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"70 Jahre Israel machen mich nicht stolz"

Sarah Judith Hofmann
13. Mai 2018

Als Teenager erlebte sie die Terroranschläge der zweiten Intifada, kurz darauf einen neuen Libanonkrieg. Dennoch sagt die Musikerin Noga Erez im DW-Interview: Schaut, wie es den Menschen in Gaza geht!

Israelische Musikerin Noga Erez
Bild: Tonje Thielesen

Noga Erez hat klassische Komposition studiert. Heute macht sie tanzbaren Elektro-Pop, soweit man ihre Musik voller verschiedener Sounds und Musikeinflüsse kategorisieren will. Zuletzt erschien von ihr das Album "Off the Radar" bei City Slang Records. Im Juni und August gibt sie eine Reihe von Konzerten in Deutschland. DW-Autorin Sarah Judith Hofmann trifft Noga Erez in Tel Aviv, wo die Musikerin lebt.

Deutsche Welle: Am 14. Mai 1948 rief Staatsgründer David Ben-Gurion, nicht weit von hier im damaligen Kunstmuseum von Tel Aviv, den Staat Israel aus. Erfüllt es Sie heute – 70 Jahre später – mit Stolz, zu sehen, was Ihre Vorfahren erreicht haben?

Noga Erez: Mir gefällt das Wort "stolz" nicht. Es hat diesen nationalistischen Beiklang. Nein, auf eine ganze Reihe von Dingen in diesem Land bin ich nicht stolz. Gleichzeitig bin ich aber gerade dabei, zu verstehen, was viele Menschen, die vor 100 oder vor 70 Jahren in dieses Land kamen, durchgemacht hatten. Juden wurden schließlich nicht allein in Europa verfolgt, sondern weltweit. Sie waren Flüchtlinge und hatten Schreckliches erlebt. Beide Seiten meiner Familie in Europa wurden ausgelöscht. Ich bin erst jetzt dabei, zu verstehen, wie traumatisiert sie waren und wie sehr sie sich selbst ganz neu erfinden mussten.

Noga ErezBild: DW/S. Hofmann

Sie bauten nicht allein dieses Land auf, sondern erschufen auch sich selbst neu. Ich glaube, dass Israel innerhalb von 70 Jahren entstanden ist, hat viel mit dem Drang, zu überleben zu tun. Das ist der stärkste Motor für eine schnelle Entwicklung von Kultur und Technologie. Das gilt noch heute. Die Kriege beschleunigten andere Entwicklungen. Israel ist eine Cyber Nation, weil wir dies sein müssen. Es ist verrückt, wie diese hässlichen Kräfte Entwicklung beschleunigen. Bin ich stolz? Ich würde sagen, es ist "bitter-sweet".

Israel besteht heute aus einer Mischung von Menschen aus der ganzen Welt – Juden, von denen viele, wie Sie sagen, als Flüchtlinge hierher kamen. In Ihrer Musik kann man auch viele verschiedene Sounds und Einflüsse heraushören. Liegt das an dem Ort, an dem diese Musik entsteht?

Durch Tel Aviv zu spazieren, gibt mir viel, und rüber nach Jaffa zu laufen, fügt noch eine weitere Note zu der Mischung hinzu. Zehn Minuten von hier ist man in einer arabischen Stadt, das ist atemberaubend. Tel Aviv ist für mich ein Ort, der das Potential dazu hat, der schönste Ort der Welt zu sein – wegen dieser Mischung von Menschen und Kulturen, dem Strand, der Stadt, all dem zusammen. Gleichzeitig herrscht hier aber eine unüberhörbare Lärmfrequenz, die ebenfalls von der Vielschichtigkeit dieses Ortes herrührt. In Tel Aviv steckt etwas raues, dreckiges, vertracktes. Dieser Ort ist wunderschön, aber er existiert, weil hier bestimmte Dinge in jüngster Vergangenheit geschehen sind und weiter geschehen. Diese Atmosphäre kann man aus meinen Stücken deutlich heraushören. 

Der Strand von Tel AvivBild: DW/C. Kern

In einem Ihrer Songs fragen Sie: "Kannst du tanzen während du schießt”? Für mich ist diese Frage unmittelbar mit Tel Aviv verbunden, mit dieser "Party bubble", wie die Stadt oft genannt wird, die aber nur eine knappe Stunde von der Grenze zu Gaza entfernt ist, wo Menschen erschossen werden. Woran haben Sie gedacht, als Sie den Song schrieben?

Es ist ein Lied über Eskapismus und den Zwiespalt, in dem wir in der westlichen Welt leben, das betrifft nicht allein Tel Aviv oder Israel, es ist viel globaler. Es ist unsere Realität als privilegierter Teil der Welt. Privilegiert zu sein, ist nichts, wofür man sich schämen muss. Es ist etwas Gutes, in der Lage zu sein, etwas im Leben zu erreichen. Wäre da nicht das Wissen darum, was es gekostet hat, diese Dinge zu erreichen – die Sicherheit, die wir haben, im eigenen Haus zu leben, was es gekostet hat, deine Stadt zu bauen, dein Land zu bauen. Damit kann sich jeder privilegierte Mensch, egal in welchem Land identifizieren. Unsere Existenz findet auf dem Rücken anderer statt. Es ist wichtig, dass wir uns ab und zu daran erinnern. 

Erinnern sich die Menschen in Tel Aviv denn noch daran, wo sie leben? Oder vergessen Sie einfach, dass 25 Autominuten von hier das Westjordanland beginnt?

Noga Erez in den Straßen von Tel AvivBild: DW/S. Hofmann

Ich stehe meiner Generation sehr kritisch gegenüber – aber ich schließe mich selbst bei dieser Kritik mit ein. Es ist viel zu leicht, zu vergessen, was um einen herum geschieht, besonders wenn man in Tel Aviv lebt. Das lustige ist, dass wenn man sich die politische Landkarte anschaut, Tel Aviv als eher pro Palästina, pro Zweistaatenlösung gilt, gleichzeitig läuft man dann die Straßen entlang und merkt wieder, wie leicht es ist, all das zu vergessen. Die Cafés hier sind jeden Tag brechend voll!

Ich glaube, der gefährlichste Teil unserer Gesellschaft ist gar nicht jener, der die andere Seite hasst. Gefährlich ist vielmehr die Elite, jene Menschen, die mit der Zeitung in der Hand sagen, "oh, das ist so schlimm", vielleicht sogar etwas darüber auf Facebook posten, das Gefühl haben, sie hätten etwas getan – um es den Rest des Tages dann wieder zu vergessen. Aber noch einmal: Ich schließe mich selbst mit ein in diese Kritik.

Worüber sollten die Menschen denn in diesem Land sprechen, während sie im Café sitzen?

Das erste Thema, über das in jedem Gespräch in diesem Land gesprochen werden sollte lautet Besatzung. Darum geht es. Punkt. Nichts wird sich ändern bevor wir nicht anfangen, ernsthaft darüber zu sprechen, was Besatzung bedeutet. Hier wird der Begriff "Apartheid" wie ich finde, häufig in einer unangemessenen Weise als Vergleich verwendet. Nein, was damals in Südafrika passiert ist, ist nicht mit der Situation hier vergleichbar. Und doch lernen wir aus der Geschichte. Wir lernen, dass Menschen ein normales Leben führen wollen und dass sich alles ändert, sobald man ihnen die Kontrolle über ihr eigenes Leben gibt.

Ich liebe diesen Ort so sehr. Ich sehe all das Potential dieses Land, wie es sein könnte und zugleich sehe ich, wie es daran gehindert wird, sich positiv zu entwickeln. Ich sehe, wie es den Bach runtergeht – in vielerlei Hinsicht, moralisch und gesellschaftlich. Und das macht mich wütend. Seit mehr als 15 Jahren lebe ich nun in einem Land, dessen Regierung gar nicht erst versucht, etwas zu verändern. Ich glaube aber, dass wir einen Dialog anstoßen und etwas verändern könnten – wenn die junge Generation mit einer Stimme spräche und sagen würde: Wir wollen, dass die nächste Regierung nicht wie die vorige handelt.

Wo sehen Sie dabei ihre Rolle als Musikerin?

Nicht weit von Tel Aviv entfernt: der Gazastreifen.Bild: Reuters/M. Salem

Ich bin keine politische Künstlerin. Ich mache Musik aus Eigennutz, weil ich Musik liebe. Dies ist mein Weg, all das, was um mich herum geschieht zu verarbeiten. Aber das Nebenprodukt ist, dass ich hoffe, Menschen anzustoßen, etwas mehr in die Tiefe zu gehen, zu verstehen, was hier passiert. Vielleicht auch mal ein, zwei Artikel über den Nahen Osten zu lesen. Die Menschen sind heutzutage so schnell darin, zu antworten. Zuzuhören, etwas zu lernen. Das kann man vielleicht durch Musik erreichen. Ich selbst bin über Musik erst zur Gesellschaftskritikerin geworden. Vorher bin ich in erster Linie um mich selbst gekreist. Insofern, ja, ich glaube, Musik kann etwas im Menschen verändern.

Wie alle Israelis mussten auch Sie mit 18 Jahren Ihren Militärdienst beginnen. Für Frauen dauert er zwei, für Männer drei Jahre. Was haben Sie in der Armee gemacht?

Mein Armeedienst war völlig irrwitzig. Ich habe nichts geleistet. Ich war Sängerin, eine Musikerin in der Armee. Das ist eine Tradition, die noch aus den 60er, 70ern stammt, als dieses Land in ernsthaften Kriegen kämpfte. Die Militärband, die die Soldaten unterhält, ist ein Überbleibsel aus alten Zeiten. Es war in vielerlei Hinsicht surreal. Man nimmt etwas so Erhabenes wie Musik, etwas Spirituelles und bringt dies Soldaten, die kurz davor sind, in einen Einsatz rauszugehen. Das ist verrückt. Sie wussten nicht, was mit ihnen passieren würde, während sie meine Musik hörten. Sie haben nicht einmal zugehört.

In den letzten Jahren sind viele junge Israelis nach Berlin gezogen. Haben Sie jemals darüber nachgedacht, dieser Situation hier zu entfliehen?

Ich habe den Wunsch, für eine Zeitlang hier wegzukommen, aber nicht für immer. Der Ort, an dem man aufgewachsen ist, hat etwas einmaliges, es ist dein Zuhause, etwas, das dich geerdet sein lässt. Meine Familie ist hier und in Israel ist Familie sehr wichtig – man trifft sich jede Woche. Aber 2015, nach den letzten Wahlen, da war ich bereit zu sagen: Es reicht, macht eure Sache doch alleine, ich gehe. So frustriert war ich. Die Nation war damals gespalten: Hälfte, Hälfte stand es – wir waren dem Wandel so nah. Und dann blieb doch alles beim Alten.

Aber dann dachte ich an das Jahr 2006. Bevor ich zur Armee ging, verbrachte ich eine Zeit in Thailand – und dann brach der zweite Libanonkrieg aus. Natürlich will man nicht in Israel sein, wenn so etwas passiert, man will all dem entfliehen – und kann es doch nicht. Also las ich alles über den Krieg, sprach ständig mit meiner Familie am Telefon und wollte zurück. Ja, ich will dort sein, wenn es passiert, wenn sich alle vor den Bomben verstecken. Es ist verrückt und widerlich. Aber die israelische Gesellschaft steht zusammen, wenn solche Dinge passieren. Gegen einen gemeinsamen Feind sind wir geeint. Ansonsten ist die israelische Gesellschaft derzeit so gespalten und so voller Hass im Innern wie nie.

Woran, glauben Sie, liegt das? An Premierminister Benjamin Netanjahu, der seit 2009 das Land ohne Pause regiert?

Absolut. Dafür braucht man gar keine Verschwörungstheorien zu bedienen. Man muss nur die Posts der Regierung auf Twitter und Facebook lesen und versteht, dass sie das Ziel haben, die Gesellschaft zu spalten, um an der Macht zu bleiben. Es existiert eine Art Lexikon des Hasses gegenüber der Linken. "Sie sind Verräter." Jeder, der sich auf der linken Seite der politischen Landkarte befindet, wird zum Feind aus dem Inneren gemacht. Höchste Regierungsmitglieder, Netanjahu selbst, reden genau so.

Off The Radar - die neue CD von Noga Erez

Macht Sie das pessimistisch, was die Zukunft dieses Landes angeht?

Ich war lange Zeit darüber deprimiert. Aber dann denke ich, die Regierung will doch nur, dass wir die Hoffnung verlieren. Also werde ich dies nicht tun. Nichts hat sich in den letzten 50 Jahren verändert, also hoffe ich auf den Moment, an dem die Leute einfach sagen: Lasst und doch mal was ausprobieren. Irgendetwas. Ich stehe jeder Lösung offen gegenüber.

Realistisch betrachtet, glaube ich, dass die Zwei-Staaten-Lösung die beste Option ist. Die Palästinenser wollen schließlich ein eigenes Land. Jede andere Lösung wird also nicht funktionieren. Holt man sie in ein Land und macht sie zu Bürgern zweiter Klasse, wird dies nicht funktionieren. Und egoistisch betrachtet, möchte ich selbst in Israel leben und nicht in Palästina. Dies ist mein Land, ich spreche Hebräisch und finde nach wie vor, dass dies ein großartiger Ort ist. Wenn wir aber alle gemeinsam in einem Land leben und ein Parlament wählen, werden wir nicht mehr die Mehrheit sein. Es gibt so viele Palästinenser. Also denke ich, die Zwei-Staaten-Lösung ist die beste Option für alle Seiten.

Zum Schluss noch ein Trinkspruch zu Israels 70.? Worauf erheben Sie Ihr Glas? 

Ich stoße auf die nächsten 70 Jahre an, nicht auf die vergangenen. Ich erhebe mein Glas für den Frieden. Ja, es mag dumm klingen, aber Frieden, den möchte ich feiern.

Das Interview führte Sarah Judith Hofmann.

 

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