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Politik

Nord Stream 2: Der ewige Zankapfel

Carla Bleiker Washington | Emily Sherwin Moskau | Iurii Sheiko Brüssel | Christoph Hasselbach | Henrik Böhme
18. November 2019

Mittlerweile hat der Bundestag die letzte Hürde für die Fertigstellung der Ostseepipeline aus dem Weg geräumt. Doch Nord Stream 2 bleibt ein Politikum, in dem Deutschland zwischen die Fronten geraten ist.

Pipeline-Verlegeschiff Castoro 10
Bild: picture-alliance/dpa/S. Sauer

Nord Stream 2 ist viel mehr als eine Gasleitung. Denn hier prallen wichtige strategische Interessen aufeinander. Auf der einen Seite stehen Russland als Gaslieferant und Deutschland - wie auch andere europäische Länder - als Abnehmer. Der Bundesregierung geht es vor allem um Versorgungssicherheit. Die ist besonders gefährdet, weil Deutschland als wohl einziges Land der Welt fast gleichzeitig sowohl aus der Kernkraft als auch aus der Kohle aussteigen will. Bevor sich Deutschland ganz auf erneuerbare Energien verlassen kann, wird Erdgas eine entscheidende Übergangslösung sein, wahrscheinlich noch Jahrzehnte. Doch auch andere europäische Länder werden von Nord Stream 2 profitieren.

Auf der anderen Seite stehen die bisherigen Transitländer, allen voran die Ukraine, aber auch Polen und die baltischen Staaten. Ihnen entgehen in Zukunft Einnahmen. Zusätzlich befürchten gerade diese Länder in der östlichen Hälfte Europas, dass sich Russland und Deutschland auf ihre Kosten einigen. Dies sind nicht nur wirtschaftliche Sorgen, sondern auch tiefe sicherheitspolitische Ängste, die bis zu den Zeiten des Hitler-Stalin-Paktes vor 80 Jahren zurückreichen.

Russland als zuverlässiger Lieferant

Die USA unter Präsident Donald Trump schlagen in dieselbe Kerbe. Trump sagt, Deutschland könne durch Nord Stream 2 zur "Geisel Russlands" werden. Er meint offenbar eine mögliche Blockade in einem Krisenfall und hat sogar mit Sanktionen für europäische Firmen gedroht, die sich an Nord Stream 2 beteiligen. Allerdings hat sich Moskau selbst in den Zeiten des Kalten Krieges als absolut zuverlässiger Energielieferant erwiesen.

Das bestätigt Josef Auer von DB Research, der Denkfabrik der Deutschen Bank. Im Prinzip seien Befürchtungen, Russland könnte Europa den Gashahn abdrehen, auf den ersten Blick gerechtfertigt. "Auf den zweiten Blick aber nicht. Denn Russland liefert schon seit 46 Jahren Erdgas nach Europa, insbesondere nach Deutschland, und es hat noch nie den Gashahn zugedreht", sagt Auer der Deutschen Welle (DW). Umgekehrt werde ein Schuh daraus. Russland habe momentan politische Probleme und unterliege bestimmten Sanktionen. "Und von daher ist das Land an stabilen Exporteinnahmen interessiert. Unter dem Strich würde Russland nicht gewinnen, sondern verlieren, sollte man die Gaslieferungen stoppen."

Hinter den amerikanischen Bedenken stehen denn auch vor allem eigene Wirtschaftsinteressen. Die USA wollen Flüssiggas an Deutschland verkaufen. Das ist allerdings deutlich teurer als russisches Erdgas. Das mache es für Amerika sehr schwierig, hier das Gas abzusetzen, sagt Auer. "Von daher kann man sich ja auch vorstellen, dass ein Motiv hinter der US-Politik ist, das Angebot zu verknappen, indem Russland eben nicht mehr liefert. Dann würden die Preise nach oben gehen und das verflüssigte Erdgas aus Amerika hätte hier in Europa bessere Chancen."

Trotzdem will Deutschland Terminals für Flüssiggas in einigen Hafenstädten bauen. Nicht nur die USA, auch andere, eventuell billigere Anbieterländer könnten so ihr Flüssiggas nach Deutschland verkaufen. Damit und mit Nord Stream 2 zusätzlich zu den bestehenden Gasleitungen könnte Deutschland in Zukunft sehr flexibel auf Veränderungen auf dem weltweiten Gasmarkt und mögliche Krisensituationen reagieren und würde so die Versorgungssicherheit erhöhen.

Vorbereitung der Rohre auf einem VerlegeschiffBild: picture-alliance/dpa/B. Wüstneck

Die Sicht Washingtons       

Die USA sind geschlossen gegen die Nord Stream 2-Pipeline. Das war schon Anfang des Jahres in einem Gastbeitrag dreier US-Botschafter auf dw.com zu lesen: Darin heißt es: "Nord Stream 2 würde die Anfälligkeit Europas für russische Erpressungen im Energiebereich weiter erhöhen." In das gleiche Horn stößt auch US-Präsident Trump, wenn er sagt, dass sich Deutschland damit zur "Geisel Russlands" mache. Fest steht aber auch: Washington investiert viel Geld in eine LNG- (liquefied natural gas - verflüssigtes Erdgas) Infrastruktur und möchte, dass Deutschland Energie-Ressourcen von den USA und nicht über die Pipeline aus Russland bezieht.

Die Vorlage des "Gesetzes zum Schutz von Europas Energiesicherheit", die Sanktionen gegen am Bau der Pipeline beteiligte Firmen vorsieht, betont im Titel die "freundliche Sorge" der US-Amerikaner. Am 31. Juli wurde der Gesetzesentwurf im Senatsausschuss für Außenpolitik verabschiedet. Die demokratische Senatorin Jeanne Shaheen, die den Gesetzesentwurf gemeinsam mit dem Republikaner Ted Cruz vorangebracht hat, erklärt ihre Ablehnung von Nord Stream 2 so: Das Projekt sei nur ein weiteres Mittel, "mit dem Russland seinen bösartigen Einfluss ausdehnen kann, indem es Europas Energieabhängigkeit ausnutzt". Sanktionen würden sich gegen alle Firmen richten, die mit speziellen Schiffen Rohre in Tiefen von etwa 30 Metern für russische Gas-Exporteure verlegen.

Seit einem Vierteljahr liegt der Gesetzesentwurf nun praktisch "auf Halde" und es dürfte noch dauern, bis er beide Häuser des US-Kongresses passiert. Aber die Abgeordneten könnten zu einem Trick greifen und ihren Entwurf an einen größeren anhängen. Wenn der Sanktionsvorschlag beispielsweise an das Gesetz über den US-Militärhaushalt gekoppelt würde, könnte er noch vor Weihnachten verabschiedet werden.

Verlegung einer Anschluss-Pipeline an Land in Mecklenburg-VorpommernBild: picture-alliance/dpa/S. Sauer

Thomas J. Pyle, Präsident des Think Tanks Institute for Energy Research, hält es allerdings für unwahrscheinlich, dass die Sanktionen dieses Jahr noch verabschiedet werden. "Mit der aktuellen innenpolitischen Situation - die Demokraten im Repräsentantenhaus sind voll und ganz mit dem Impeachment beschäftigt - ist es schwer vorstellbar, dass der Gesetzesentwurf in der nahen Zukunft durchkommt", sagt Pyle der DW. Das heiße aber nicht, dass Nord Stream 2 problemlos starten könne. "Nur weil der Kongress keine Sanktionen verabschiedet, bedeutet das nicht, dass die Pipeline fertiggestellt werden wird", sagt Pyle. "Ich habe keine Kristallkugel, aber es ist ein sehr kontroverses Projekt."

Die Sicht Moskaus

Im Kreml sieht man die möglichen US-Sanktionen entspannt. "Jetzt, wo fast alles schon fertig gebaut ist, Sanktionen zu erheben - das wäre einfach eine Dummheit", erklärt Sergei Pikin, der Leiter des Energieentwicklungsfonds. "Ich denke nicht, dass Sanktionen jetzt noch eine Auswirkung haben können." Denn der Großteil der Leitung ist schon fertiggestellt, man sei jetzt auf der "Zielgeraden", so Pikin im Gespräch mit der DW.

Statt sich über die Machenschaften in Washington Gedanken zu machen, schaut Moskau besorgt Richtung Brüssel. Denn eine neue Gasrichtlinie der EU-Kommission, die im Mai in Kraft getreten ist, könnte die Betreiber der Pipeline hart treffen. Die Regelung sieht eine sogenannte "Entflechtung" vor: Das gleiche Unternehmen darf demnach nicht eine Pipeline betreiben und auch noch das Gas dafür produzieren. Außerdem darf Gazprom möglicherweise nach den neuen Regelungen die Kapazitäten der Pipeline nur zur Hälfte ausnutzen, damit andere Wettbewerber ebenfalls Zugang haben. 

Vor einigen Tagen, am 11. November, schlug die Nord Stream 2 AG zurück. Sie hat gegen die EU-Kommission geklagt. Das Unternehmen sieht die neuen Regeln als diskriminierend an. Laut dem Energieexperten Pikin sind die EU-Regelungen eine viel größere Bedrohung für das Projekt als die US-Sanktionen. "Das bedroht die Kostendeckung des Projektes. Beim Bau wurden die Kosten mit Zahlen abgeglichen, die jetzt nicht mehr stimmen könnten. Wenn nur halb so viel Gas durch die Pipeline fließen darf, wie gedacht, dauert es doppelt so lange, bis die Investitionen sich rentieren."

Die Sicht unseres Karikaturisten Sergey Elkin

Geht die Ukraine leer aus?

Mit Nord Stream 2 will Russland die Ukraine umgehen - seit der Ukrainekrise und der Annektierung der Krim sind die beiden Länder verfeindet -, Moskau würde dadurch Milliardensummen an Transitgebühren an die Ukraine sparen. Am 31. Dezember läuft der Vertag zum Transit zwischen den beiden Ländern aus. Deutschlands Kanzlerin Angela Merkel hat zwar bei einem Treffen mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin letztes Jahr gefordert, dass die Ukraine auch weiterhin bei dem Transit von russischem Gas in Richtung Europa eine Rolle spielt, doch laut dem russischen Energieexperten Pikin ist es "unvermeidbar", dass Gazprom den Transit durch das Land herunterschraubt, sobald Nord Stream 2 in Betrieb genommen wird. "Da gibt es keine Zweifel. Die Frage ist nur, wie schnell das passiert."

Trotz der politischen Herausforderungen, vor denen Nord Stream 2 in den vergangenen Jahren immer wieder stand, ist der Experte sicher, dass die wirtschaftlichen Interessen unterm Strich wichtiger sind. "Wenn das Interesse [an dem Bau der Pipeline] nicht so groß wäre, wäre er schon längst eingestellt worden. Wenn man die Politik hier raushält, ist alles sehr einfach", sagt Pikin. Auch im Kreml scheint man das so zu sehen.

"Der Winter entscheidet"

Im Oktober bekam der Bau des dänischen Abschnittes der Pipeline endlich auch die mehr als anderthalb Jahre lang erwartete Zustimmung aus Dänemark. Putins Sprecher Dmitrij Peskow erklärte daraufhin im russischen Staatsfernsehen, man habe auf den Schritt "lange gewartet", aber er sei "nicht lebensnotwendig. Das Projekt hätte es auch ohne die Zustimmung gegeben", weil Nord Stream 2 für die Energiesicherheit europäischer Länder wichtig sei, gab der Sprecher die Sicht des Kreml wieder.

Trotz der neuen EU-Richtlinien sind Experten in Moskau sicher, dass pragmatische und nicht politische Faktoren letzten Endes die Nutzung der Pipeline bestimmen werden. "Wie immer wird es so sein, dass der Winter entscheidet", so Pikin gegenüber der DW.

Wie man in Brüssel die Sache sieht

Innerhalb der EU sorgt die Nord Stream 2 für eine tiefe Spaltung. Das Projekt wird vor allem von Deutschland, Österreich und den Niederlanden unterstützt. Dies sind die Länder, in denen die meisten Konzerne ansässig sind, die das Projekt mitfinanzieren. Gegen die Pipeline sind vor allem die mittel- und osteuropäischen Länder.

Beide Gruppen haben ihre wirtschaftlichen Interessen. Sollte Nord Stream 2 in Betrieb genommen werden, wird Deutschland die Möglichkeit haben, vom Verkauf oder Transport dieses Gases in die anderen EU-Länder zu profitieren. Das wird aber den mitteleuropäischen Ländern, überwiegend der Slowakei, Profite aus dem Gastransit entziehen.

Der Streit geht aber weit über die kommerziellen Interessen hinaus. Polen zum Beispiel wird Probleme mit der Gasversorgung der südöstlichen Gebiete haben, falls kein russisches Gas nach der Inbetriebnahme der Nord Stream 2 über die Ukraine transportiert wird. Die baltischen Staaten gehören zu den vehementesten Gegnern des Projekts, da sie höhere Abhängigkeit der EU von Russland befürchten.

Zudem beklagten die Gegner der Pipeline, dass die strengen EU-Gasmarktregeln nicht für die Nord Stream 2 gelten sollten. Die Bundesregierung leistete Widerstand, das europäische Recht auf alle Gasleitungen aus den Drittstaaten aufzuweiten. Diese Regeln sollen Konkurrenz durchsetzen. Für die Nord Stream 2 würde das bedeuten, dass der Betreiber der Pipeline unabhängig von Gazprom sein sollte und den Zugang für andere Lieferanten gewährleisten sollte. Das könnten die privaten russischen Gasfirmen sein oder die EU-Konzerne, die Gas aus Zentralasien kaufen und durch Nord Stream 2 in die EU liefern möchten. Da der Eingang in die Pipeline alleine unter Kontrolle des russischen Monopols steht, kann Gazprom den Zugang verweigern. In diesem Fall würde der Betreiber bis zur Hälfte der Kapazität der Pipeline leer halten soll.

EU lässt Berlins Entscheidung noch unkommentiert

Unklar bleibt, ob die Bundesregierung versucht, eine Freistellung für Nord Stream 2 zu ermöglichen. Am 13. November stimmte der Bundestag für die Umsetzung der neuen EU-Gasrichtlinie in das Energiewirtschaftsgesetz - doch in einer verwässerten Formulierung. Die Fraktionen der regierenden Großen Koalition und die FDP strichen den Punkt, nach dem die Freistellung nur für die Pipelines erteilt werden kann, die vor dem 23. Mai 2019 fertiggestellt wurden.

Die EU-Kommission kommentiert das noch nicht. Obwohl der Bundestag abgestimmt hat, will Brüssel nur dann Stellung nehmen, nachdem das Gesetz unterschrieben und veröffentlicht werden wird. Das ist die übliche Praxis der EU-Kommission, weil sie jegliche Vorwürfe einer möglichen Einmischung in die inneren Angelegenheiten der Mitgliedsstaaten vermeiden möchte.

Derzeit fehlen noch knapp 290 der insgesamt 1230 Kilometer langen Röhre. Mit dem Ja Berlins zur Umsetzung der EU-Gasrichtlinie und dem Okay aus Kopenhagen läuft der Lückenschluss nun auf Hochtouren. Schon bald also dürfte russisches Gas über die zweite Unterwasser-Leitung durch die Ostsee nach Europa fließen. Abzuwarten ist, wie es politisch weitergeht. Spannend bleibt es allemal.  

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