Nigerias Regierung steckt vor den Wahlen in der Zwickmühle: Wird sie Separatistenführer Nnamdi Kanu erneut anklagen? Ein Gericht hat Anklagen wegen Terror gegen ihn fallen lassen, zivile Gruppen fordern nun einen Dialog.
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Das nigerianische Berufungsgericht hat vergangene Woche die Anklagen wegen Terrorismus gegen den Separatistenführer Nnamdi Kanu fallengelassen - ein Anlass für großen Jubel bei seinen Unterstützern im Südosten Nigerias. Allerdings mit Vorbehalt, denn noch ist der Anführer der Befreiungsbewegung "Indigenious People of Biafra (IPOB)" nicht frei, er bleibt vorerst in Haft. Mehr noch: Es drohen sogar neue Anklagen gegen Kanu seitens der Regierung des westafrikanischen Landes.
"Kanu wurde nur entlastet und nicht freigesprochen", kommentierte Nigerias Justizminister und Staatsanwalt Abubakar Malami laut Medienberichten den Richterspruch. Die Entscheidung des Gerichts beziehe sich nur auf die Auslieferung von Kanu an Nigeria durch Kenias Behörden und nicht auf Anklagen aus der Zeit davor, die "nach wie vor gültige Fragen für eine gerichtliche Entscheidung" seien.
Regierung in der Zwickmühle
Nnamdi Kanu, Anführer der verbotenen, von der Regierung in Abuja als Terrorgruppe eingestuften IPOB, wurde erstmals 2015 festgenommen, floh aber 2017 aus Nigeria, nachdem er auf Kaution freigelassen worden war. Im Juni 2021 wurde er in Kenia in Ostafrika gefasst und an Nigeria ausgeliefert. Kanu bestreitet jegliches Fehlverhalten. Seine Anwälte fordern die sofortige Freilassung.
Die nigerianische Regierung überlege nun, was sie tun könne, sagt Alex Vines, Leiter des Afrika-Programms der Londoner Denkfabrik Chatham House. "Fakt ist, dass in Nigeria in vier Monaten Wahlen sind, und Kanu hat sich dafür eingesetzt, dass diese Wahlen in seinem Wahlkreis im nigerianischen Delta nicht abgehalten werden", so Vines mit Blick auf die Präsidentschaftswahlen im DW-Interview.
Die Regierung von Präsident Muhammadu Buhari stecke jetzt in einer Zwickmühle, was ihre nächsten Schritte angeht, fügt Vines hinzu. Sollte Berufung gegen die Gerichtsentscheidung über Kanus Freilassung eingelegt werden oder sollte er ungehindert das Gefängnis verlassen dürfen, ein Separatistenführer, dessen Ziel weiterhin die Abspaltung des Südostens Nigerias ist? Offenbar fürchtet die Regierung Unruhen durch die IPOB-Anhänger vor der Wahl.
Anklagepunkte aufgehoben
Die Entscheidung der drei Richter des Berufungsgerichts wird von vielen Beobachtern als schwerer Schlag für die Regierung gewertet, die Kanu unter anderem wegen Hochverrats inhaftiert hatte. Doch das Berufungsgericht hatte die Anklagen am 13. Oktober unter anderem mit der Begründung abgelehnt, dass Kanu illegal von Kenia an Nigeria ausgeliefert worden sei.
Die Richter hoben zudem alle sieben Anklagepunkte wegen Terrorismus auf, die eine untere Instanz gegen den Separatistenführer vorgebracht hatte. Die Bundesregierung in Abuja habe bei der gewaltsamen Überstellung von Kanu nach Nigeria gegen alle nationalen und internationalen Gesetze verstoßen, heißt es.
Der nigerianische Jurist Auwalu Yadudu erklärt die Rechtslage: "Einen Verdächtigen zu entlasten, bedeutet, dass er von den gegen ihn erhobenen Anschuldigungen entbunden, aber nicht freigesprochen wird."
Das bedeutet im konkreten Fall: Wenn Kanu freigelassen würde, könnten die Behörden ihn sofort wieder festnehmen lassen und ihn entweder wegen derselben oder einer anderen Straftat anklagen, so Rechtsexperte Yadudu im DW-Interview: "Kanu kann nur dann frei sein, wenn das Gericht auch bei neuen Anklagen feststellt, dass die Anschuldigungen nicht zweifelsfrei bewiesen sind und ihn freispricht."
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Zeitpunkt für Dialog
Die Organisation Ohaneze Ndigbo versucht die Anliegen aller Menschen vom Volk der Igbo zu vertreten. Sie spricht von einem Seufzer der Erleichterung für die Igbos nach dem aktuellen Urteil. Die Organisation lobt die nigerianische Justiz für "ihre Aufrichtigkeit" und sieht daher jetzt einen perfekten Zeitpunkt für einen Dialog mit den Repräsentanten des Landes.
Alex Chiedozie Ogbonna ist Sprecher der Ohaneze Ndigbo. Er sagte im DW-Interview, sie seien voller Aufregung und Jubel, gibt aber zu bedenken: "Die Inhaftierung von Nnamdi Kanu hat im Südosten und in der Tat in ganz Nigeria viele Schäden verursacht."
Die Organisation Ohaneze Ndigbo fordert nun nach dem Gerichtsurteil, dass Dialog die nächste Phase und Option für die Regierung sein sollte, um einen dauerhaften Frieden im Südosten zu erreichen. Außerdem seien die Führer in der Region bereit, Nnamdi Kanu zu einem solchen echten Dialog mit Präsident Buhari zu begleiten.
Wunsch nach Unabhängigkeit bleibt
Peter Trader ist ein begeisterter Anhänger von Kanus Separatistengruppe IPOB - für ihn hat das Urteil der "Gerechtigkeit Genüge getan", sagte er der Deutschen Welle. "Wir sind so glücklich, ich bin so aufgeregt als Sohn Biafras", sagt Trader und fügt an: "Egal, wie die nigerianische Regierung unseren Kampf zum Schweigen bringen will, sie kann uns niemals dazu bringen, dieses Ziel aufzugeben, unser Ziel ist es, einen souveränen Staat Biafra zu erhalten."
Vor 50 Jahren: Große Solidarität mit Biafra
Der Biafra-Krieg im Osten Nigerias erschütterte vor 50 Jahren die Weltgemeinschaft. International forderten Prominente das Ende des Krieges - auch deutsche Persönlichkeiten. Doch woher kam diese Solidaritätswelle?
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50 Jahre Biafra - das Echo der Unabhängigkeit
Zweieinhalb Jahre, mehr als zwei Millionen Menschenleben: Am 15. Januar 1970 endete in Nigeria ein Bürgerkrieg, der die Weltöffentlichkeit erschütterte, gekämpft mit der Waffe des Hungers. Ein halbes Jahrhundert später werden die Rufe nach einem unabhängigen Biafra erneut immer lauter. Damals sprachen sich auch viele Deutsche gegen den Biafra-Krieg aus. Ein Rückblick nach 50 Jahren.
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Krieg zulasten der Schwächsten
Angehörige der Igbo, einer vorwiegend christlichen Bevölkerungsgruppe Nigerias, hatten am 30. Mai 1967 die unabhängige Republik Biafra ausgerufen. Die fast 14 Millionen Bewohner der Region feierten die Gründung, doch ein Jahr später tobte der erste Krieg seit der Entkolonialisierung in Afrika. Der Name Biafra wurde zum Synonym für Elend, Hunger, Verzweiflung und Massensterben.
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Einschneidender Verlust
Als nigerianische Truppen im Mai 1968 die Hafenstadt Port Harcourt eroberten, verlor der Separatstaat Biafra seinen einzigen Zugang zum Meer. Fortan mussten die Eingeschlossenen aus der Luft versorgt werden - ein klarer Sieg für das nigerianische Bundesheer. Mit einer Stärke von 40.000 Mann waren die Aufständischen unter Führung des Generals Ojukwu weit unterlegen und schlecht ausgebildet.
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Die "Biafra-Babys"
Die nigerianischen Truppen begannen einen Belagerungskrieg, in dem sie versuchten, die Separatisten auszuhungern. Die "Biafra-Babys" waren bald in der ganzen Welt bekannt, eine beispiellose Solidaritätsbewegung setzte ein, die humanitäre Katastrophe bewegte Menschen auf der ganzen Welt. Die Zahl der an Hunger sterbenden Kinder und alten Menschen erreichte im Sommer 1968 bis zu 10.000 am Tag.
Bild: Gemeinfrei
Demonstration für ein Volk in Not
Der Krieg um Biafra mobilisierte Menschen in Deutschland, wie es kein anderes afrikanisches Ereignis jemals zuvor vermocht hatte. Im August 1968 starteten biafranische und deutsche Studenten von Frankfurt aus einen fünftägigen Fußmarsch nach Bonn. Sie forderten die diplomatische Anerkennung Biafras als souveräner Staat. Die Fahne mit der aufgehenden Sonne war Biafras Nationalflagge.
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Prominente Unterstützung
"Als Deutsche sollten wir wissen, was wir sagen, wenn wir das Wort Völkermord aussprechen,… denn Schweigen wird zur Mitschuld." Schriftsteller Günter Grass war der wohl prominenteste Redner auf einer Kundgebung gegen den Krieg in Biafra im Oktober 1968 in Hamburg. Das Thema traf in Deutschland einen Nerv: In den 1960er-Jahren begann dort Vergangenheitsbewältigung nach dem Zweiten Weltkrieg.
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"Hungern nach Gerechtigkeit"
In Deutschland engagierten sich Bischöfe, Parlamentarier und Bürgerinitiativen - auch der Evangelische Kirchentag 1969 setzte sich mit Biafra auseinander. Gesammelt wurden Geld und Hilfsgüter, die ins belagerte Biafra geflogen wurden. Der ehemalige deutsche Luftwaffenpilot Friedrich Herz bildete zunächst in Biafra Kampfpiloten aus, bevor er selbst Einsätze gegen die nigerianische Armee flog.
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Geburtsstunde der GfbV
In Hamburg riefen die Studenten Klaus Guerke und Tilman Zülch (Bild) das "Komitee Aktion Biafra-Hilfe" ins Leben. Unterstützung erhielten sie von so unterschiedlichen Personen wie dem Berliner Bürgermeister Heinrich Albertz, den Schriftstellern Günter Grass und Luise Rinser, oder dem Münsteraner Bischof Heinrich Tenhumberg. Später ging daraus die Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) hervor.
Bild: picture-alliance/dpa/M. Schutt
Ein Krieg abseits aller Denkmuster
Der Historiker Golo Mann lobte die Biafra-Hilfe, die unter Kommilitonen nicht immer nur auf Verständnis gestoßen sein dürfte: "Ein Krieg, in dem englische 'Imperialisten' und russische 'Kommunisten' am gleichen Tau des Verbrechens ziehen, eine ehemalige Kolonie um die angebliche Einheit ihres Staates kämpft, gegen einen Stamm, der nicht einmal 'sozialistisch' ist, ... da schadet alle Theorie."
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"Biafra - Millionen sterben"
In London marschierten Demonstranten von der damaligen sowjetischen Botschaft zum Sitz des Premierministers in 10 Downing Street. Sie protestierten dagegen, dass sowohl die Sowjetunion als auch Großbritannien Nigerias Krieg gegen Biafra mit Waffenlieferungen unterstützten. Auch der britische Labour-Parteipolitiker Michael Barnes sprach auf einer vom "Biafra-Komitee" organisierten Kundgebung.
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"A wie Auschwitz - B wie Biafra"
Viele engagierte Menschenrechtler waren fassungslos über das ausbleibende internationale Engagement. In Zeitungsanzeigen, auf Plakaten mit Slogans wie "A wie Auschwitz - B wie Biafra" oder in scharf formulierten Appellen entluden sie ihren Frust. Bekannte Deutsche wie Erich Kästner (Bild), Ernst Bloch, Paul Celan, Marcel Reich-Ranicki oder Martin Walser als Unterzeichner gaben dem Gewicht.
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Anstoß zur Ärztehilfe
Der französische Arzt Bernard Kouchner reiste 1968 nach Biafra, wo er als Teil des Internationalen Roten Kreuzes (IRK) versuchte, der notleidenden Bevölkerung medizinische Hilfe zu leisten. Kouchner kritisierte die Haltung des IRK, sich nicht in die Politik der Kriegsparteien einzumischen. Er legte mit den Grundstein für die international tätige Nichtregierungsorganisation "Ärzte ohne Grenzen".
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Die Rufe sind nicht verstummt
Spenden aus aller Welt hatten Biafra am Leben erhalten. Hilfsorganisationen der Kirchen und das Internationale Komitee vom Roten Kreuz schickten 7350 Flugzeugladungen mit 81.300 Tonnen Lebensmitteln und Medikamenten in den Buschkessel. Trotzdem musste Biafra am 15. Januar 1970 vor Nigeria kapitulieren. Doch die Rufe nach einem unabhängigen Biafra sind bis heute nicht verstummt.
Bild: picture-alliance/Leemage/MP/Lazzero
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Der Wunsch nach Unabhängigkeit von der Bundesregierung ist Jahrzehnte alt. 1967 erklärte der ölreiche, christlich geprägte Südosten Nigerias seine Unabhängigkeit und rief die Republik Biafra aus. In einem grausamen Krieg eroberte Nigeria das Gebiet 1970 zurück. Rund 30 Millionen Igbos leben im Südosten Nigerias. Mit Gründung der IPOB-Bewegung durch ihren Anführer Nnamdi Kanu 2012 werden Rufe nach der Unabhängigkeit wieder lauter.
Mitarbeit: Muhammad Bello (Nigeria), Edward Micah (Bonn)