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"Nie würde die Polizei noch einmal so versagen!"

Astrid Prange25. August 2015

Heidenau, Hoyerswerda, Solingen: Asylbewerberheime wurden in Deutschland wiederholt angegriffen. Der ehemalige Ausländerbeauftragte von Rostock, Wolfgang Richter, über den zähen Kampf gegen Fremdenfeindlichkeit.

Gedenken in Rostock 20 Jahre nach den Angriffen (Foto: dpa)
Bild: picture-alliance/dpa

Vor 23 Jahren, am 22. August 1992, stürmten rechtsradikale Randalierer die Aufnahmestelle für Asylbewerber in Rostock-Lichtenhagen und setzten ein Wohnheim für vietnamesische Vertragsarbeiter in Flammen. Über 3000 Zuschauer applaudierten. Angesichts der jüngsten Angriffe auf die Flüchtlingsunterkunft im sächsischen Heidenau erinnert sich der ehemalige Ausländerbeauftragte von Rostock, Wolfgang Richter, an die Nacht des Grauens.

Deutsche Welle: Gibt es Parallelen zwischen dem jüngsten Angriff auf das Asylbewerberheim in Heidenau und Rostock-Lichtenhagen?

Wolfgang Richter: In Heidenau wurde der Standort für das Asylbewerberheim sehr kurzfristig festgelegt. Dies hat den Unmut von Anwohnern hervorgerufen. Neonazis und rassistische Stimmungsmacher sind auf das Thema aufgesprungen. Da sehe ich Parallelen zu Rostock-Lichtenhagen.

Sie waren damals mit den 150 vietnamesischen Bewohnern in dem brennenden Haus auf sich allein gestellt. Auf eine Rettung durch die Polizei und Feuerwehr haben Sie vergeblich gewartet. Ist der Polizeischutz für Flüchtlinge heute besser?

Nach zwei Tagen Gewalt hatte sich die Polizei völlig zurückgezogen. Wir waren zwei Stunden allein im Haus und den Angreifern ohne jeden Schutz ausgesetzt. Hier in Rostock hat es danach engen Kontakt zur Polizei gegeben, und die Zusammenarbeit hat sich entscheidend verbessert. Nie im Leben würde die Rostocker Polizei noch einmal so versagen!

Wolfgang Richter war bis 2010 Ausländerbeauftragter der Stadt RostockBild: picture-alliance/dpa/B. Wüstneck

Besserer Polizeischutz für Flüchtlinge ist eine Lektion. Welche Lektionen ziehen Sie sonst aus Rostock-Lichtenhagen?

Es spielt eine große Rolle, die Standorte für Asylunterkünfte bewusst auszuwählen. Wir haben versucht, die neuen Unterkünfte Mitte und Ende der 1990er-Jahre in der Stadt anzusiedeln, nicht irgendwo außerhalb oder in einem Industrieviertel. Wichtig ist auch, rechtzeitig Einwohnerversammlungen zu organisieren, damit die Leute nicht über die Medien erfahren, wo neue Flüchtlingsunterkünfte entstehen. Und wir haben das Umfeld einbezogen und Beiräte gebildet, in denen Einwohner und Migranten vertreten waren.

Ihre Flüchtlingsarbeit ist bundesweit unter dem Stichwort "Rostocker Modell" bekannt geworden. Wäre das auch ein Modell für Heidenau?

Beim "Rostocker Modell" geht es um das Thema Integration, das über die Betreuung von Flüchtlingen hinausgeht. Wir haben fünf Schwerpunkte gebildet: Kindertagesstätten, Schule, berufliche Erstausbildung für jugendliche Migranten, Beruf und Sprache für erwachsene Migranten und Selbstorganisation von Migranten. Um so etwas zu organisieren, braucht man Partner in den politischen Parteien. Es braucht einen Oberbürgermeister, der öffentlich eine klare Position verkündet.

Noch immer werden Flüchtlingsunterkünfte über Nacht aus dem Boden gestampft, ohne dass Anwohner vorher informiert werden. Liegt dies an dem großen Andrang?

Das ist gut möglich. Aber auch wenn kurzfristig Flüchtlingsunterkünfte geschaffen werden, muss man versuchen, schnell eine Versammlung in dem Ortsteil einzuberufen. Das setzt einen hohen Einsatz voraus. Zum anderen ist die Haltung sehr wichtig. In der Bundespolitik gibt es mittlerweile andere Töne, als dies noch Anfang der 1990er-Jahre der Fall war.

Zwanzig Jahre nach dem Attentat gedenken Demonstranten im August 2012 vor dem Rostocker RathausBild: picture-alliance/dpa

Hatten Sie nach Rostock-Lichtenhagen auch Kontakt zu fremdenfeindlichen Mitbürgern? Oder gehen Sie solchen Begegnungen bewusst aus dem Weg?

Nach den Tagen in Lichtenhagen habe ich viel Zustimmung und Unterstützung bekommen, um meine Arbeit als Ausländerbeauftragter fortzuführen. Über Monate hinweg standen Blumen im Büro, weil Leute spontan vorbeikamen. Das hat mir sehr gut getan. Aber ich habe auch Briefe mit Beschimpfungen erhalten - und neun Morddrohungen.

In der Nacht von Rostock-Lichtenhagen mussten Sie und die vietnamesischen Vertragsarbeiter um Ihr Leben fürchten. Haben Sie da den Glauben an die Menschheit verloren?

Es hat sich bei mir etwas verändert. Was ich Menschen zutraue. Pogrome kannte ich bisher nur aus Geschichtsbüchern. In Rostock-Lichtenhagen habe ich erlebt, dass es Menschen gibt, denen es egal ist, wenn andere Menschen verbrennen. So tief habe ich noch nie in den menschlichen Abgrund geblickt.

Sind Ihnen auch Menschen begegnet, die ihre fremdenfeindliche Einstellung revidiert haben?

In Lichtenhagen haben mich Leute auf der Straße angesprochen und zugegeben, dass sie in den ersten beiden Tagen dabei waren. In der dritten Nacht, nachdem das Haus angezündet wurde, sei ihnen dann klar geworden, dass so etwas nicht passieren dürfe. Ich bin sicher, dass eine Ankündigung wie damals, dass "auf der Wiese aufgeräumt werden soll", heute in Rostock jede Menge Gegendemonstrationen auslösen würde. Im vergangenen Herbst hat zum Beispiel der Pegida-Ableger in Mecklenburg-Vorpommern dreimal Demonstrationen in Rostock angemeldet, aber nicht eine einzige durchgeführt, weil sie die Leute nicht mobilisieren konnten. Stattdessen gab es Gegendemonstrationen mit 3000 oder 4000 Leuten. Das war ein sehr massives und positives Zeichen in Rostock.

Wolfgang Richter war bis 2010 Ausländerbeauftragter der Stadt Rostock. Seit 2011 arbeitet er in einem sozialen Unternehmen. Er ist dort Bereichsleiter Kindertagesstätten, Familienhilfe, Schulbekleidung, Frühförderung und entwickelt neue Projekte.

Das Gespräch führte Astrid Prange.

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