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Politik

"Nicaraguas Regierung ist grob und grausam"

Cristina Papaleo
11. Juli 2018

Die Regierung von Daniel Ortega müsse der Gewalt abschwören und vorzeitigen Wahlen zustimmen, um die Krise im Land zu beenden, fordert die nicaraguanische Schriftstellerin Gioconda Belli im Gespräch mit der DW.

Gioconda Belli Hay Festival in Cartagena Kolumbien
Bild: DW/N. Naumann

Deutsche Welle: Frau Belli, Sie waren Teil des Kampfes für die Sandinistische Revolution in Nicaragua und Sie haben mit Daniel Ortega und Rosario Murillo zusammengearbeitet. Was ist Ihrer Meinung nach aus den idealen der Revolution in Nicaragua geworden?

Gioconda Belli: Wir befinden uns in Nicaragua in einer schwierigen Zeit. Wir haben noch nie in der Geschichte unseres Landes eine derartige Repression gegen ein unbewaffnetes Volk gesehen und das entspricht wirklich nicht den Idealen der sandinistischen Revolution. Daniel Ortega hat das Erbe dieser Revolution längst zerstört und schreibt nun das dunkelste Kapitel in der Geschichte der Sandinistischen Befreiungsfront.

Obwohl der Auslöser für die Proteste eine Rentenreform war, geht die Unzufriedenheit in der Bevölkerung weit darüber hinaus. Was wollen die Nicaraguaner Ihrer Meinung nach?

Das nicaraguanische Volk will seine Freiheit, seine Demokratie und vor allem sein Recht auf eine echte Wahl zurück. Denn in den vergangenen elf Jahren haben wir nach und nach die Unabhängigkeit der Staatsgewalt verloren. Eine Wahl war ohne Betrug und Manipulation nicht möglich. Die Regierung begeht schreckliche Verbrechen gegen die Bevölkerung und beschuldigt sie zur selben Zeit, ihr Unglück selbst verursacht zu haben. So etwas hat selbst Diktator Anastasio Somoza nicht getan, denn wir waren damals eine Guerilla-Armee, und Ortega greift heute die unbewaffnete Bevölkerung an.

Gibt es in dieser für Nicaragua so kritischen Zeit soziale Bewegungen, die einen demokratischen Wandel im Land fördern könnten?

In diesem Land gibt es Menschen mit großen politischen und intellektuellen Fähigkeiten, die alle von Ortega verdrängt wurden. Stattdessen wurden Witzfiguren mit Ministerien betraut, die nicht mal das Recht haben, eigenständig mit Journalisten zu sprechen. Die Menschen organisieren sich nun auf außergewöhnliche Weise. Es gibt keine Hierarchie, aber die Strukturen entstehen aus den Menschen heraus. Am Runden Tisch des Nationalen Dialogs entstand zum Beispiel die Bürgerallianz für Demokratie und Gerechtigkeit. Es gibt viele andere zivilgesellschaftliche Gruppen und Bewegungen, die zusammenkommen und nach Lösungen für das Land suchen. Allen gemein ist die Forderung, dass Ortega zurücktritt.

1974 unterzeichnete die sogenannte "Gruppe der 27", zu der Sie zusammen mit Ernesto Cardenal und anderen nicaraguanischen Intellektuellen gehörten, ein Manifest, das den Machtmissbrauch durch Anastasio Somoza anprangerte. 2016 wurde das Manifest wiederbelebt, nur um diesmal dieselbe Situation unter der Regierung Ortega anzuprangern. Was denken nicaraguanische intellektuelle über die aktuelle Krise?

Als Präsidentin des PEN Nicaragua möchte ich ausdrücklich die unzähligen Angriffe gegen die Presse verurteilen. Am Montag (09.07.), als in Jinotepe Bischöfe attackiert wurden, griffen die paramilitärischen Kräfte der Regierung auch die begleitenden Journalisten an, schlugen sie und zerstörten ihre Kameras. Die Presse hat schon sehr viele Angriffe und Verletzungen der Menschenrechte erlitten. Einem Journalisten wurde bei seiner Arbeit in den Kopf geschossen. Sein Name war Angel Gaona und es ist alles auf Filmaufnahmen dokumentiert. Ein anderer Journalist wurde am ersten Tag der Proteste bewusstlos geschlagen und hat sich bis heute noch nicht davon erholt. Wir müssen diese Angriffe auf die Presse unseres Landes anprangern.

Glauben Sie, dass die Opposition mit ihren Protesten Ortega dazu bringen kann, entweder zurückzutreten oder die Wahlen vorzuziehen?

Ich weiß nicht, ob wir Ortega dazu bringen werden zu gehen oder vorgezogene Wahlen zu verkünden. Wir werden in die Enge getrieben, sind allein und wehrlos in diesem Land, in dem sich die Regierung mit aller Kraft und Gewalt an der Macht hält. Wir haben einen Präsidenten, der seit elf Jahren keine einzige Pressekonferenz gegeben hat. Sie sagen, sie wollen Frieden, aber sie töten stattdessen. Ich denke, es gibt eine große Ablehnung in der Bevölkerung gegen diese Regierung und eine feste Überzeugung, den Kampf fortzusetzen. Ich weiß nicht, wann diese Regierung abtreten wird, aber ich bin davon überzeugt, dass es passieren wird.

"Ortega glaubt, durch Gewalt und Unterdrückung die Kontrolle über das Land wiedererlangen zu können", fürchtet Gioconda BelliBild: picture-alliance/AP Photo/M. Castillo

Sollte dies nicht geschehen, wie sehen Sie die Zukunft Nicaraguas und was sollte die internationale Gemeinschaft Ihrer Meinung nach tun, um zur friedlichen Lösung der Krise beizutragen?

Sollte Daniel Ortega nicht gehen wollen, wird die Situation meiner Ansicht nach sehr gefährlich, da ich glaube, dass diese Regierung sehr rachsüchtig ist und ihre außerordentliche Fähigkeit zur Unterdrückung und Intoleranz bereits bewiesen hat. Ihre Macht wird vom Volk hinterfragt, doch die Antwort der Regierung ist grob, überheblich und grausam. Ich denke, dass das Volk noch viel Leid wird ertragen müssen. Was einen friedlichen Ausweg für Nicaragua angeht: Wir hatten einen runden Tisch des Dialogs vorgeschlagen, der alle zivilgesellschaftlichen Akteure einschloss. Der einzige friedliche Ausweg aus dieser Krise wäre, dass Ortega die Gewalt stoppt, sich dialogbereit erklärt und vorgezogene Wahlen akzeptiert. Aber der Dialog ist ins Stocken geraten, weil Ortega glaubt, durch Gewalt und Unterdrückung die Kontrolle über das Land wiedererlangen zu können. Die Regierung hat versucht, die Gesprächsrunde als Plattform für ihre Propaganda zu missbrauchen und um zu behaupten, dass in Wirklichkeit sie selbst die Angegriffenen sind. Das ist ein Grad an Zynismus, der jenseits aller Vorstellungskraft liegt, einschließlich meiner eigenen als Schriftstellerin. Ich habe noch nie so einen schamlosen Zynismus erlebt. Wir hoffen nur, dass sie nicht ihre eigenen Lügen glauben, denn die Wahrheit ist, dass sie alleine und isoliert sind in diesem Land. Ihre Anhängerschaft ist klein. Aber gerade weil wir unbewaffnet sind, muss die internationale Gemeinschaft Anstrengungen unternehmen, und uns zu unterstützen. Andernfalls könnten wir hier einen Völkermord erleben, ein Massaker ohne Gleichen in Lateinamerika.

Die nicaraguanische Schriftstellerin Gioconda Belli ist eine der bekanntesten Autorinnen Lateinamerikas. Die Dichterin und Romanautorin ist eine ehemalige Mitstreiterin der sandinistischen Revolution und hat wie keine andere in ihren Romanen die Entwicklung der revolutionären Ideale Nicaraguas, insbesondere aus den Augen der Frauen, nachgezeichnet. 

Das Gespräch führte Cristina Papaleo.