Niederlande: Wie Drogenbanden den Rechtsstaat bedrohen
27. Dezember 2022Voller Hoffnung waren die Rechtsanwälte Peter Schouten und Onno de Jong und die Journalistin Saskia Belleman Anfang November in die Rechtbank Amsterdam gekommen, in das wichtigste Gerichtsgebäude der Stadt, um zu hören, wie es mit den Ermittlungen zum Tod ihres engen Freundes und Kollegen Peter R. de Vries weitergehen würde. Kurz vor Mittag entschied das Gericht, der Fall müsse Anfang kommenden Jahres neu aufgerollt werden - wegen neuer Beweise, die im Juli 2022 aufgetaucht waren, und wegen rechtlicher Probleme im Zusammenhang mit der Auswanderung eines an dem Fall beteiligten Richters.
Ein Sprecher der Familie von De Vries sagte, man sei dem Gericht zwar dankbar für den Versuch, die Schuldigen festzunageln. Der bisherige Prozess sei jedoch eine Tortur für die Familie gewesen. Auch die Anwälte und Belleman, Gerichtsreporterin der niederländischen Zeitung De Telegraaf, waren enttäuscht: "Der Gedanke, dass alles noch einmal gemacht werden muss, frustriert auch mich", sagte Belleman der DW. "Mir ist aber auch klar, wie unvermeidlich das ist, wenn es neue Verdächtige gibt, die uns mehr über die Ereignisse in jener Nacht sagen können, zum Beispiel, wer den Befehl zum Abdrücken gab."
Juristisches Chaos
Der Mord an dem renommierten niederländischen Kriminalreporter Peter R. de Vries im Juli 2021 schockierte das gesamte Land. Zum Zeitpunkt seines Todes besaß De Vries das Vertrauen von Nabil B., einem Kronzeugen im sogenannten Marengo-Prozess, einem aufwändigen Strafprozess gegen den niederländisch-marokkanischen Drogenboss Ridouan Taghi.
Staatsanwälte, die im Fall De Vries ermitteln, vermuten Taghis Gang hinter dem Mord. "Alle sind von der Drogenbande eingeschüchtert - Polizei, Richter, Staatsanwälte", klagt Schouten im Gespräch mit der DW. Der 65-Jährige Strafverteidiger vertritt Nabil B. im Marengo-Prozess. Dies führe dazu, dass Staatsanwälte Informationen zurückhielten, um ihre Zeugen zu schützen, Strafverteidiger getrennte Verfahren für ihre Mandanten forderten und ein an dem Fall beteiligter Richter das Land verlassen habe. "Wegen dieses ganzen Drucks kam es zu Fehlern", sagt Schouten. "Aber wir müssen uns juristisch für solche Situationen wappnen, aus diesen Ereignissen lernen und entsprechende Gesetzesänderungen vornehmen."
Ist der niederländische Rechtsstaat in Gefahr?
Die Niederlande sind in der gesamten EU für Rechtsstaatlichkeit und Pressefreiheit bekannt. Doch der Mord an De Vries und die Komplexität des Ermittlungsverfahrens haben Risse im niederländischen Rechtssystem offengelegt.
Schouten und sein Kollege Onno de Jong vertreten den Kronzeugen im Marengo-Prozess. Ihr erster Vorgänger Derk Wiersum wurde 2019 ermordet, der zweite legte das Mandat nieder. "Nachdem unser Kollege und Freund de Vries im Juli 2021 erschossen wurde, wurde unser Polizeischutz extrem verstärkt und umfasst jetzt Personenschützer und gepanzerte Autos. Wir beide stehen jetzt seit zweieinhalb Jahren unter diesem Polizeischutz und haben uns daran gewöhnt", erzählt Schouten der DW.
Italienische Verhältnisse an der Nordsee?
Solche Fälle sind "echt verrückt", meint Constanza, eine junge Italienerin, die in Den Haag lebt. "Überall werden die Niederlande als Paradebeispiel dafür betrachtet, wie Länder die Legalisierung von Drogen umsetzen können", sagt sie zur DW. Doch die liberale Gesetzgebung habe die Drogenmafia gedeihen lassen, so wie sie in ihrem Heimatland Italien gediehen sei. "Es öffnet einem die Augen für die Realität dahinter, wie die Niederlande zu einem Narco-Staat geworden sind. Es wurde nicht darauf geachtet, wie die Behörden im Justizsystem damit umgehen sollten."
Laut dem Global Organized Crime Index von 2021 ist die Kriminalitätsrate in den Niederlanden weiterhin nicht alarmierend. Unter 193 Staaten stehen die Niederlande an Stelle 107. Dem Index nach ist die Mehrzahl der kriminellen Netzwerke im Land in den Verkauf von Drogen auf der Straße, in Prostitution und in Waffenhandel verwickelt und konzentriert sich auf die Großstädte Amsterdam, Rotterdam und Den Haag.
Das ist einer der Gründe, warum Schouten weiterhin Teil des Marengo-Prozesses sein und organisierte Drogenbanden bekämpfen will, auch wenn er damit sein eigenes Leben in Gefahr bringt: "Ich konnte die Angst nicht ertragen, die in der Gesellschaft aufkam. In den Niederlanden und in Europa haben wir einen Rechtsstaat, der festlegt, wie wir gegen Kriminelle vorgehen und wie wir die Rechte der Menschen und von Verdächtigen garantieren. Deshalb ist meine Rolle als Rechtsbeistand in diesem Fall für mich wichtig", betont er.
Saskia Belleman beobachtet eine ähnliche Haltung unter Journalisten in den Niederlanden. "Meine Kollegen schreiben beharrlich über das organisierte Verbrechen und darüber, wie gefährlich und wie wichtig es ist, das organisierte Verbrechen zu bekämpfen. Aber wir sind alle vorsichtiger geworden", sagte sie der DW. "Einige unserer Kollegen stehen 24 Stunden am Tag unter Schutz, sieben Tage die Woche. Sie können ihre Arbeit nicht richtig machen, weil sie Tag und Nacht Begleitschutz haben. Das ist eine furchtbare Erfahrung, wie ein Leben unter einer Glasglocke. Beängstigend."
Den Niederlanden steht ein langer Weg bevor
Da der Fall de Vries Anfang 2023 neu verhandelt werden soll, haben die Anwälte Schouten und de Jong die Hoffnung noch nicht aufgegeben. Beide betonen jedoch die Dringlichkeit, sowohl innerhalb der Niederlande als auch in Europa Lösungen zu finden, um Rechtsfehler zu korrigieren und Menschen vor Kriminalität zu schützen. Laut einem Europol-Bericht aus dem Jahr 2021 breitet sich das organisierte Verbrechen seit Jahren in der gesamten EU aus. 65 Prozent der in der EU aktiven Verbrecherbanden setzen sich aus Mitgliedern verschiedener Staatsangehörigkeiten zusammen.
Die niederländische Justiz- und Sicherheitsministerin Dilan Yesilgoz-Zegerius versichert der DW, dass die Niederlande mit anderen europäischen Ländern wie dem benachbarten Belgien kooperieren, um "den Kampf gegen das organisierte Verbrechen zu gewinnen". "In den kommenden Jahren investieren wir zusätzlich mehr als 700 Millionen Euro, um die Sicherheit des Systems und der Menschen zu verbessern, die im Kampf gegen das organisierte Verbrechen arbeiten, wie Anwälte, Journalisten und lokale Beamte und Verwaltungsangestellte", sagt Yesilgoz-Zegerius.
Doch es wird ein langer Kampf werden, meint Anwalt De Jong: "Das Verbrechen endet nicht mit einem Urteil. Ich denke, wir werden über Jahrzehnte damit zu tun haben und natürlich kämpft die Regierung dagegen an." Aber, mahnt De Jong, das Gleichgewicht in unserem Justizsystem müsse bewahrt werden: "Wer das Verbrechen hart bekämpft, muss sicherstellen, dass auch die Angeklagten und Verdächtigen das bekommen, was sie benötigen: eine gute Verteidigung."
Adaptiert aus dem Englischen von Phoenix Hanzo.