Bleiben Frankreichs Schulen offen?
22. Januar 2021Es sind die kleinen Andeutungen, die viele Franzosen derzeit aufhorchen lassen. Immer häufiger warnen Experten in den Medien vor einer dritten Corona-Welle im Land. Man müsse sich auf alles vorbereiten, heißt es auch aus Regierungskreisen.
Zweimal ist Frankreich bereits in einen harten Lockdown gegangen, durften die Franzosen ihre Wohnungen nur noch für dringend notwendige Erledigungen verlassen. Nun wächst die Zahl derer, die ein drittes "confinement" verlangen. Die Gefahren durch Virusmutationen und wieder deutlich gestiegene Infektionszahlen werden als Begründung dafür angeführt.
Angst vor dem Kontaktverlust
Heikel dürfte bei der Entscheidung über einen nächsten Lockdown vor allem eine Frage werden: Werden auch die rund zwölf Millionen Schülerinnen und Schüler in Frankreich weiter in die Klassenzimmer strömen? Zu Beginn der Pandemie hatte die Regierung die Schulen wochenlang geschlossen gehalten - mit dramatischen Folgen: "Wir haben damals im März den Kontakt zu zahlreichen Schülern aus ärmeren Vierteln komplett verloren", berichtet Guislaine David von der größten Bildungsgewerkschaft Frankreichs, SNUipp-FSU, über traumatische Erfahrungen aus der Lehrerschaft im DW-Interview. "Die Regierung hat zwar im Juni die Schulen wieder vollständig geöffnet, aber einige Schüler sind nicht mehr zurückgekommen." Erst im September, also nach den langen Sommerferien, habe man den Kontakt zu ihnen wiederherstellen können, sagt David.
Distanzunterricht nur für die Oberstufe
Im zweiten harten Lockdown im Herbst hat die Politik aus diesen Erfahrungen Konsequenzen gezogen: Das öffentliche Leben wurde zwar erneut heruntergefahren, die Schulen aber blieben offen. Dennoch sank die Zahl der Neuinfektionen drastisch.
Lernen auf Distanz gibt es in Frankreich seitdem lediglich in einigen Oberstufenklassen - dort aber auch nur in einer Mischung aus Fern- und Präsenzunterricht. Allzu große Erwartungen dürfe man an dieses Modell aber nicht haben, schränkt Deutschlehrerin Friederike Riemer ein, die an einem großen Lycée in Montluçon im ländlichen Zentralfrankreich arbeitet: "Wir Lehrer machen mit der einen Gruppe in der Schule normalen Unterricht und die andere Schülergruppe sitzt dann in der Woche zuhause und muss den Stoff selbst lernen. De facto verlieren viele in dieser Zeit aber den Faden", so Riemer zur DW.
Eine Übertragung des Unterrichts per Videokamera nach Hause steht in Riemers Schule nicht zur Debatte - zu groß ist der Widerstand der Lehrer dagegen.
Im Kollegium, in der Elternschaft und bei den Schülern, glaubt Riemer, sei die große Mehrheit gegen Schulschließungen. Dass es einige Corona-Fälle an ihrer Schule gegeben hat, ändere daran nichts. Auch in der Pandemie ist für französische Familien offensichtlich nicht verhandelbar, dass der Staat die Kinder von früh morgens bis zum späten Nachmittag betreut und unterrichtet.
Die meisten Schultage in Europa
Bildungsminister Jean-Michel Blanquer verweist stolz darauf, dass die Kinder in Frankreich in der Pandemie im Vergleich zu anderen Ländern in Europa die meisten Tage in der Schule verbracht haben. Damit dies auch so bleibt, hat die Regierung die Hygienevorschriften an den Schulen verschärft.
Seit Wochenbeginn sind feste Tischgruppen in Kantinen vorgeschrieben, genauso wie längere Essenszeiten. Außerdem wurde der Schulsport in Innenräumen, der vorher mit Maske erfolgte, ausgesetzt. Die Regierung hat zudem angekündigt, die Zahl der Corona-Tests in den Schulen auf 300.000 pro Woche zu erhöhen. Ab drei Coronafällen in einer Einrichtung sollen Schüler und Personal in Zukunft systematisch getestet werden.
Maskenpflicht von morgens bis abends
Die Beteiligungsquoten der bislang freiwilligen Tests in der Oberstufe waren bislang allerdings gering, berichtet die Zeitung Le Monde. Auch Riemer hat ähnliche Erfahrungen gemacht: "Wir hatten in der Woche vor Weihnachten Laborpersonal in der Schule, das kostenlose Tests angeboten hat. Von unseren 1800 Schülern und 300 Lehrern haben sich in der Testwoche lediglich 150 Personen testen lassen."
Dabei ist das Thema Corona an den Schulen dauerpräsent. Von der Grundschule an tragen alle Schüler in Frankreich Masken auf dem Schulgelände und im Unterricht. Sorgen bereitet der Lehrerin vor allem die Lage in den Kantinen, trotz ausgeweiteter Mittagspause von 11:30 bis 14 Uhr: "Das ist natürlich sehr schwierig, den Mindestabstand einzuhalten, wenn mehr als 100 Schüler in einem Gang anstehen und 45 Minuten lang darauf warten, bis sie ihr Essen bekommen."
Protestbrief an Staatspräsident Macron
Der Initiative "Écoles et Familles Oubliées" (Im Stich gelassene Schulen und Familien) reichen diese verschärften Maßnahmen nicht. Die Gruppe, die für sich beansprucht, zahlreiche Eltern von Schülern aller Schulformen zu vertreten, hat sich zum Jahreswechsel mit einem offenen Brief an Präsident Macron gewendet und eine Verlängerung der Weihnachtsferien gefordert. Durchgedrungen ist die Initiative damit nicht.
Aktuell sind laut Bildungsminister rund 30 von gut 50.000 Schulen sowie 100 Einzelklassen wegen Corona geschlossen. Für die kommenden Tage verbreitet der Minister Optimismus: "Wir stecken nicht in einer Explosion von Ansteckungsfällen." Auch die die Regierung beratenden Mediziner widersprechen dem bislang nicht.
Mehrheit will geöffnete Schulen
Auch Guislaine David, Sprecherin von SNUipp-FSU, hält die Forderung nach einer Schulschließung in der Gesellschaft nicht für mehrheitsfähig. Ihre Gewerkschaft verlangt stattdessen weiter verschärfte Hygienestandards: "Bislang wird erst bei drei nachgewiesenen Positiv-Fällen eine Klasse in Quarantäne geschickt. Wir als Gewerkschaft fordern von der Regierung, dass schon bei einem Fall die Klasse in Quarantäne geht und die Schüler, die Kontakte zu dem Positiv-Fall hatten, getestet werden."
Mit der Absage an Schulschließungen liegt die Gewerkschaft auf Linie mit dem Bildungsminister: "In diesem Stadium steht es außer Frage, die Schulen zu schließen", erklärte Jean-Michel Blanquer am Dienstag in einem Radiointerview. Neben der Sorge um Schüler aus bildungsfernen Schichten, die den Anschluss zu verlieren drohen, argumentiert die Regierung auch mit den wirtschaftlichen Folgen. "Wenn wir die Schulen schließen, ist auch die Wirtschaft blockiert", analysiert Premierminister Jean Castex.
Gutscheine für die Psychotherapie
Während in Frankreich noch völlig offen ist, ob die Schulen vor den Winterferien im Februar noch einmal geschlossen werden, gerät die Regierung auch von anderer Seite unter Druck. Am Mittwoch gingen landesweit Studierende auf die Straße, um für eine Gleichbehandlung mit den Schulen zu demonstrieren – also für die Rückkehr zum Präsenzunterricht an den Hochschulen. Die Studierenden klagen über massive psychische und finanzielle Probleme durch die Pandemie.
Als erste Reaktion will Staatspräsident Emmanuel Macron den Betroffenen über Gutscheine einen leichteren Zugang zu Psychotherapeuten und Psychiatern gewähren. Außerdem sollen die Mensen künftig zwei 1-Euro-Menüs pro Tag anbieten. An eine großflächige Rückkehr in den Präsenzunterricht sei jedoch bis zum Sommer nicht zu denken, so der Präsident.