Nord-Stream-Ermittlungen werfen heikle Fragen auf
28. August 2025
Drei Jahre nach der Sprengung der Nord-Stream-Gaspipeline in der Ostsee haben deutsche Ermittler nach einem Medienbericht alle Mitglieder einer Gruppe identifiziert, die für die Tat verantwortlich sein soll. Alle sollen Ukrainer sein. Außerdem wurde am 21. August ein erster Tatverdächtiger in Italien gefasst. Die deutsche Bundesanwaltschaft ließ an der Adria den mutmaßlichen Koordinator der Operation per europäischen Haftbefehl festnehmen.
Gemeinsame Recherchen der Wochenzeitung "Die Zeit", der "Süddeutschen Zeitung" und der ARD berufen sich auf Erkenntnisse der Bundesanwaltschaft. Demnach bestand das Sabotagekommando aus einem Skipper, dem jetzt festgenommenen Koordinator Serhii K., einem Sprengstoffexperten und vier Tauchern. Politisch pikant: Ein Mitglied der Gruppe, der inzwischen getötete ukrainische Soldat Wsewolod K., erhielt demnach im vergangenen Jahr bei der Bundeswehr eine militärische Ausbildung.
Medienbericht spricht von Hilfe von ukrainischen Behörden
Die Bundesanwaltschaft hat sich bislang nicht zu dem Medienbericht geäußert. Tatsächlich enthält er politischen Sprengstoff. Denn der Verdacht, dass die Gruppe Hilfe von ukrainischen staatlichen Stellen erhielt, erhärtet sich demnach.
So seien die Verdächtigen mit ukrainischen Originalpässen mit falschen Namen durch Polen nach Deutschland gereist. Einer der Verdächtigen sei außerdem im Sommer 2024 in einem Auto des ukrainischen Militärattachés aus Polen in die Ukraine gebracht worden, um einer Festnahme zu entgehen.
Sollten Verbindungen zur ukrainischen Staatsführung bei einem massiven Sabotageakt gegen deutsche Infrastruktur nachgewiesen werden, würde das die ukrainisch-deutschen Beziehungen schwer belasten - und womöglich die weitere deutsche Unterstützung der Ukraine im Krieg gegen Russland infrage stellen.
Die Politikerin Sahra Wagenknecht hatte bereits nach der Festnahme von Serhii K. der Nachrichtenagentur Reuters gesagt, es sei "komplett abwegig", dass die Gruppe "ohne Rückendeckung der ukrainischen Führung und der damaligen Biden-Administration in den USA handelten". Und weiter: "Es ist völlig absurd, dass Deutschland viele Milliarden für Ukraine-Hilfen ausgibt, aber niemals Aufklärung von (Präsident Wolodymyr) Selenskyj einforderte. Auch mögliche Entschädigungsfragen sollten sich stellen", sagte die Chefin des Bündnisses Sahra Wagenknecht, die wiederholt Sanktionen gegen Russland abgelehnt hat.
Nord Stream ist ein russisch-deutsches Megaprojekt, das von Anfang an viele Gegner hatte, unter anderem Polen, die USA, die baltischen Staaten und vor allem seit Beginn des russischen Angriffskrieges im Februar 2022 die Ukraine. Daher war die Frage bei den Ermittlungen immer: Wem nützt die Sprengung?
Die Chronologie:
2005: Die deutsche Regierung unter dem damaligen SPD-Bundeskanzler Gerhard Schröder unterzeichnet zusammen mit der russischen Regierung unter Präsident Wladimir Putin eine Absichtserklärung zum Bau der Pipeline Nord Stream 1. Sie soll russisches Gas unter Umgehung von Transitländern durch die Ostsee nach Deutschland bringen. Erste Vorschläge der Idee wurden bereits in den 1990er Jahren gemacht.
2006: Gründung der Gesellschaft Nord Stream AG zur Planung und Umsetzung des Projekts. Beteiligt sind die russische Gazprom und mehrere europäische Energieversorger, denn an der Gasversorgung sind nicht nur die Deutschen, sondern auch andere Europäer interessiert.
2010: Baubeginn von Nord Stream 1. Die doppelröhrige Pipeline mit einer Länge von je 1224 Kilometern verbindet Wyborg in Russland mit dem deutschen Lubmin in Mecklenburg-Vorpommern.
2011/2012: Inbetriebnahme der beiden Röhren. Sie sollten dem Betreiber zufolge mindestens 50 Jahre lang Europa mit Gas versorgen. Baukosten nach Angaben der Nord Stream AG: 7,4 Milliarden Euro.
Russlands Krim-Annexion spielt keine Rolle
2013: Beginn der Planungen von Nord Stream 2, zwei weiteren 1250 km langen Strängen, die im wesentlichen parallel zu den bestehenden Röhren von Russland nach Deutschland verlaufen sollen.
2015: Erste Verträge von Nord Stream 2 werden unterzeichnet. Beteiligt sind erneut der russische Staatskonzern Gazprom und mehrere europäische Energieversorger. Nur ein Jahr zuvor hatte Russland die ukrainische Halbinsel Krim annektiert. Für die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) ist das kein Grund, das Projekt zu stoppen.
Der Widerstand nimmt zu
2016: Von Anfang an haben vor allem die Ukraine, Polen und die baltischen Staaten Bedenken gegen Nord Stream wegen ihrer Sicherheitsinteressen und äußern ihre Sorge immer vehementer. Auch die EU warnt. Nach der ersten Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten nimmt der Widerstand auch der USA gegen Nord Stream zu. Trump warnt vor einer zu starken Abhängigkeit Deutschlands von russischen Energielieferungen. Die Bundesregierung ignoriert sämtliche Bedenken und stellt Nord Stream nicht nur als Antwort auf Europas Energieversorgungssicherheit, sondern auch als Instrument der Friedenssicherung durch Handel dar.
2018: Baubeginn von Nord Stream 2. Bundeskanzlerin Angela Merkel räumt erstmals ein, dass Nord Stream kein bloß privatwirtschaftliches Projekt sei, sondern "natürlich auch politische Faktoren zu berücksichtigen sind". Ein Stopp kommt für sie aber nicht infrage.
2019: Der Ton der USA wird schärfer. Richard Grenell, US-Botschafter in Berlin, schreibt Drohbriefe an deutsche Unternehmen, die an Nord Stream beteiligt sind.
2021: Nord Stream 2 wird fertig gestellt. SPD-Bundeskanzler Olaf Scholz spricht sich kurz nach der Amtsübernahme im Dezember dagegen aus, das Projekt aus politischen Gründen zu stoppen. Er bezeichnet die Pipeline als "privatwirtschaftliches Vorhaben", das unabhängig von den Beziehungen zu Russland zu bewerten sei, die währenddessen immer schwieriger werden.
Der Krieg verändert alles
22. Februar 2022: Vor dem Hintergrund russischer Aggression gegenüber der Ukraine setzt Bundeskanzler Scholz die Zertifizierung von Nord Stream 2 und damit das Genehmigungsverfahren aus.
24. Februar 2022: Russland greift die Ukraine an. Die Nord-Stream-Kritiker fühlen sich bestätigt. Die Gaslieferungen über Nord Stream 1 gehen zunächst weiter. Aufgrund der EU-Sanktionen gegen Russland verringert sich aber die Menge, die die Staaten der EU von Russland beziehen.
Juli/August 2022: Angeblich aufgrund von Wartungsarbeiten wird Nord Stream 1 von Russland stillgelegt. Gazprom macht eine defekte Turbine für weitere Verzögerungen verantwortlich. Die Gasversorgung wird später begrenzt wiederaufgenommen, schließlich bis Ende August erneut eingestellt. Sie soll laut Kreml-Sprecher Dmitri Peskow erst bei einem Ende der Russland-Sanktionen wiederaufgenommen werden.
Wer steckt hinter der Sprengung?
26. September 2022: Beide Pipeline-Stränge von Nord Stream 1 und einer der beiden Stränge von Nord Stream 2 in der Nähe der dänischen Insel Bornholm werden gesprengt. Deutschland, Dänemark und Schweden nehmen Ermittlungen auf.
2023: Im Laufe der Zeit werden verschiedene Theorien geäußert, wer hinter den Anschlägen stecken könnten. Der US-Investigativjournalist Seymour Hersh behauptet, die USA und Norwegen hätten die Gasleitungen gesprengt. Beweise kann er allerdings nicht vorlegen.
August 2024: Die polnische Staatsanwaltschaft hat nach eigenen Angaben von der deutschen Bundesanwaltschaft einen Europäischen Haftbefehl zur Festnahme eines Verdächtigen erhalten, der an den Anschlägen beteiligt gewesen sein soll. Laut der "Tagesschau" war dies bereits im Juni. Der verdächtige Ukrainer Wolodymyr Z., der sich nach polnischen Angaben zuletzt in Polen aufhielt, soll sich bereits Anfang Juli in die Ukraine abgesetzt haben. Nach Medienberichten war er Tauchlehrer. Die Frage, warum die polnischen Behörden nicht früher handelten, begründet die polnische Staatsanwaltschaft mit einem Formfehler: Von deutscher Seite habe es keinen Eintrag in das Schengen-Register gegeben, in dem die mit Europäischem Haftbefehl Gesuchten geführt werden. Daher habe der polnische Grenzschutz Wolodymyr Z. nicht verhaften können.
21. August 2025: Italienische Carabinieri nehmen den von der deutschen Bundesanwaltschaft gesuchten Ukrainer Serhii K. an der Adria fest.
Wie könnte es weitergehen? Nord Stream ist offenbar nicht komplett abgeschrieben und könnte Gegenstand einer amerikanisch-russischen Vereinbarung zur Beilegung des Ukraine-Kriegs werden. Der russische Außenminister Sergej Lawrow hatte bereits im März im staatlichen Fernsehen gesagt: "Über Nord Stream wird gesprochen."
Dieser Artikel erschien erstmals am 22.08.2025 und wurde am 28.08. nach dem Medienbericht von "Die Zeit", "Süddeutscher Zeitung" und ARD aktualisiert.