52.000 Personen flohen nach Angaben der Interamerikanischen Kommission für Menschenrechte bereits ins Ausland, vor allem ins Nachbarland Costa Rica.

Nach der riesigen Säuberungswelle steht der Wahlsieger fest

Belli hoffte wie viele auf einen Wendepunkt bei dieser Wahl. Die sieben Herausforderer Ortegas standen in Verhandlungen, vereint den aussichtsreichsten Kandidaten zu unterstützen und gegen den Präsidenten ins Rennen zu schicken. Doch dann wurden alle nach und nach verhaftet, unter ihnen auch die parteilose Cristiana Chamorro, die nach Einschätzung vieler Experten Ortegas Wiederwahl am meisten hätte gefährden können. Es war erst der Anfang, die Säuberungswelle ging weiter mit Unternehmern, Journalisten und Studentenführern. "Wir leben in einem Land ohne Gesetz und ohne Menschenrechte", sagt Belli.

Die Polizei geht mit aller Härte gegen Proteste vor, wie hier am 16. März 2019 in ManaguaBild: picture-alliance/AP Photo/A. Zuniga

Also keine Hoffnung für die Wahlen, bei denen Ortega drauf und dran ist, sich seine fünfte Amtszeit insgesamt und die vierte in Folge seit 2007 zu sichern? Gioconda Belli macht sich jedenfalls keine Illusionen: "Die Ergebnisse sind vorhersehbar. Die Wahl ist eine Farce, Ortega steht jetzt schon als Sieger fest. Die Menschen haben Angst, viele werden dem Urnengang fernbleiben. Ich hoffe, die internationale Gemeinschaft wird diese Wahlen nicht anerkennen."

Auch Journalisten im Visier der Regierung

Wer wissen will, wie es ist, plötzlich von einem Tag auf den anderen in Nicaragua im Gefängnis zu landen, muss mit Lucía Pineda Ubau sprechen. Die mehrfach ausgezeichnete Journalistin und Direktorin des unabhängigen Nachrichtenkanals "100% Noticias" wurde am 21. Dezember 2018 für sechs Monate ins Gefängnis gesteckt, weil sie angeblich zu Hass, Gewalt und Terrorismus aufgerufen hätte. "In Nicaragua wirst Du als Kriminelle abgestempelt, wenn Du es wagst, die Wahrheit zu sagen und den Menschen eine Stimme zu geben", sagt sie.

"Wenn die Wahlen sauber und transparent wären, würde Ortega verlieren" - Lucía Pineda UbauBild: privat

Erst im Juni 2019 kam Pineda Ubau wieder frei, auch auf Druck vieler Menschenrechtsorganisationen, die sich für ihre Freilassung stark gemacht hatten. Aus Angst, wegen ihrer für die Regierung unbequemen Berichterstattung wieder verhaftet zu werden, floh sie nach Costa Rica, seitdem informiert "100% Noticias" aus dem südlichen Nachbarland.

Pineda Ubau zählt eine lange Liste von Kolleginnen und Kollegen auf, deren Berichte der Ortega-Regierung ein Dorn im Auge waren und die jetzt in Nicaragua in Haft sind. "Die Regierung bestimmt, was 'Fake News' sind, wer eine Verschwörung plant und wer ein Verräter am Vaterland ist. Denken, eine Meinung vertreten und informieren wird in Nicaragua kriminalisiert und verfolgt. Das ist nichts anderes als eine Diktatur."

Druck der internationalen Gemeinschaft zu schwach

Menschenrechtsorganisationen wie Human Rights Watch (HRW) schauen ebenfalls mit großer Sorge auf die Entwicklung in Nicaragua. Sie sind mittlerweile alles andere als willkommen im Land und müssen sich oftmals darauf beschränken, die Verstöße gegen Grundrechte aus der Distanz akribisch zu verfolgen. "Die Situation der Menschenrechte hat sich vor den Wahlen nochmals spürbar verschlechtert", sagt Tamara Taraciuk, die stellvertretende Amerika-Direktorin von HRW.

"Das sind nicht wirklich Gerichtsverfahren. Die Menschen werden einfach präventiv weggesperrt" - Tamara TaraciukBild: privat

Angefangen habe alles mit einem Gesetzespaket der Nationalversammlung Ende vergangenen Jahres, mit dem Ziel, vor der Wahl die Zivilgesellschaft zu drangsalieren und die Repression auszuweiten. Der bislang letzte Schritt sei dann die willkürliche Verhaftung von Regierungsgegnern gewesen, so die Rechtsanwältin: "Wir haben von Human Rights Watch Fälle von Folter dokumentiert, von verlängerter Einzelhaft, mangelhafter Ernährung und Verhören. Die Inhaftierten hatten wochenlang keinen Kontakt zur Außenwelt."

Die Liste der 39 verhafteten Oppositionellen ist dabei nur die Spitze des Eisbergs, mehr als 130 Personen befinden sich laut der Menschenrechtsorganisation im Sicherheitsgewahrsam. Gibt es überhaupt noch einen Ausweg aus der Tragödie in Nicaragua? Taraciuk hat die Hoffnung nicht aufgegeben, die internationale Gemeinschaft müsse dafür aber endlich gemeinsam und in einer konzertierten Aktion den Druck auf die Ortega-Regierung erhöhen. "Bisher war der internationale Druck unzureichend. Man hat es nicht geschafft, die Repression zu bremsen und die Gewalt einzudämmen."

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