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Musik

"Wieland Wagner war werktreu"

Rick Fulker
27. Juli 2017

Die Tochter des berühmten Regisseurs ist heute Intendantin des Beethovenfests Bonn. Im 100. Geburtsjahr von Wieland Wagner spricht sie mit der DW über sein Leben und sein Werk - und was davon geblieben ist.

Porträt Nike Wagner
Bild: picture-alliance/dpa/O. Berg

Deutsche Welle: Am 24. Juli, einen Tag vor der Eröffnung der Bayreuther Festspiele, fand ein Festakt im Festspielhaus statt. Bemerkenswert dabei war die Auswahl der Musiken, die da gespielt wurden: In über 140 Jahren Festspielgeschichte kann man fast an einer Hand abzählen, wie oft Musik, die nicht von Wagner komponiert wurde, hier gespielt wurde. Aber bei diesem Festakt standen auch andere Komponisten auf dem Programm. Das stellt auch einen Bruch mit der Geschichte dar. Wie kam es dazu?

Nike Wagner: Meine Geschwister und ich haben dieses Programm entworfen. Aber nicht als Akt des Widerstands gegen die Vorschriften der Bayreuther Institutionen, sondern hier ging es um ein Porträt von Wieland Wagner. Und Wieland Wagner hat ja nicht nur Wagner inszeniert, sondern gottlob auch die Opern anderer Komponisten. Um eine Ahnung von seinem Schaffen zu geben, beginnen und enden wir zwar mit Wagner, seinem familiären Zentralgestirn, dazwischen aber gibt es Ausschnitte aus Verdis "Otello" und Alban Bergs "Wozzeck" - 1965 und 1966  von Wieland Wagner in Frankfurt inszeniert.

Es ist eigentlich ein witziges Programm, wenn man bedenkt, dass Verdi der große Antipode zu Wagner im 19. Jahrhundert war, und Alban Berg zu der - auch in Bayreuth - verfemten Moderne der 20er/30er-Jahre gehörte. Sozusagen durch die Hintertür und über den Wagner-Enkel selbst werden Bayreuther Gesetze aufgebrochen. Unser Programm musste freilich von der Festspielleitung und von der Richard-Wagner-Stiftung genehmigt werden - und als Nachkommen Wielands waren wir froh, dass hier keine Barrieren errichtet wurden.

Wir wissen nicht, wie viele "Altwagnerianer" sich im Grab umdrehen, wie es so schön heißt, aber das bedeutet ja auch, dass sie größtenteils ausgestorben sind.

Die Wagner-Orthodoxie alten Schlages gibt es längst nicht mehr. An ihre Stelle ist entweder die Gegnerschaft zum zeitgenössischen Regietheater überhaupt getreten oder halt einfach die Ahnungslosigkeit.

Nike Wagner bei der Wiedereröffnung des Wagner-Museums in Wahnfried 2015Bild: picture-alliance/dpa/R. Wittek

Die Wolfgang- und die Wieland-Zweige der Wagnerfamilie - die Nachkommen der beiden Enkel Richard Wagners - sind seit langem nicht gerade miteinander befreundet. Deutet sich jetzt eine Annäherung an?

We try harder... Zumindest bei diesem Festakt zum Andenken an den Begründer von Neubayreuth ist die Zusammenarbeit tadellos gelaufen. Und es ist ja nicht so, dass diese Familien immer nur überkreuz miteinander lagen. Die Familiendifferenzen in der vorherigen Generation kamen daher, dass zwei Brüder - Wieland und Wolfgang - auf demselben Festspielthron saßen und dieselben Rechte hatten. Das wäre bei den friedfertigsten Charakteren nicht gut gegangen. Dann ist der Ältere und künstlerisch Bestimmende früh gestorben, mit 49 Jahren, und damit war auch seine Familie aus Mitarbeit und Nachfolge raus.  Der Jüngere, Wolfgang, festigte seine Herrschaft in Familie und Politik über Jahrzehnte und hatte das Erbfolge-Spiel gewonnen. Vielleicht irre ich mich, aber jenseits der generellen Entfremdung gibt es heute bisweilen Freundlichkeiten - und plötzlich steht man nebeneinander und trinkt ein Glas Wein. So geschehen bei der Feier anlässlich des 50. Todestages meines Vaters im Januar 2017. Ohnehin hatte ich mich seit 2008 - seitdem meine Bewerbung zusammen mit Gerard Mortier um die Leitung scheiterte - nie wieder zur Causa Bayreuth gemeldet.

Und auch nicht zurückgeschaut?

Ich bin seither mit dem Thema nicht mehr aktiv in der Öffentlichkeit - weder mit Kritik noch mit anderen Kommentaren. Vorbei ist vorbei.

Leben und Arbeit identisch

Zu Ihrem Vater Wieland Wagner: In der Wahrnehmung der Öffentlichkeit war er untrennbar mit seiner Arbeit verbunden - Regie, Festspielleitung, Kunst. War er auch Familienmensch?

Er kam aus einem vielköpfigen Familienhaushalt, und Familie war für ihn etwas Positives und Selbstverständliches. Die Arbeit mit den Kindern wurde ohnehin in altem Stil erledigt. Von seiner Seite aus gab es wärmste Anteilnahme, abzulesen an den zauberhaften Briefen, die er an seine Kinder geschrieben hat, und an den tausend Bemühungen, als diese zu "Halbstarken" mutierten. Er tat alles, um zu fördern, Ausbildungs-Schienen zu legen, aber auch Freiheiten zu lassen. Etwaige Talente wurden aufmerksam registriert. Wer spielt Klavier, wer kann zeichnen? Wir konnten Papi jederzeit bei der Arbeit beobachten, er saß an seinem Tisch, blätterte in Kunstbüchern, schrieb Briefe mit der Hand oder machte Zeichnungen -  jeder guckte mal vorbei, entweder bei den Regie- und Beleuchtungsproben oder wenn er nächtelang im Festspielhaus vor seinen Bühnenbild-Modellen saß und seine Klötzchen und Figuren herumschob.

Leben und Arbeit waren für Wieland Wagner identisch - auch deshalb, weil meine Mutter seine wichtigste Mitarbeiterin war. Sie kam vom Tanz und der Choreographie und brachte ihm die Grundlagen der Bewegungsführung bei. Vor allem in den frühen Jahren zogen sich die beiden zum Arbeiten in die "Halle" in Wahnfried zurück, man hörte Musik, und aus dem Geist der Musik entstand das Inszenierungs-Konzept.

Wieland Wagner mit dem Sänger Dietrich Fischer-Dieskau, der 1961 die Rolle von Wolfram von Eschenbach in Wagners "Tannhäuser" sangBild: AP

Wieland war also kein abwesender, sondern ein sehr präsenter Vater. Spät erst wurde das anders. Außer in Bayreuth begann er an vielen auswärtigen Bühnen zu inszenieren, wir Kinder waren in Internaten, man hat sich wenig gesehen. Das Musikbetriebs-Karussell drehte sich immer schneller, die Anforderungen wuchsen - auch finanziell - und nahmen ihm den Atem. Es kam die letzte Etappe seines Lebens. Ich war 21 Jahre alt, als er starb.

War er ein spielerischer Mensch? Muss man eine spielerische Natur sein, wenn man Regisseur sein will?

Er war keine "spielerische" Natur. Er war eher ein depressiver, belasteter, schweigsamer Mensch, der sich freilich wunderbar sarkastisch, witzig, ironisch zu artikulieren verstand und überhaupt ein glänzender öffentlicher Redner war. Er hatte aber so seine spezifische Schwere, wirkte ruhig, bis ein explosiver Wutausbruch alle erschreckte. Wie sein Bruder Wolfgang hatte er ein cholerisches Temperament: Er konnte das Tischtuch herunterreißen, wenn das Essen mal wieder schlecht war, Türen knallen, mit Lebensmitteln um sich werfen oder die Kleider meiner Mutter in der Dusche zertrampeln.

Daran konnte man messen, wie irrsinnig die Belastung schon in den ersten Jahren nach der Wiedereröffnung der Festspiele war. Er hatte alle gegen sich: die Presse, die Kritik, das Publikum. Trotz aller polemischen Selbstversicherungen: Wer konnte ihm garantieren, dass er künstlerisch auf dem richtigen Weg war?

Festspielleiter mit Erblast

Es gibt den Spruch: "Wenn man die Hitze nicht aushalten kann, sollte man aus der Küche raus." Nach den heftigen Reaktionen auf seine Inszenierungen muss er auch Angst bekommen haben, oder?

Ja, die Ablehnung war extrem. Heute kommt es uns ganz altmodisch vor, was er verteidigen musste -  immer ging es um den Begriff der "Werktreue". Mein Gott, heute redet kein Mensch mehr so. Aber damals waren die alten Gralshüter alle noch da: die Wagner-Vereine, Wagner-Gesellschaften, das Wagnerpublikum. Und dabei war er "werktreu"! Nur nicht dem Buchstaben, sondern dem Geist eines Werks nach. Durch alles Zeitbedingte hindurch wollte er immer zu einem Kern vordringen - zu einem "Archetypischen". Dieser Kern war dann paradoxerweise auch das, was ihm die moderne Neudeutung eines Werkes erlaubte. "Walhall ist Wall Street" sagte er einmal.

Wieland Wagner (rechts) war ein Günstling Adolf Hitlers. Ebenfalls abgebildet: Richard Wagners Schwiegertochter Winifred Wagner, damalige Leiterin der Bayreuther FestspieleBild: picture-alliance/akg-images

Er trug auch eine Last aus der Jugend...

Eine wahnsinnige Last! Bereits als Säugling hat man ihn zum "Erben" erklärt. Und zunächst waren seine künstlerischen Ansätze entsprechend traditionalistisch, die frühen Bühnenversuche fast naturalistisch, nur etwas symbolistisch überhöht. Seine "Parsifal"-Bühnenbilder von 1937 in Bayreuth waren retro - verglichen mit der milde-progressiven Moderne, die ja schon mit dem Regisseur Heinz Tietjen und dem Bühnenbildner Emil Preetorius auf die Bayreuther Bühne kam. Deren Neuerungen fand Wieland, ganz junger Oppositioneller, eher schrecklich. Der "Erbe" war erst mal altmodisch.

Zur Last dieser Jugend kamen zudem die politischen Umstände. Statt Wieland Wagner im Kontext einer Zeit zu sehen, die luftdicht nationalsozialistisch war, besonders in der reaktionären Kleinstadt Bayreuth, und besonders im völkischen Dunstkreis der Wagnerei, berauschen sich die Leute heute am Horrorbild: "Der war Nazi und Günstling Hitlers". Ja, der Wagnerianer Hitler hat ebenfalls den "Bayreuth-Erben" in Wieland gesehen, seine Wunsch-Sohn-Projektionen auf den bildnerisch begabten Jungen gerichtet und ihn durch Geschenke begünstigt. Wieland war sechs Jahre alt, als Hitler zuerst ins Haus kam, und naturgemäß blieb er nicht unbeeindruckt von der Schwärmerei seiner Mutter für diesen "Retter Deutschlands". Und es ist richtig, dass ihm, als er sein Erbe antreten wollte, als Protektor nur Adolf Hitler einfiel, um den Rivalen Heinz Tietjen zu entmachten. Eine grauenhafte Konstellation! Im Unterschied zu seiner nazitreuen Mutter aber gab es beim Sohn ein Nachdenken, ein Umdenken, einen Bruch mit der Vergangenheit.

Als er nach Kriegsende an die Festspielleitung kam, war er knapp über dreißig - und erkannte und nutzte seine Chance, riskierte den radikalen ästhetischen und ideologischen Neubeginn. Das sagt sich so leicht - aber dass das möglich war für einen, der nicht nur durch das alte Weihe-Bayreuth der Cosima/Siegfried-Ära, sondern auch durch das braune Bayreuth geprägt war, ist fast unbegreiflich. Zumal mit Werken, die er seit seiner Kinderzeit kannte: Er wurde doch schon ein halbes Leben lang mit nichts als Wagnermusik zugeschüttet.

Rastlose Fortentwicklung

Heute gilt sein Neuanfang als Triumph. Hat er das selber so wahrgenommen? Ist er jemals am Ziel angekommen?

Er hasste alle Formen des künstlerischen Stillstands. Es ging ihm um Veränderung und Entwicklung. Deshalb der Slogan, den er für sein Neubayreuth erfunden hatte: "Werkstatt". Für seine kurze Schaffenszeit zwischen 1951 und 1966 lässt sich das genau nachweisen: unaufhörliche Weiterarbeit am einmal Gefundenen, ob beim Bühnenbild oder bei den Kostümen. Auch sein Theaterverständnis änderte sich ja - von der großen Leere, Dunkelheit und Abstraktion der frühen Jahre ging es bald zu einer neuen Plastizität mit kräftigen Symbolzeichen. Besonders gelungen in seinem zweiten "Tristan" von 1963 und in seinem zweiten "Ring" von 1965. Oder denken Sie an das unbekümmerte Vollräumen der Bühne in seinen berühmten "Meistersingern" von 1963  mit Anklängen an Shakespeare - oder an das dichte Mobiliar für Alban Bergs "Lulu". In solchen Inszenierungen änderte sich auch der bisherige "rituelle" Bewegungsstil und wurde durch pointiertes Schauspielen ersetzt. Den "Sängerschauspieler", den Richard Wagner schon haben wollte, brachte der Enkel auf die Bühne.

Kannte er auch die musikalische Praxis?

Er hat ziemlich gut Klavier gespielt, kannte sich in der Musiktheorie aus und hatte sowohl das Partiturlesen wie auch das Dirigieren erlernt. Der Unterricht kam in der Hauptsache von einem Privatlehrer, dem aus Wien stammenden Kurt Overhoff, der bis 1940 Chefdirigent in Heidelberg war. Von Overhoff hat er auch gelernt, wie man musikalische Modulationen in Lichtmodulationen umsetzt. Auch fürs Zeichnen und Malen gab es einen achtbaren Lehrer in München. Trotz dieser hinreichend guten Ausbildung behauptete Wieland freilich immer, er sei Autodidakt gewesen - und irgendwie stimmte das auch. Er hat nie eine Universität oder eine Hochschule von innen gesehen.

Die Wagner-Enkel Friedeland, Wieland, Wolfgang und Verena beim Unterricht in den 1930er Jahren. Früh erklärte man Wieland, den ältesten, zum Wagner-ErbenBild: picture-alliance/akg-images

Die große Aufarbeitung der Nazi-Zeit in Deutschland kam nicht in den ersten Nachkriegsjahren, sondern Jahrzehnte danach. War der Regiestil von Neubayreuth in den 1950er Jahren - also: Weg mit der Tradition! - auch eine Aufarbeitung? Oder wurde da eher einfach ein Schlussstrich gezogen?

Für die Wagnerbrüder handelte es sich damals um einen Neuanfang. Darin wäre ein "Schlussstrich" durchaus enthalten, und in der Distanzierung von den Altwagnerianern wie von den Nazis wurde dies auch durchgeführt. Den Begriff der "Aufarbeitung" aber gab es damals in diesen Kreisen nicht, das war kein Thema.

Niemand hat das damals thematisiert?

Das war die Wirtschaftswundergeneration, alle haben nur an den Wiederaufbau gedacht. Ein gewissermaßen stehengebliebenes Bewusstsein bei hektischer äußerer Aktivität war für die ganze Generation typisch. Auch mein Vater hat sich wenig zur Nazizeit geäußert, nur in einzelnen ablehnenden Sätzen. Da die Familie Wagner zu nah an Hitler dran war, konnte er ja auch buchstäblich nicht darüber reden. Er konnte nur in seinem Metier - im Medium des Ästhetischen - zeigen, dass er etwas begriffen hatte: Wielands "Entrümpelung" der Bühne kann man auch als eine Art Reinigung sehen, als einen Waschvorgang sozusagen. Und er mistete im beruflichen Alltag überall aus, wo er Altnazis witterte - so weit er konnte. Denn es gab natürlich auch Mitarbeiter bei den Festspielen, die seit den 30er Jahren da und unentbehrlich waren. So wie überall in Deutschland: Alle waren irgendwie dabei gewesen und viele wurden danach wieder eingesetzt, weil sie in ihrem Bereich Profis waren.

Wie man Opernsänger führt

Das erste, woran man bei Wieland Wagner denkt, ist das - oft fast leere - Bühnenbild. Das andere ist die Personenregie. Was sind die Merkmale des Wieland-Wagner-Stils, und wie hat er seinen Stil technisch umgesetzt?

Zwei Brüder auf demselben Thron: Wieland (links) und Wolfgang Wagner, Ko-Leiter der Bayreuther Festspiele von 1951 bis zu Wielands Tod 1966Bild: AP

Das Schlagwort von einer "statuarischen" Regie machte damals die Runde. Es bezeichnete die sehr sparsame, stilisierte Bewegungsführung, die zumeist langsamen Gangarten, die wenigen, betonten Gesten. Zusammen mit der abstrakten, der leeren Bühne lauerte da eigentlich die Gefahr der Langeweile. Sie wurde vermieden, indem jede einzelne Bewegung mit Ausdruck und Spannung aufgeladen erschien. Meine Mutter war Tänzerin und Choreographin und kam vom Ausdruckstanz der Mary-Wigman-Schule. Sie wusste, wie man Spannungsverhältnisse zwischen handelnden Personen aufbaute: Wer wann einen bedeutungsvollen diagonalen Gang tat, wer wann wem den Rücken zudrehte, welche Geste zu viel wäre. Es durfte in keinem Fall eine Verdoppelung der musikalischen Akzente und der Körperakzente geben: Wenn die Musik schon "Bum!" machte, musste der Körper stillhalten - oder erst zeitverzögert antworten. Durch das Oszillieren zwischen Mit-der-Musik und Gegen-die-Musik entstanden Innenspannungen, die sich auf ein gebanntes Publikum übertrugen.

Im Tandem mit meiner Mutter war mein Vater der "intellektuellere" Teil und hatte sich eine wunderbare Arbeitsmethode für die Einzelproben mit den Sängern ausgedacht. Er pflegte ihnen nicht so sehr "vorzuspielen", sondern ließ seine darstellerischen Wünsche über Worte, Suggestionen und Beschreibung laufen. Am meisten Wert legte er darauf, dass die Sänger verstanden, was sie sangen, alles andere folgte daraus. Dazu übersetzte er ihnen die verquasten und oft unverständlichen Wagner-Texte in ein flottes Alltagsdeutsch. Das war sehr amüsant und funktionierte auch.

Was vergeht, und was bleibt

Eine Inszenierung löst sich irgendwann in Luft auf. Sie bleibt eine Weile im Gedächtnis des Publikums - und irgendwann ist es auch damit vorbei. Wie sah ihr Vater das?

Theater ist eine Zeitkunst. Entweder war man dabei oder nicht. Gültige Aufzeichnungen seiner Arbeiten hätte mein Vater gern gehabt, aber die Technik damals war noch nicht so weit. Das Scheinwerferlicht für die Kameras war derart stark, dass es die ganze Subtilität seiner Farbregie zerstört hätte.

Was aber ist das Bleibende von Wieland Wagner bei den Bayreuther Festspielen? 

Sein Begriff der "Werkstatt" für das neue Bayreuth ist natürlich nicht gerade geeignet, um die ewigen Werte zu kultivieren. Im Gegenteil. Immerhin ist aber dieser Begriff von seinem Bruder beibehalten worden und legitimierte weiterhin das Experimentieren mit Richard Wagner. Insofern hat Wieland Wagner ein geistiges Prinzip auf dem Grünen Hügel installiert. Dieses erlaubte auch, dass drei Jahre nach seinem Tod endlich auswärtige Regisseure dorthin geholt wurden.

Die Urenkelin Richard Wagners liebt die Abwechslung, die ihr das Amt als Intendantin des Beethovenfests in Bonn gibtBild: Beethovenfest/B. Frommann

Die Frage des Wieland-Wagner-Nachlasses ist eine andere. In anderen Operntheatern bewahrt man Regiebücher, Aufzeichnungen, Modelle und Dekor von berühmten Inszenierungen sorgfältig auf. Nicht so in Bayreuth. Was von Wieland Wagner da war, wurde entweder vernichtet oder verbrannt, und sogar einer Art Plünderung preisgegeben. Altes Gerümpel! Was heute noch übrig ist, liegt in ein paar Pappkisten und besteht aus zerbröselten Dekorteilen. Deswegen ist es so schwer, eine Ausstellung über Wieland Wagner zu machen. Sicher, es gibt ein paar Klavierauszüge, Fotos, Briefe, ein paar Kostümentwürfe, aber sonst eigentlich nichts. Genau zwei seiner vielen Bühnenbildmodelle sind jetzt im Wahnfried-Museum ausgestellt. Dieses Vernichten von Erinnerungen hat (familien-)neurotische Züge.

Ich persönlich würde viel dafür geben, um eine Wieland Wagner-Inszenierung zu sehen...

Wenn man sich fragt, wie es zu der faszinierenden Wirkung seiner Inszenierungen kam, würde ich sagen: Es lag an der Personalunion. Wieland Wagner war ja alles: Bühnenbildner, Regisseur, Kostümbildner. Dadurch entstand eine stilistische Kohärenz und ein Zusammenklang von Raum und Farbe, die überwältigten. Hinzu kommt die Musik: Sein größter Wunsch war, dass auch hier in dieselbe Richtung gearbeitet würde. Das Bühnen-Konzept und die musikalische Interpretation mussten zusammenpassen. Das ist ihm auch punktuell gelungen. Zusammen mit dem Dirigenten Wolfgang Sawallisch hat er einmal einen "Holländer" erarbeitet, da stimmte alles, angefangen bei den Tempi. Oder als er den "undeutschen" Dirigenten André Cluytens für die "Meistersinger" gewinnen konnte. Und dann zuletzt, mit dem Dirigenten Pierre Boulez, der ihm seine "Parsifal"-Inszenierung musikalisch entstaubte. Das hat er selber jedoch nicht mehr miterleben können.

Die deutsche Publizistin und Festivalintendantin Nike Wagner ist die Tochter des Regisseurs Wieland Wagner und der Choreographin Gertrud Reissiger; Enkelin von Siegfried Wagner, Ur-Enkelin von Richard Wagner und Ur-Ur-Enkelin von Franz Liszt. Sie wuchs in Wahnfried auf, der einstigen Residenz Richard Wagners in Bayreuth. Nach der Promotion an der Northwestern University im US-Bundesstaat Illinois arbeitete sie ab 1975 als freischaffende Autorin und schrieb auch Bücher über Richard Wagner und die Geschichte der Opernfestspiele in Bayreuth. 2004 übernahm sie die Leitung des Kunstfests Weimar, 2014 wechselte sie nach Bonn, um beim Beethovenfest die Intendanz zu übernehmen.

Das Interview führte Rick Fulker.

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