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Nord Stream 2: Wer gewinnt, wer verliert?

Jo Harper
24. Dezember 2021

Die Gaspipeline von Russland nach Deutschland spielt eine wichtige Rolle im Konflikt zwischen Russland und dem Westen über die Zukunft der Ukraine. Wer sind die Hauptgewinner und -verlierer beim Streit um Nord Stream 2?

Logo der Nord Stream 2 Pipeline
Bild: Maxim Shemetov/REUTERS

Die befürchtete Vorbereitung eines Angriffes Russlands auf die Ukraine und die steigende Inflation in Europa - getrieben vor allem durch steigende Energiepreise - haben etwas miteinander zu tun: die Ostseepipeline Nord Stream 2 (NS2) nämlich. Viele Beobachter glauben, Russland nutze seine Macht als Gaslieferant und würde die Preise hochtreiben, um so einen Keil in die Phalanx der Ukraine-Unterstützer zu treiben.

Die Gaspipeline NS2, die deutsche Verbraucher mit russischem Gas versorgen soll, ist ein wichtiges Element in diesem komplexen Machtspiel. Es ist noch nicht sicher, ob und wann Gas durch die Ostseeröhre fließen wird, doch stellt sich die Frage: Wer gewinnt und wer verliert, wenn das umstrittene Projekt begraben werden sollte?

Die Gaspipeline zwischen Russland und Deutschland - unter Umgehung von Belarus, Polen und der Ukraine

Der geopolitische Aspekt

Die 1230 Kilometer lange und rund zehn Milliarden Euro teure Pipeline könnte die direkte Gasexportkapazität Russlands nach Deutschland auf 110 Milliarden Kubikmeter pro Jahr verdoppeln. Sollten die Aufsichtsgremien in Berlin und Brüssel ihre Zustimmung erteilen, könnte der Gastransport im neuen Jahr beginnen.

Inzwischen aber hat die deutsche Bundesnetzagentur das Zertifizierungsverfahren für Nord Stream 2 ausgesetzt. Eine Entscheidung über die endgültige Zulassung soll erst in der zweiten Jahreshälfte 2022 fallen.

Aber das wird die seit langem gehegten Befürchtungen in Washington, Warschau und Kiew nicht beschwichtigen, dass NS2 von Russland für politische Zwecke genutzt werden könnte. Im Gegenteil: Die Befürchtungen nahmen noch zu, als die Gasexporte aus Russland im November auf ein Sechsjahrestief gefallen und die Großhandelspreise auf etwa 800 US-Dollar pro 1000 Kubikmeter gestiegen waren, weit über dem normalen Niveau von rund 300 US-Dollar.

"Es gibt reichlich Kapazitäten auf bestehenden Routen, aber der Kreml hat seit Monaten die Entscheidung getroffen, die Erdgasknappheit in den EU-Speichern zu verschärfen, indem er es ablehnt, zusätzliche Kapazitäten über das vertraglich vereinbarte Niveau hinaus auf diesen Routen zu buchen", sagt Benjamin L. Schmitt von der Harvard University und Senior Fellow am Center for European Policy Analysis im Gespräch mit der DW. Dies, so Schmitt, untermauere die Behauptung, Russland setze seine Gasmacht ein, um die Regulierungsbehörden in Deutschland und Brüssel zu zwingen, die Zertifizierung von NS2 zu beschleunigen.

Rohrsysteme und Absperrvorrichtungen in der Gasanlandestation von Nord Stream 2Bild: Jens Büttner/dpa/dpa-Zentralbild/picture alliance

Rückschlag für Berlin

Deutschland steht vor einem Dilemma, seit es versucht, von fossilen Brennstoffen wegzukommen. Berlin hat entschieden, die Kernenergie aufzugeben, doch Deutschlands erneuerbare Energiequellen erzeugen auf absehbare Zeit nur eine zu geringe Menge an Strom - da schien die Gastransitinfrastruktur, die oft problematische Transitländer wie Polen und die Ukraine ausschließt, eine Zeitlang geradezu ideal.

Und nun - angesichts von Forderungen aus den USA, die Pipeline als Druckmittel zu nutzen, um Russland von einem weiteren Eindringen in die Ukraine abzuhalten und der Sorge um die Entflechtung des EU-Energiesektors einerseits und des Widerstandes der mitregierenden Grünen Partei gegen das Projekt andererseits - befindet sich Berlin in einer Zwickmühle.

"Ich würde sagen, dass Deutschland wahrscheinlich am meisten unter der längerfristigen Aussetzung von NS2 leiden würde", sagte Anna Mikulska vom Center for Energy Studies an der Rice University der DW. "Es hätte keinen direkten Zugang zu Gas aus Russland und kann nicht einmal daran denken, ein Gasknotenpunkt für die Region zu werden", fügt sie hinzu.

Um aus dieser Sackgasse herauszufinden, versucht Berlin, die ukrainischen Befürchtungen, an den Rand gedrängt zu werden, zu zerstreuen. Bundeskanzler Olaf Scholz versprach, Deutschland werde "alles tun", um sicherzustellen, dass die Ukraine ein Transitland für russische Gasexporte nach Europa bleibt. Berlin hatte die Biden-Regierung im Juli davon überzeugt, einen Fonds in Höhe von einer Milliarde US-Dollar für die Ukraine zu kofinanzieren, um zur Diversifizierung ihrer Energieversorgung beizutragen. Berlin hat auch versprochen, der Ukraine die Gastransitgebühren zu erstatten, die es durch die Umgehung durch NS2 bis 2024 verlieren wird.

Aber gleichzeitig verpflichtete eine gemeinsame Erklärung der USA und Deutschlands Berlin, Sanktionen gegen Russland auf EU-Ebene anzustreben. "Doch Berlin hat diese Realität noch nicht einmal öffentlich anerkannt, geschweige denn Sanktionen auf EU-Ebene angestrebt", fügte Schmitt hinzu. "Das ist de facto eine Schwächung genau des Abkommens, das Deutschland selbst unterzeichnet hat."

Inzwischen werden bereits Risse im Berliner Regierungsbündnis zwischen den Grünen und der SPD sichtbar. "Ich denke, die größten Verlierer werden die deutschen und die österreichischen Gaskunden sein, deren Rechnungen um ein Viertel steigen werden - wie meine eigene auch", sagte Albrecht Rothacher, Autor des Buches Putinomics, Wie der Kreml der russischen Wirtschaft schadet, gegenüber DW.

Andere spielen die Auswirkungen herunter: "Deutschland wäre in der Tat nicht wesentlich betroffen, wenn NS2 gestoppt würde, da die Pipeline nicht darauf ausgelegt ist, neues Gas in signifikanter Menge auf den deutschen Markt zu bringen, sondern darauf abzielt, die Ukraine zu umgehen, indem sie dieselben Mengen wie bislang durch NS2 bringt", erklärte Schmitt.

Schlepper ziehen das russische Rohr-Verlegeschiff "Fortuna" aus dem Hafen auf die OstseeBild: Jens Büttner/dpa/picture alliance

Die Europäische Union

Die Staats- und Regierungschefs der EU warnten Russland bereits, dass ein Vorgehen gegen die Ukraine zu "massiven Konsequenzen" führen würde. Westliche Geheimdienste hatten berichtet, dass mehr als 100.000 russische Soldaten in der Nähe der ukrainischen Grenzen stationiert worden seien.

Die Europäische Kommission hat erklärt, dass sie bereit ist, zusätzliche Sanktionen gegen Russland zu verhängen und diejenigen zu verschärfen, die nach der Annexion der Halbinsel Krim durch Russland im Jahr 2014 entstanden sind. Alle EU-Mitglieder müssen sich auf Sanktionen einigen, aber bisher sind sie sich uneins, wie sie mit Russland umgehen sollen.

Es ist noch nicht klar, was ein Sanktionspaket beinhalten würde. Die Biden-Administration erwägt, Russland vom SWIFT-System internationaler Zahlungen abzuschneiden, aber die naheliegende Option besteht darin, Deutschland unter Druck zu setzen, NS2 zu blockieren.

Die europäischen Länder werden jedoch nicht nennenswert betroffen sein, wenn NS2 nicht in Betrieb geht, da sie das benötigte Gas auch über bereits bestehende Pipelines erhalten können, sagen Experten. "Das Problem im Moment ist nicht der Mangel an Pipeline-Kapazitäten, sondern dass Russland nicht genügend Gas nach Europa verschifft", sagte Chris Miller, Assistenzprofessor für internationale Geschichte an der Tufts University, der DW.

Die Vereinigten Staaten

Im Mai verzichteten die USA auf Sanktionen gegen russische Unternehmen, die NS2 beaufsichtigen. "Ich vermute, Bidens Neigung besteht darin, die großen Sanktionen zurückzuhalten, in der Hoffnung, dass allein die Drohung eine weitere russische Aggression in der Ukraine verhindern wird", kommentierte Jeffrey Schott, Senior Fellow am Peterson Institute for International Economics.

Die USA haben in den letzten Jahren einen Anstieg der Gasproduktion und fallende Preise erlebt und sind auf der Suche nach neuen Märkten. Polen und die Ukraine haben beide Interesse am Kauf von LNG von US-Lieferanten bekundet, aber es kann Jahre dauern, bis die Infrastruktur bereit ist, es kommerziell rentabel zu machen.

Die USA könnten auch von politischen Spaltungen innerhalb der EU profitieren. Darauf könnte auch China spekulieren, das bereits begonnen hat, osteuropäische Infrastruktur zu erwerben.

Die "Fortuna" vor dem Hafen der deutschen Hansestadt WismarBild: Dmitrij Leltschuk/Sputnik/dpa/picture alliance

Polen und die Ukraine

Polen und die Ukraine erzielen derzeit Einnahmen aus Transitgebühren, die Gazprom, der staatliche russische Gasriese, als Gegenleistung für die Lieferung seines Gases über ihre Gasnetze nach Westeuropa zahlt.

Kiew und Warschau befürchten zudem eine Schwächung ihrer politischen Verhandlungsmacht im Falle einer Umgehung der Pipeline unter der Ostsee direkt nach Deutschland. Auch die großen Gasreserven der Ukraine könnten so überflüssig werden.

"Von allen beteiligten Parteien und Stakeholdern wäre Putins Kreml der größte Verlierer, wenn NS2 endgültig gestoppt würde", so Schmitt. "Durch den Stopp der Nord Stream Pipeline würde Gazprom immer noch auf das ukrainische Gastransportsystem angewiesen sein, um Mengen an die EU-Märkte zu liefern, was als zusätzliche strategische Abschreckung gegen eine weitere russische Destabilisierung der Ukraine dienen würde."

Polen hat sich jedoch auf die Suche nach neuen Gasquellen gemacht, Verträge mit Norwegen, Katar und den USA unterzeichnet, LNG-Terminals (Liquified Natural Gas) an seiner Ostseeküste gebaut und versucht, einen regionalen Gasknotenpunkt aufzubauen.

"Polen wird gerne die Position des regionalen Gasknotenpunkts einnehmen, sobald seine gesamte Infrastruktur fertiggestellt ist", sagte Anna Mikulska von der Rice University.

Russland wäre der politische Hauptverlierer 

Noch arbeitet die Zeit für Putin. "NS2 ist für die russische Regierung nicht besonders wichtig, um sich selbst zu finanzieren, denn selbst wenn die Pipeline nicht in Betrieb geht, kann Russland Gas über andere Röhren nach Europa schicken", erläuterte Miller.

Aber Russland habe dennoch am meisten zu verlieren, wenn NS2 beerdigt wird, fügt er hinzu. "Es wird eine bedeutende politische Niederlage für den Kreml sein, auch wenn es Russland finanziell nicht viel kosten wird", sagte er.

Anna Mikulska dagegen denkt, die Kontroverse um NS2 könnte Putins auch nutzen. "Die NS2-Kontroverse aufrechtzuerhalten, ist für Putin politisch nicht so negativ. Das Thema spaltet Europa intern und die USA und einige ihrer westeuropäischen Verbündeten", sagte sie. "Das NS2-Problem wird zu einer nützlichen Vertuschung dafür. Es ist eine machiavellistische Idee, bei der es besser ist, derjenige zu sein, der gefürchtet wird."

Gasprom - hier die deutsche Geschäftsstelle in der Hauptstadt Berlin - gehören Gas und PipelineBild: Jaap Arriens/NurPhoto/picture alliance

Gasprom - der einsame Besitzer

Es gibt nur einen Aktionär von NS2, Gazprom. Wie würde die Beendigung von Nord Stream 2 dem Energieriesen schaden? "Insofern, als es die Kosten erhöhen würde", glaubt Mikulska. "Den Finanzierungspartnern - ENGIE, OMV, Shell, Uniper und Wintershall Dea - sollte es nicht schaden, solange Gasprom sich an die Finanzierungsbedingungen hält."

Es gebe jedoch noch eine interessante Wendung, fügt sie hinzu: "Wenn Gasprom mit seinen Zahlungen in Verzug gerät, können die Unternehmen laut Finanzierungsvereinbarung den Anteil des Unternehmens übernehmen."

Kamil Lipinski, Analyst des Polnischen Wirtschaftsinstituts (PIE), setzt auf eine Entflechtung auf russischer Seite: Im Falle eines EU-Urteils, das alleinige Eigentum einer Partei an der Pipeline selbst und dem Gas, das sie darin transportieren will, widerspräche EU-Energievorschriften, dann müsse Gasprom seine verschiedenen Interessen "entbündeln". Davon könnten seine russischen inländischen Rivalen davon profitieren, indem sie in den lukrativen Gasexporthandel einsteigen.

"Die Entflechtung oder die Aussetzung des NS2-Projekts wäre ein klares Signal für die stärker marktorientierten Wettbewerber von Gazprom auf dem russischen Gasmarkt wie Rosneft und Novatek. Es könnte sie ermutigen, die Position des Unternehmens im Exportbereich in Frage zu stellen", sagte Lipinski der DW.

Ana Mikulska meint jedoch, dass Putins Strategie - wenn es das ist, was es ist - nach hinten losgegangen sein könnte: "Es gibt nicht nur einfach eine Verzögerung, sondern Gazprom war auch nicht in der Lage, von den sehr hohen Gaspreisen auf dem europäischen Markt zu profitieren."

Es bestehe nämlich die Möglichkeit, dass Gasprom einfach nicht genug Gas hatte, um es nach Europa zu schicken, angesichts der Notwendigkeit, seine Speicher nach einem kalten Winter, einem Ausfall im Urengoi-Werk und dem frühen Beginn des kalten Wetters in diesem Jahr wieder aufzufüllen.

"Ich denke, dies ist sehr wahrscheinlich und noch schädlicher für Gasprom, da es darauf hindeuten würde, dass das Unternehmen nicht über die Fähigkeiten verfügt, der wahre Swing-Produzent, sozusagen das Saudi-Arabien von Gas für Europa, zu sein. Das würde seine Verhandlungsposition und sein geopolitisches Ansehen schwächen", sagte Mikulska.

 

Dieser Beitrag wurde aus dem Englischen übersetzt.

 

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