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Politik

Nils Melzer: "Erosion der Menschenrechte"

25. Juni 2020

Es werde an den Fundamenten der Weltordnung gerüttelt, analysiert der UN-Sonderberichterstatter für Folter. Ein Gespräch über Menschenrechte, Kriegsverbrechen und was der Fall Assange mit Tyrannei zu tun hat.

Syrien Folter Mißbrauch Symbolbild MIT BEDACHT VERWENDEN
Bild: JAMES LAWLER DUGGAN/AFP/GettyImages

DW: Herr Melzer, Sie sind seit knapp vier Jahren Sonderberichterstatter für Folter bei den Vereinten Nationen. Welche Entwicklungen in Bezug auf Folter bereiten Ihnen derzeit die größten Sorgen?

Nils Melzer: Am meisten besorgt mich die weltweite Erosion der Menschenrechte. Das zieht sich durch alle Regionen hindurch: Von China mit Hongkong und den Uiguren, über Russland bis zur Polizeigewalt in den USA und deren Angriffe auf den Internationalen Strafgerichtshof. Und von Syrien über Brasilien bis zur weltweiten Migrationskrise. Überall werden die Menschenrechte abgebaut - man kann da eine beliebig lange Liste machen. Das macht mir sehr große Sorgen, weil da an den Fundamenten der heutigen Weltordnung gerüttelt wird.

UN-Sonderberichterstatter für Folter Nils MelzerBild: picture alliance/KEYSTONE/S. Di Nolfi

Sie haben Syrien angesprochen: In Deutschland stehen in Koblenz seit zwei Monaten weltweit erstmals Menschen wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor Gericht, weil sie im syrischen Foltersystem mitgewirkt haben sollen. Welches Signal geht denn von diesem Prozess aus und kommt dieses Signal überhaupt an?

Es ist unglaublich wichtig, dass dieser Prozess stattfindet. Syrien hat ein notorisches Foltersystem. Ich habe schon vor 20 Jahren, als ich in der Region arbeitete, selbst Gefangene aus syrischen Gefängnissen weg begleitet und ich war damals schon schockiert.

Die Berichte haben sich seither nur noch verschlimmert. Es ist sehr wichtig, dieses grauenhafte System ans Tageslicht zu bringen - ganz unabhängig von der Individualfrage der Schuld der einzelnen Personen. Denn dass das Assad-Regime ein Folter-System ist und grausamste Methoden anwendet, das steht außer Zweifel und muss öffentlich gemacht werden.

Historischer Strafprozess hat begonnen

02:42

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Wir haben aber auch andere Signale in der Welt. Zum Beispiel das Signal, dass die USA Mitarbeitern des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag mit Strafen drohen, falls die gegen US-Soldaten ermitteln. Ein entsprechendes Dekret hat US-Präsident Donald Trump vor gut zwei Wochen unterzeichnet. Was für ein Signal geht denn davon aus?

Das ist natürlich ein katastrophales Signal, insbesondere weil die USA in wirtschaftlicher, politischer, militärischer Hinsicht das einflussreichste Land der Welt sind. Dabei haben die USA nach dem Zweiten Weltkrieg die Nürnberger Prozesse initiiert, die Tokioter Prozesse. Sie waren Vorreiter beim Kriegsvölkerrecht und im Völkerstrafrecht. Und wenn ausgerechnet dieses Land jetzt nicht bereit ist, selber zur Verantwortung gezogen zu werden für Kriegsverbrechen, für die es Beweise gibt, die nicht einmal fraglich sind, dann haben wir ein großes Problem!

Das sehen wir mit der Weigerung der USA, die systematische Folterpraxis der CIA zu verfolgen, welche sogar vom eigenen Senat untersucht und bestätigt wurde. Wir sehen das in der Weigerung, amerikanische Kriegsverbrechen verfolgen zu lassen, wenn nötig auch von internationalen Institutionen. Das hat eine sehr schlechte Vorbildwirkung: Wir sehen, dass Israel oder auch Großbritannien - also traditionelle Alliierte der USA - sofort in die gleiche Richtung gehen und versuchen, ihre eigenen Armeeangehörigen ebenfalls vor Strafverfolgung für Folterverbrechen zu schützen.

Wenn wir über Kriegsverbrechen der USA sprechen, ist man sehr schnell auch bei Wikileaks und Julian Assange. Es ist ziemlich genau 10 Jahre her, dass Wikileaks das "Collateral Murder" Video veröffentlicht hat. Es zeigt, wie aus einem US-Hubschrauber heraus unbewaffnete Verwundete und Nothelfer in Bagdad erschossen werden, darunter zwei Reuters-Journalisten. Für die Täter, die Schützen und ihre Vorgesetzten war das bislang folgenlos. Für Julian Assange allerdings nicht. Was bedeutet das?

Man muss sich überlegen: Was ist die moralische Legitimität eines Staates, der seine eigenen Kriegsverbrecher nicht verfolgt? Obwohl diese Kriegsverbrechen auf Film aufgenommen wurden: Wir sehen in dem Film Verwundete, die massakriert werden, und wir hören die Soldaten darüber sprechen, dass sie ganz bewusst Verwundete erschießen. Das ist ohne jeden Zweifel ein Kriegsverbrechen! Wenn wir das auf Film haben und die Staaten das nicht verfolgen, dann aber diejenigen drakonisch bestrafen - wir sprechen von grotesken 175 Jahren Gefängnis - die diese Kriegsverbrechen an die Öffentlichkeit bringen, dann haben wir ein ganz fundamentales Problem. Dann muss man sich wirklich fragen, ob wir bei den USA überhaupt noch von einem Rechtsstaat sprechen können.

Apropos Rechtsstaat: Seit Februar läuft das Auslieferungsverfahren gegen Julian Assange vor einem Londoner Gericht. Erfüllt denn das Verfahren in London Ihrer Ansicht nach die rechtsstaatlichen Vorgaben, auf die wir immer so stolz sind?

Nein, leider nicht! Das ist etwas, was mich schockiert, denn ich bin selbst Professor an einer britischen Universität in Glasgow und hatte immer großen Respekt vor dem britischen Justizsystem. Aber im Fall Julian Assange wird der Rechtsstaat schlicht ausgehebelt: Assange hatte keine Möglichkeit, seine Verteidigung adäquat vorzubereiten. Selbstverständlichkeiten, die auch dem schlimmsten Kriegsverbrecher zum Beispiel in Koblenz zugestanden werden oder in Den Haag, die werden Assange nicht zugestanden: Er hat keinen Kontakt zu seinen amerikanischen Anwälten, hat sehr beschränkten Kontakt zu seinen britischen Anwälten und fast keinen Zugang zu rechtlichen Dokumenten. Das sind äußerst schwere Verfahrensverletzungen, für die es keinerlei Notwendigkeit oder Rechtfertigung gibt.

Bei Auslieferung drohen 175 Jahre Haft: für die Publikation von KriegsverbrechenBild: Reuters/P. Nicholls

Sie haben im Fall von Assange auch von Folter gesprochen. Worin genau besteht Ihrer Meinung nach diese Folter?

Natürlich können Sie ein syrisches Gefängnis nicht mit einem britischen Gefängnis vergleichen. Das muss auch einmal ganz klar gesagt werden. Nur: Folter ist ein breiter Begriff, der sich nicht nur auf körperliche Foltermethoden bezieht, sondern eben auch psychische Folter einschließt. Wir haben Julian Assange mit zwei auf die Untersuchung von Folteropfern spezialisierten Ärzten untersucht und kamen zum Schluss, dass er alle Symptome zeigt, die typisch sind für langfristige psychologische Folter. Das sind traumatische, chronische Angst- und Stresszustände, sowie kongitive und neurologische Folgen einer Kombination von starker Isolation, und ständiger Willkür, Demütigung und Bedrohung. Wir dürfen nicht vergessen: US-Politiker haben ihn als "Terroristen" klassifiziert und zum Teil seine Ermordung gefordert. Assange fürchtet auch zu Recht die Haftbedingungen in den US-Hochsicherheitsgefängnissen, welche weltweit als grausam und entwürdigend bekannt sind.

Der enorme Druck, unter dem dieser Mann steht, seine starke Isolation, weil er als Einzelperson in die Ecke gedrängt worden ist und die willkürliche Art und Weise, wie jedes Rechtsverfahren gegen ihn geführt wird, ob in Schweden, Großbritannien, Ecuador oder den USA:  All das hat eine kumulative Wirkung, welche die gleichen Symptome hervorbringt wie gezielte psychische Folter.

Sie haben gerade selbst davon gesprochen, dass bei allem Schlimmen, was Julian Assange angetan wird, es eben überhaupt nicht vergleichbar ist beispielsweise mit einem syrischen Folterkeller. Warum setzen Sie sich so sehr für die Einzelperson Julian Assange ein, wenn doch an vielen Orten der Welt sehr viel schlimmere Dinge geschehen?

Ich setze mich natürlich für Hunderte von Folteropfern ein, jedes Jahr. Und klar setze ich mich auch für Julian Assange als Einzelperson ein. Aber das ist nicht der Hauptgrund meines Engagements. Im "Fall Assange" geht ja nicht nur um die Person von Julian Assange, sondern es geht in erster Linie um die Verbrechen seiner Verfolger, der Staaten: Dass sie die rechtsstaatlichen Institutionen aushebeln; dass sie sich weigern, ihre Kriegsverbrecher und Folterer zur Verantwortung zu ziehen, und dass sie weltweit ein Exempel statuieren, wonach jeder als Spion verurteilt werden kann, der die Öffentlichkeit über staatliche Kriegsverbrechen informiert. Mit der Verfolgung von Assange sind wir drauf und dran, einen Standard zu etablieren, wonach Staaten ihre eigenen Verbrechen geheim halten dürfen und dafür nicht mehr zur Verantwortung gezogen werden können. Wir müssen uns bewusst sein: Wenn sich dies einmal durchgesetzt hat, dann ist es wirklich nur noch ein kleiner Schritt vom Rechtsstaat in die Tyrannei.

Der Schweizer Völkerrechtler Nils Melzer ist seit 2016 UN-Sonderberichterstatter für Folter. Zuvor war Melzer zwölf Jahre lang beim Internationalen Komitee vom Roten Kreuz in zahlreichen Krisengebieten tätig.

Das Gespräch führte Matthias von Hein.