Nina Stemme - Die Stimme der Stunde
6. Juni 2007
Ein Prachtogran – und eine prächtige Schauspielerin, die mit glutvoller Dramatik und unerschöpflicher physischer Kraft alles gibt, ohne sich je zu verausgaben“, schrieb ich, just ein Jahr ist das her, zu ihrer ersten Aida am Opernhaus Zürich. Wer um die vokalen Verdrießlichkeiten im heutigen Verdi-Gesang weiß, kann sich leicht ausmalen, was damit gemeint war: eine dramatische und gleichzeitig weich und breit flutende Stimme, die jederzeit siegreich über dem Orchester thront, und das selbst im lärmigsten Finale. Zudem eine Stimme, welche die Tiefen flächendeckend auszuloten vermag und die Höhen bis ins dreigestrichene C der Nil-Arie hinauf mit goldenem Glanz siegreich krönt. Da konnte man sich einmal in aller Ruhe zurücklehnen wie einst in Aufführungen mit Birgit Nilsson. Da wird nichts schiefgehen, das spürte man. Endlich eine neue Hochdramatische.
Je rarer sie werden, desto größer ist der Heißhunger auf sie. Der Betrieb braucht sie dringend und missbraucht sie ebenso oft, manchmal nur für ein paar heiße Katapult-Karriere-Jahre im „Durchlauf-erhitzer“. Fixsterne eher am Medien- denn am Opernhimmel, die schnell wieder verglühen. Nina Stemme hingegen blieb stets auf der Erde, mit beiden Beinen auf dem Boden. Wusste zu Beginn ihrer sängerischen Tätigkeit ja nicht einmal, dass ihre Stimme sich ins dramatische Fach entwickeln würde. Und hatte eh keinen leichten Start. Als sie 1987 in Stockholm ins Opernstudio eintrat, sang sie oft das Mezzo-Fach, sogar Alt-Partien. „Aber meine Stimme war nie ein Mezzo“, betont sie heute. Später, auf der Opernhochschule der Universität – Operahögskolan i Stockholm, die von Kerstin Meyer geleitet wurde –, fand der Wechsel ins Sopranfach statt. Eine schwierige Zeit, weil Nina Stemme auf die Suche nach einem neuen Gesangspädagogen gehen musste. Denn ihre frühere Lehrerin glaubte nicht daran, dass sie wirklich ein Sopran sei.
Dieser Wechsel habe eigentlich weniger mit dem Umfang der Stimme zu tun gehabt, sagt Nina Stemme; der Unterschied vom Mezzo zum Sopran sei ja nicht so groß. „Vor allem ging es um das Timbre und die Tessitura: Wo fühlt sich die Stimme wohl? Ich habe immer gerne in tieferer Lage gesungen, aber ebenso gerne auch hinauf in die Höhe.“ Doch diese wollte damals nicht richtig funktionieren. Als sie 1989 im italienischen Cortona als Cherubino debütierte, hatte sie Mühe mit den hohen Tönen der zweiten Cherubino-Arie. „Alles war verspannt. So hat das angefangen.“
Weiß Gott kein viel versprechender Anfang. An der Opernhochschule musste sie ihre Stimme mit viel Geduld neu aufbauen. Durfte vorläufig keine lauten Töne in der Höhe singen, weil die Stimme – noch von der Mezzo-Ausbildung her – die Tendenz hatte, oben hart und „eckig“ zu klingen. „Dass ich damals nur piano gesungen habe, war letztlich meine Lebensversicherung für meine Zukunft als Sängerin.“
Ihr erster Bühnenauftritt an der Hochschule war in einer Studienproduktion von Tschaikowskys „Eugen Onegin“ – ein stummer Auftritt, nämlich als Sekundant. 1991 kam eine erste kleine Partie, ein Jahr später durfte sie in einer Uraufführung mitwirken. 1993 kam sie im Wettbewerb in Cardiff in die Finalrunde, und im selben Jahr gewann sie in Paris, zusammen mit zwei anderen Sopranistinnen sowie einem Bassisten, den ersten Plácido-Domingo-Wettbewerb. „Anschließend bestritten wir zusammen mit Domingo ein Konzert, es muss irgendwo noch einen Mitschnitt davon geben. Das war mein erster Durchbruch!“
Umgehend meldeten sich heißhungrige Agenten bei der jungen Sängerin, boten ihr fast alles und sogar die Sieglinde an. „Aber ich habe konsequent abgelehnt, weil ich stark gespürt habe, dass ich mit meiner Ausbildung noch nicht fertig bin und meiner Stimme noch mehr Zeit lassen muss, damit sie sich weiterentwickeln kann. Natürlich habe ich in meinem Innern gespürt, dass ich jetzt nichts lieber singen würde als Sieglinde. Aber für Wagner muss man zuerst Erfahrung sammeln.“ Vor allem im italienischen Repertoire, betont Nina Stemme, denn auch bei Wagner gehe alles vom Belcanto aus. „Wenn man bei Wagner nur große Töne aufeinanderschichtet, bringt das nichts.“
1994 sang sie an der Königlichen Oper in Stockholm nochmals den Cherubino, diesmal aber als Sopran, und schaffte im selben Jahr als Freia den Sprung nach Bayreuth. Sie nutzte damals die Gelegenheit, um alle Wagner-„Light“-Partien vorzusingen, und das meistens nach einer Vorstellung. Freia singe zwar nur eine Minute lang, aber sie stehe doch fast andauernd auf der Bühne, und auch das sei anstrengend. „Damals habe ich gelernt, dass es keine gute Idee ist, nach einer Vorstellung noch ein Vorsingen zu machen.“ Es kam dann auch zu keinem weiteren Vertragsabschluss. Also sich in Geduld üben und weiterarbeiten, hieß einmal mehr die Devise. 1995 ging die junge Sängerin nach Göteborg – ihre erste Butterfly, ein zweiter Durchbruch! Am Schluss der Vorstellung konnte sie allerdings kaum mehr sprechen, so sehr hatte sie sich beim Singen in die Partie hineingekniet. „Es war noch keine große Stimme. Jemand sagte, es sei eine ‚Stimme für Kenner‘, und ich wusste nicht einmal, ob das jetzt lobend oder abwertend gemeint war“, sagt Nina Stemme und lacht herzhaft.
Damals aber war ihr nicht unbedingt zum Lachen zumute. Von 1995 bis 1999 war sie Mitglied im Ensemble der Kölner Oper. Nicht wirklich so genannte Galeerenjahre, betont die Sängerin, denn immerhin konnte sie dort ihr Repertoire ausbauen: Pamina, „Figaro“-Gräfin, ein paar Vorstellungen als Agathe – „und viel Puccini: Tosca, Butterfly, Mimì, Suor Angelica, das war fabelhaft.“ Von einem der weltweit führenden Opernhäuser erhielt Nina Stemme einen Zweijahresvertrag angeboten – aber sie schlug ihn aus, folgte einmal mehr ihrer inneren Stimme. „Es hätte ja sein können, dass ich ein ganzes Jahr lang nur Cover-Besetzung gewesen und kaum je zum Singen gekommen wäre. Oder dass ich in einem einzigen Jahr zehn Rollen hätte lernen müssen. Beides wäre schlecht gewesen für die Entwicklung meiner Stimme.“
Aber nicht nur das – noch ganz andere Überlegungen drängten sich damals auf, lebensentscheidende: Karriere oder Kinder? „Die Antwort war klar, ich wollte eine Familie.“ In Köln hat sie zwei ihrer drei Kinder geboren, und sie konnte in dieser Zeit sehr auf die Unterstützung von Intendant Günter Krämer sowie Irmgard Röschnar, der künstlerischen Beraterin der Oper, bauen. Erst rückblickend merkte sie, dass das eine Ausnahme war: „Einige meiner Kolleginnen an anderen Opernhäusern Deutschlands, die ein Kind bekamen, wurden anschließend nicht mehr engagiert. Ich finde, das ist keine gute Entwicklung in Deutschland. Wäre ich in Deutschland aufgewachsen, dann hätte ich mich in dieser Frage vielleicht auch anders entschieden. In Schweden hingegen ist es selbstverständlich, dass der Mann die Hälfte der Verantwortung für die Erziehung der Kinder übernimmt. Mein Mann jedenfalls macht das. Und hat dazu selber seinen Beruf und seine Karriere als Bühnenbildner.“
In Bregenz erlebte ich Nina Stemme zum ersten Mal live auf der Bühne, als Katerina in der „Griechischen Passion“ von Bohuslav Martinu, Festspielsommer 1999. Eine ausdrucksstarke Sängerin, die all ihre Trümpfe auszuspielen verstand, sie aber nie verspielte. Das war weit mehr als nur „viel versprechend“. Drei Jahre später dann ihr Debüt bei den Salzburger Festspielen in „König Kandaules“ von Alexander Zemlinsky. Man wusste es zu würdigen: „In der Besetzung bescherte die junge Schwedin Nina Stemme als Königin Nyssia ein Festspielereignis“, bilanzierte der „Kurier“. Abermals drei Jahre später erklomm sie dann gleichsam den Himalaja sopranistischer Gipfelleistungen: die erste Bayreuther Isolde. „Eine Wonne, dieser dunkle, leuchtende, schlanke und doch füllige Sopran, diese mädchenhafte Erscheinung, die gleichzeitig reife Frau ist und wunderbar ausgeglichen singt“, beschied der „Spiegel“; „eine ideale Isolde, intensiv, glückhaft, natürlich, souverän“. Nachzuprüfen übrigens auch auf der Gesamteinspielung bei EMI, auf der Nina Stemme ihre Isolde an der Seite von Plácido Domingos Tristan singt im Verein mit so illustren Kollegen wie René Pape oder Rolando Villazón.
Seither gilt Nina Stemme als „die Stimme der Stunde“. An neuen Partien großen Kalibers mangelt es nicht: Arabella, Ariad-ne, Salome konzertant und in zwei Jah-ren auch auf der Bühne. Die Marschallin hat sie bereits drauf – eine EMI-DVD- Produktion aus dem Züricher Opern-haus hält ihr sensationelles Rollendebüt fest. Die Kaiserin in „Frau ohne Schatten“ wird folgen, und von der „Capriccio“-Gräfin gibt uns Nina Stemme auf ihrem brandneuen CD-Recital eine Kostprobe. Auch Kundry ist fest eingeplant – für 2011. Als Lady Macbeth in Schostakowitschs Oper wird Nina Stemme 2010 an die Met zurückkehren; bereits 2000 sang sie dort Senta unter Gergiev. „Ein großer Erfolg, aber mit neuen Terminen hat es einfach nicht mehr geklappt.“
Unter diesen schwergewichtigen Repertoire-Kalibern hat Nina Stemme eine heimliche Favoritin: die Minnie in „Fanciulla del West“. „Das ist meine Liebe zu Puccini, fast eine Hassliebe. Minnie als Charakter reizt mich schon sehr. Wenn da eine Anfrage für eine gute Produktion käme, würde ich wohl zusagen.“ Mit den Anfragen aber ist es so eine Sache. Als Mozart-Sängerin wird sie kaum mehr angefragt. Dabei hatte sie ihren Anfang mit Mozart gemacht, würde ihn heute vielleicht auch gerne wieder neu aufnehmen, wenn das Ensemble stimmt. „Mozart heißt: Ensemble-Oper. Hier müssen alle Stimmen zusammenpassen. Heute besetzt man Mozart zwar eher mit leichteren Stimmen. Aber ich liebe Mozart! Und ich bin froh, dass ich am Anfang meiner Karriere oft Mozart gesungen habe.“
Doch seither hat sich die Stimme enorm entwickelt. Nun singt sie vor allem Partien von Strauss und Wagner. Gefährdet Wagner den Mozart-Gesang? Die Frage sei falsch gestellt, sagt sie; das Problem sei die Tessitura. „Bei Mozart liegt sie höher, da kann man kaum einmal entspannen. Bei Wagner liegt sie insgesamt tiefer, und darum ist meine Stimme besser für Wagner geeignet.“ Allerdings gibt es auch bei Wagner Ausnahmen: Elsa und vor allem Eva liegen höher. Deshalb hat Nina Stemme nach einer konzertanten Aufführung der „Meistersinger“ beschlossen, Eva nie auf der Bühne zu singen.
Wie hält sie heute ihre Stimme fit? „Eine gute Frage“, sagt sie und lacht. „Mit Singen – und nicht zu viel Üben. Üben kann man auch im Kopf.“
Biographie
Nina Stemme stammt aus Stockholm. Parallel zum Wirtschaftstudium an der Stockholmer Universität gehört sie zwei Jahre lang dem Stockholmer Opernstudio an und schließt ihr Gesangsstudium an der dortigen Hochschule ab. Sie debütiert 1989 als Cherubino in Cortona. An kleineren schwedischen Häusern folgen Rosalinde, Mimì, Euridice und Diana (in Haydns „La Fedelta premiata“), 1994 Freia in Bayreuth, 1995 Butterfly in Göteborg. Von 1995 bis 1999 Mitglied der Oper der Stadt Köln. Anschließend folgen Elisabeth („Tannhäuser“), Elsa, Marguerite, Tatjana und Senta. Erste Isolde in Glyndebourne, Marschallin in Zürich und Göteborg, Marie („Wozzeck“) in Lyon, Aida in Zürich, Isolde in Bayreuth und Arabella in Göteborg. Geplant sind „Forza del destino“ und Sieglinde in Wien sowie Salome in Genf.
CD-Tipp
Strauss, Vier letzte Lieder, Schlussszenen aus Salome und Capriccio; Royal Opera House Covent Garden, Antonio Pappano (2006);
EMI CD 378 7972