Ausbau ohne Auslastung
7. Oktober 2012 Das Projekt Nord Stream-Pipeline steht kurz vor seinem Abschluss. Nach der feierlichen Inbetriebnahme des zweiten Strangs am 08.10.2012 liegt die Kapazität der russisch-europäischen Gasleitung wie geplant bei 55 Milliarden Kubikmeter Erdgas pro Jahr.
Deutsche Experten begrüßen den Bau der Leitung. Sie ermöglicht es Gazprom, seine Exporte nach Deutschland und anderen Ländern Mittel- und Westeuropas zu erhöhen. Außerdem können Kunden unter Umgehung von Transitländern beliefert werden. "Grundsätzlich ist es aus Aspekten der Versorgungssicherheit positiv zu beurteilen, weil man einen direkten Zugang zu den russischen Gasliefermengen hat", sagte Claudia Kemfert vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin der DW. Kemfert erinnerte daran, dass es in jüngster Vergangenheit zu Ausfällen im Zusammenhang mit dem Transit von Gas durch die Ukraine gekommen war.
Diese Unterbrechungen hätten seinerzeit die Verbraucher stark verunsichert, sagte Josef Auer im Gespräch mit der Deutschen Welle. Der Energie-Experte von "Deutsche Bank Research", einer Forschungseinrichtung der Deutschen Bank in Frankfurt am Main, bewertet die makroökonomische und psychologische Bedeutung des ersten Strangs der Nord Stream-Pipeline als äußerst positiv. Sie wurde im November 2011 in Betrieb genommen. Die Inbetriebnahme des zweiten Strangs macht seiner Ansicht nach die Situation auf dem europäischen Energiemarkt "aufgelockerter, als sie es ohnehin schon war".
Russisches Gas bislang zu teuer
Zugleich betonen aber beide Experten, das an den Ölpreis gebundene russische Gas sei zu teuer. Das sei sowohl für die Verbraucher als auch für Gazprom ein Problem. Die unflexible Preispolitik des russischen Konzerns, so die Experten, sei der Grund für die geringe Auslastung des ersten Strangs der Nord Stream-Pipeline. In den ersten elf Monaten ihres Betriebs seien im Durchschnitt nur 30 bis 40 Prozent der maximalen Auslastung erreicht worden, bestätigte Jens Müller, der Pressesprecher des Pipeline-Betreibers, der DW . Während dieser Zeit seien rund neun Milliarden Kubikmeter Gas durch die Leitung gepumpt worden.
Die Geschäftsbilanz des ersten Betriebsjahres der Nord Stream-Pipeline, meinen die Experten, dürfte für Gazprom nicht sehr befriedigend ausfallen. "Beim zweiten Strang ist das Risiko noch höher", stellt Auer fest. Wenn Gazprom nicht zu günstigen Preisen liefern werde, dann bestehe das Risiko, dass die Kapazitäten der Pipeline nicht voll genutzt würden.
Wirtschaftlichkeit der Pipeline gefährdet
Dass es derzeit auf dem internationalen Mark ein Überangebot an Gas gibt, darauf weist Claudia Kemfert hin: "Russland ist ein wichtiger Lieferant. Aber es kommt immer mehr Wettbewerb hinzu, und das drückt die Gaspreise nach unten. Das dürfte dann auch die Wirtschaftlichkeit eines solchen Mammut-Projekts wie die Nord Stream-Pipeline berühren." Die Expertin vermutet, dass die Pipeline noch viele Jahre für Gazprom defizitär sein wird. Sie betont aber, dass man das Projekt langfristig bewerten müsse: "Wir brauchen Gas in der Zukunft. In den nächsten Jahrzehnten wird die Gasversorgung in Europa immer wichtiger werden", unterstreicht Claudia Kemfert. Und so werde auch die Nord Stream-Pipeline immer wichtiger werden.
Allerdings werde auch das Angebot von Gas auf dem Weltmarkt weiter steigen, meint Kemfert. Sie schließt nicht aus, dass in Zukunft US-Schiefergas in flüssiger Form ("Liquid Natural Gas") nach Europa geliefert wird. Davon ist auch Josef Auer überzeugt. Er nannte sogar ein konkretes Datum: das Jahr 2015. Dann werde im Süden der Vereinigten Staaten eine LNG-Anlage im Betrieb gehen. Der Experte der Deutschen Bank glaubt, dass die Wettbewerbsfähigkeit der Nord Stream-Pipeline durch amerikanische Flüssiggas-Lieferungen weiter ernsthaft belastet werden könnte. Daher rät er Gazprom, schnell zu einer flexibleren Preispolitik überzugehen. Später werde es schwierig sein, die Konkurrenz zu besiegen, so Auer.