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Politik

Protestwelle in Nicaragua

Tobias Käufer z. Z. Rio de Janeiro
21. April 2018

Mehrere Menschen sind tot, viele verletzt. Inzwischen erfassen die Proteste das ganze Land. Regierung und Demonstranten werfen sich gegenseitig brutales Vorgehen vor. Präsident Ortega signalisiert Gesprächsbereitschaft.

Proteste gegen Reformen in Nicaragua
Bild: picture alliance / Alfredo Zuniga/AP/dpa

Zu viert versuchen die Männer ein Propaganda-Bild der Vizepräsidentin Rosario Murillo aus der Verankerung zu reißen. Überlebensgroße Abbildungen des Präsidentenpaares sind allgegenwärtig in Nicaragua. Ja, Präsident Daniel Ortega und seine Vizepräsidentin sind miteinander verheiratet. Und mit Botschaften wie "Christlich, solidarisch, sozialistisch" lächelt das Ehepaar überall im Land winkend auf "sein" Volk hinab.

1979 hatte Ortega mit seiner linken Guerillabewegung "Sandinistische Nationale Befreiungsfront" die jahrzehntelange Somoza-Diktatur gestürzt und das Land nach demokratischen Wahlen bis 1990 weiter regiert. Nun steht er seit 2007 wieder an der Spitze des Landes - ob legitim, das bezweifelt nicht nur die heimische Opposition, die ihm immer wieder massive Wahlfälschungen vorwirft.

Die Proteste, die am Mittwoch mit wenigen Hundert Menschen begannen, haben inzwischen nahezu alle Städte des mittelamerikanischen Landes erfasst. Die Zahlen über Todesopfer gehen auseinander, von fünf, sieben oder auch zehn ist die Rede. Darunter offenbar mindestens ein Regierungsgegner, ein regierungstreuer Gegendemonstrant sowie ein Polizist. Alle Seiten haben Dutzende Verletzte zu beklagen. Auch mehrere Journalisten wurden in Krankenhäuser eingeliefert.

Eine Welle des Widerstands

"Es gibt zwei Bewegungen, die gegen die Regierung demonstrieren", sagt Gabriel Setright im Gespräch mit der DW. Er selbst gehöre zu einer Gruppe von Studenten und Umweltschützern, die der Regierung vorwirft, sie habe bei einem Waldbrand im Bio-Reservat Indio Maíz bewusst auf internationale Hilfe verzichtet, um billig in Besitz des verbrannten Landes zu kommen, erklärt der 25-Jährige. "Und dann", sagt Setright, "sind da die Menschen, die gegen die geplante Rentenform demonstrieren."

Demonstranten feuern mit selbstgebauten Granatwerfern auf die PolizeiBild: picture-alliance/AP/A. Zuniga

Vor ein paar Tagen hat die Ortega-Regierung angekündigt, die Beiträge für die Renten- und Sozialversicherung deutlich zu erhöhen, gleichzeitig will sie die Renten selbst um rund fünf Prozent kürzen. Dagegen gehen auch Senioren auf die Straße.

Die Bilder von blutüberströmten Rentnern, die von den Sicherheitskräften attackiert worden sein sollen, heizen die Stimmung zusätzlich an. Inzwischen sind drei Generationen auf den Straßen. Studenten, Berufstätige und Rentner.

Im Strudel der venezolanischen Krise

Die Insignien der Macht wie Plakate, aber auch Büros der Regierungspartei sind seit Freitag Zielscheibe wütender Proteste. Ebenso andere Symbole des lateinamerikanischen Sozialismus wie die Kunstbäume, die Murillo aufstellen ließ zum Gedenken an den 2013 an Krebs verstorbenen venezolanischen Staatschef Hugo Chávez. In den Abendstunden leuchten sie für gewöhnlich. Nun brennen sie lichterloh, nachdem Demonstranten sie angezündet haben.

Die Regierung des ölreichen Venezuelas ist ein enger politischer Verbündeter Ortegas, der Nicaragua seit 2007 regiert. Und Caracas unterstützte Managua zu Zeiten des Ölpreishochs auch wirtschaftlich. Doch inzwischen ist Venezuelas Wirtschaft abgestürzt, die Hilfen bleiben aus. Und damit werden auch die Missstände in Nicaragua immer sichtbarer, die Probleme immer größer.

Regierungsschläger und Polizei gegen Kritiker

"Es kommt immer wieder zu Übergriffen von regierungsnahen Banden", berichtet Gabriel Setright, der zu den führenden Köpfen der demonstrierenden Umweltbewegung zählt. "Und den unabhängigen TV- und Radiosendern wird das Signal abgestellt." Die regierungskritische Tageszeitung "La Prensa" berichtet, dass unabhängige Radiostationen von sandinistischen Schlägertrupps überfallen worden seien.

Ein Mitglied der "Sandinistischen Jugend" ringt mit dem Fotojournalisten Alfredo Zúñiga der Nachrichtenagentur APBild: Imago/Agencia EFE/J. Torres

Francisca Ramírez ist Sprecherin eines Kleinbauernverbandes, der sich gegen den von der Regierung geplanten Nicaragua-Kanal richtet, und gehört zu den bekanntesten Kritikerinnen der Sandinisten. Im Gespräch mit der DW erhebt Ramírez schwere Vorwürfe: "Die Regierung ermordet die Leute. Es gibt Tote zu beklagen. Die Situation ist chaotisch."

Gegenseitige Schuldzuweisungen

Vizepräsidentin Murillo widerspricht dieser Darstellung. Sie macht die Demonstranten für die Gewalt bei den Protesten verantwortlich, nennt sie Vampire, die Blut für ihre politische Agenda einfordern. Die Opposition kontert mit Videos und Bildern. Sie zeigen Banden, die offenbar der Regierung nah stehen, wie sie mit Helmen und Baseball-Schlägern auf Demonstranten und Fotografen einschlagen.

Die Polizei geht mit Tränengas und Gummigeschossen gegen die Demonstranten vor. Bild: picture alliance/AP Photo

Am Freitagabend flüchteten Hunderte Studenten zum Schutz vor Sicherheitskräften in die Kathedrale von Managua. Nach Angaben des Weihbischofs José Báez habe die Polizei sogar versucht, auf das Gelände der Kirche zu gelangen. Die Behörden widersprechen dieser Darstellung.

Am Samstagmittag twitterte Báez, alle seien wohlbehalten nach Hause zurückgekehrt. Seine Tweets werden tausendfach geteilt. Ein paar Stunden zuvor hatte er die Regierung aufgefordert, keine "gewalttätigen Gruppen gegen das eigene Volk" einzusetzen.

Lenkt die Regierung ein?

Derweil scheint der Druck der Straße Wirkung zu zeigen. Die Vizepräsidentin hat bereits erklärt, Präsident Ortega sei bereits zum Dialog zurückzukehren. Die umstrittene Rentenreform seien ja erst Vorschläge und noch gar nicht verabschiedet.

Doch bereits für die nächsten Tage sind weitere Demonstrationen und Proteste angekündigt. Welche Eigendynamik sie nach der Gewalt von Freitag und Samstag noch entwickeln, ist bisher kaum abzusehen. Derzeit scheint es, sie könnten über das politische Schicksal des Präsidentenpaares entscheiden.