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Glaube

Niemals nach Rom

23. November 2024

Eine Sehnsucht, die unerfüllt bleibt, hat ihren Wert. Sie kann auf das verweisen, was über unser Leben hinausgeht. Ein Beitrag der katholischen Kirche.

Kolosseum in Rom
Bild: Dorothee Britz

1949 im Hauptbahnhof Zürich. Am Fahrkartenschalter steht ein alter Mann. Es ist der berühmte Schweizer Psychoanalytiker Carl Gustav Jung. Er will ein Ticket nach Rom. Als der Beamte ihm die Karte ausstellt, fällt der 74-Jährige in Ohnmacht. Aus der Romfahrt wird nichts. 
 
Der Schwächeanfall hatte keine körperlichen Ursachen. C.G. Jung war gesund. Aber die Vorstellung, jetzt nach Rom zu reisen, hatte ihn überwältigt. Rom, die Ewige Stadt. Jung war noch nie dort. Immer hatte er davon geträumt, diese unvergleichliche Metropole mit eigenen Augen zu sehen. Endlich in der einstigen Hauptstadt der Welt zu sein, inmitten von so viel Kunst und Geschichte. 
 
Ungezählte Menschen haben sich diesen Traum erfüllt. Rom gehörte seit jeher zu den klassischen Orten, die Bildungsreisende gesehen haben mussten. Von Goethe und Herder über Winckelmann und Wilhelm von Humboldt bis zu Thomas Mann, Stefan Andres, Marie Luise Kaschnitz oder Ingeborg Bachmann, um nur einige zu nennen. Sie alle zog es an den Tiber. Manche blieben über Monate oder Jahre an diesem Sehnsuchtsort. Über keine Stadt der Welt ist so viel geschrieben worden wie über Rom! Werner Bergengruen (1892-1964) hat das Faszinosum der Roma aeterna so ausgedrückt: „Wer einmal, und sei es nur für eine noch so sparsam bemessene Zeit in Rom war, der hat in Jahrhunderten und in Jahrtausenden gelebt.“ 
 
Jacob Burckhardt (1818-1897), der große Kunsthistoriker und Landsmann C.G. Jungs, bekannte nach seinem Abschied von Rom: „Ich weiß es jetzt, dass ich außerhalb Roms nie mehr recht glücklich sein werde und dass mein ganzes Streben sich törichterweise in dem Gedanken konzentrieren wird, wieder hinzukommen.“ 
 
C.G. Jung dagegen hat seine römischen Reisepläne aufgegeben. Für immer. Er konnte nicht so nach Rom fahren wie nach Paris oder London. „Mit Rom ist das eine andere Sache“, erklärte er. Von dem „Geist, der hier gewaltet hat, (wird) man auf Schritt und Tritt im Innersten betroffen“. 
 
Die Geschichte klingt kurios. Aber kann man den großen Gelehrten nicht auch verstehen? Vielleicht ahnte er, dass seine Sehnsucht besser unerfüllt bleiben sollte. Denn könnte die reale Stadt wirklich seinen Träumen und Erwartungen entsprechen? Würde der Zauber Roms nicht zerstört durch geschlossene Kirchen, lärmende Touristen, streikende Museumsbeamte, missgelaunte Hotelangestellte, überquellende Mülltonnen oder das Verkehrschaos? 
 
Zugegeben, in unseren Tagen sind Enttäuschungen dieser Art noch wahrscheinlicher als zu Jungs Zeiten. Der Massentourismus hat die Stadt verändert. Selbst im Hochsommer gibt es vielerorts großes Gedränge und lange Warteschlangen. Der Spruch, wonach im August Rom „den Deutschen und den Katzen gehöre“, gilt schon lange nicht mehr. Und im bevorstehenden Heiligen Jahr dürfte es angesichts der zu erwartenden Pilgerströme nicht entspannter zugehen… 
 
Aber es war gewiss nicht die Sorge vor möglichen Problemen im realexistierenden Rom, die Jung dazu brachten, seine Reisepläne zu begraben. Er wollte sich eine Sehnsucht ganz bewusst bewahren. Darauf kam es ihm an. Er war sich sicher: Nur die Sehnsucht vermittelt eine Ahnung davon, dass es mehr gibt als das Reale, das wir im Hier und Jetzt konkret erfahren können. 
 
Ein irischer Gebetswunsch formuliert das so: „Ich wünsche dir nicht das Paradies auf Erden, aber dass Du oft davon träumst. Ich wünsche dir nicht die Erfüllung deiner Sehnsucht, aber dass Du sie nicht aufgibst. Denn so, in der Ahnung von Wunderbarem, das sich dir jetzt noch verschließt, bist Du der Mensch, der auf dem Weg bleibt.“ 
 
 
 Autor: Andreas Britz 
Jahrgang 1959; ehemals Lehrer für Katholische Religion und Geschichte am Johann-Wolfgang-Goethe-Gymnasium im südpfälzischen Germersheim; Regionaler Fachberater für Katholische Religion an den Gymnasien und Integrierten Gesamtschulen in der Pfalz; seit 2024 im Ruhestand. Langjähriger Autor von Verkündigungssendungen im Auftrag des Bistums Speyer in SWR und Deutschlandfunk. 

Dieser Beitrag wird redaktionell von den christlichen Kirchen verantwortet.