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Politik

Nicht integriert, erfolgreich diszipliniert

23. Februar 2019

Vor zehn Jahren verübten ungarische Rechtsterroristen einen furchtbaren Anschlag in der sogenannten Roma-Mordserie. Ausschreitungen gegen Roma gibt es heute nicht mehr. Doch die Minderheit lebt am Rande der Gesellschaft.

Ungarn Prozess Urteil rassistische Morde an Roma
Beerdigung der ermordeten Roma: Der Vater Róbert Csorba und sein viereinhalbjähriger Sohn starbenBild: picture-alliance/dpa

Die Mörder kamen nach Mitternacht. Zuerst zündeten sie das Haus an. Als die Eltern mit ihren beiden Kindern aus den Flammen flüchteten, schossen sie mit Schrotflinten auf sie. Der Vater Róbert Csorba, 28, und sein viereinhalbjähriger Sohn starben, die Tochter überlebte schwer-, die Mutter leichtverletzt.

Tatárszentgyörgy, 60 Kilometer südöstlich von Budapest: Hier verübten am 23. Februar 2009 ungarische Rechtsterroristen einen der furchtbarsten Anschläge der so genannten Roma-Mordserie. Dabei starben in den Jahren 2008 und 2009 insgesamt sechs Roma, 55 weitere Menschen, ebenfalls fast alle Roma, wurden zum Teil schwer verletzt.

Erfolgreiche Integration der Roma?

Der Mordanschlag im ungarischen Tatárszentgyörgy wurde vor zehn Jahren auf dem Höhepunkt einer Welle des Antiziganismus verübt. Damals, in der Endphase einer achtjährigen korrupten und chaotischen sozialliberalen Regierungszeit, marschierten in Ungarn allerorten rechtsextreme Milizen auf und forderten eine "Lösung der Zigeunerfrage".

Ruine des Hauses in Tatárszentgyörgy vor dem Robert Csorba und sein kleiner Sohn ermordet wurdenBild: DW/K. Verseck

Heute, zehn Jahre nach dem Mord von Tatárszentgyörgy, erinnert nur noch wenig an die hasserfüllte Stimmung von einst. Die vier rechtsextremen Roma-Mörder sind zu schwersten Haftstrafen verurteilt worden, gewalttätige Ausschreitungen gegen Roma gibt es nicht mehr.

Die Regierung von Ministerpräsident Viktor Orbán sieht das als einen ihrer großen Erfolge an. Man sei gegen rechtsextreme Umtriebe hart aufgetreten, betonen Regierungsvertreter. Und - viel wichtiger: Man habe erfolgreich Anstrengungen zur Integration der Roma unternommen, vor allem durch das so genannte Közmunka-System, ein kommunales Arbeitsprogramm für Sozialhilfeempfänger.

Eine marginalisierte Minderheit

Kritiker sehen das anders. Einerseits habe sich die Orbán-Regierung aus Rücksicht auf die Stimmung unter den Wählern eine gewisse antiziganistische Rethorik zu eigen gemacht, sagen sie. Anderseits seien Roma mit ordnungspolitischen Sozialmaßnahmen systematisch an den gesellschaftlichen Rand gedrängt worden. "Die Gesellschaft hat sich beruhigt, weil der Staat jetzt umsetzt, was sich viele Leute unter einem harten Durchgreifen gegen Zigeuner vorstellen", sagt der Roma-Aktivist Aladár Horváth.

Erzsébet Csorba vor ihrem Haus in TatárszentgyörgyBild: DW/K. Verseck

Er war nach dem Ende der Diktatur in Ungarn erster Roma-Parlamentsabgeordneter für die liberale Partei SZDSZ. "Orbáns Partei Fidesz ist auch deswegen vielen so sympathisch, weil sie unter den Roma 'Ordnung schafft'", so Horváth.

Gefährliche Vorurteile

Zwar ist Viktor Orbán persönlich kein expliziter Roma-Hasser. Doch er äußert sich immer wieder in zweifelhafter Weise über sie. So auch im Juli 2012, als seine Regierung gemeinsam mit führenden Roma-Politikern eine große sozialpolitische Initiative für Roma ankündigte. Damit es in Ungarn genügend Steuerzahler gebe, müssten auch die Roma arbeiten, so Orbán damals. "Von Kriminalität kann man nicht leben, auch von Sozialhilfe nicht", sagte der Premier wörtlich.

Die kollektive Abstempelung von Roma zu Straftätern und Schmarotzern ist ein verbreitetes ungarisches Narrativ und war aus dem Munde Orbáns vor allem ein deutlicher Satz an seine ungarischen Wähler.

Keine echte Integration

In der Praxis hat eine wirkliche Integration und Inklusion für die meisten der 600.000 bis 800.000 Roma in Ungarn nicht stattgefunden. Kommunale Arbeit ist für Sozialhilfeempfänger obligatorisch, wer nicht teilnimmt, verliert seinen Anspruch auf Sozialhilfe. Ungarischen Soziologen zufolge hat die kommunale Arbeit, anders als die Regierung behauptet, den meisten Teilnehmern keinen Weg auf den freien Arbeitsmarkt eröffnet.

Weit auslegbare Gesetzesbestimmungen ermöglichen der Lokalverwaltung auch eine quasi-polizeiliche Kontrolle von armen Menschen, darunter von vielen Roma: Bei mangelnder Hygiene im Haushalt oder dem Schwänzen der Schule von Kindern droht ein sofortiger Sozialhilfestopp oder Kindesentzug.

Die schulische Segregation ist in Ungarn vielerorts fest zementiert: Während Ärmere und Roma auf öffentliche Schulen gehen, schicken viele Bessergestellte ihre Kinder auf Privatschulen mit indirekt staatlich geförderten Stiftungen als Träger.

Auch die neuesten sozialpolitischen Maßnahmen der Orbán-Regierung enthalten eine gegen Roma gerichtete Bestimmung: Im Rahmen eines kürzlich von Orbán vorgelegten umfassenden Familien-Förderungsprogramms können Eltern vergünstigte Kredite erhalten - wenn sie zuvor mindestens drei Jahre steuerpflichtig gearbeitet haben. Auf die meisten Roma trifft das nicht zu.

Ausgrenzende Sozialpolitik

"Die Sozialpolitik in Ungarn berücksichtigt die in tiefer Armut Lebenden nicht, und dazu gehören auch die meisten Roma", sagt der frühere liberale Parlamentsabgeordnete József Gulyás, der seit zehn Jahren eine private Initiative zur Unterstützung der Überlebenden der Roma-Mordserie koordiniert.

Urteilsverkündung am 6.8.2013 im Prozess wegen rassistische Morde an RomaBild: Attila Kisbenedek/AFP/Getty Images

"Der gesellschaftliche Anschluss für arme Roma ist heute viel aussichtsloser als noch um die Jahrtausendwende", so Gulyás. "Die Situation der überlebenden Opfer der Roma-Mordserie steht stellvertretend dafür."

Erzsébet Csorba, die Mutter des 2009 ermordeten Róbert Csorba, hat sich mit ihrem Elend abgefunden. Sie lebt zusammen mit ihren Kindern und Enkeln nur wenige Schritte vom Ort des Mordes entfernt, in einem stark renovierungsbedürftigen Haus. Ihre Kinder und Enkel leben von Gelegenheitsarbeiten, regelmäßige Unterstützung erhält die Familie einzig vom Kreis um József Gulyás.

Hat sich anlässlich des zehnten Jahrestages des Mordes der Bürgermeister bei ihr gemeldet? Irgendein Politiker? Erzsébet Csorba sagt: "Nein."

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