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Kein Lebenszeichen aus Nordkorea

Nina Werkhäuser | Esther Felden
20. Dezember 2023

Kim Cheol Ok gehörte zu den Hunderten Nordkoreanern, die kürzlich aus China abgeschoben wurden. In Nordkorea droht ihr Folter. Ihre Schwester hat Angst, sie nie wiederzusehen.

Eine Karte zeigt die Grenze zwischen China und Nordkorea sowie die Zahl der Nordkoreaner, die zwischen August und Oktober mutmaßlich über fünf verschiedene Grenzübergänge aus China deportiert wurden.
Mehr als 600 Nordkoreaner wurden zwischen August und Oktober aus China abgeschoben. Weitere könnten folgenBild: Transitional Justice Working Group

Für einen Moment leuchten Kim Kyu Lis Augen, als ihr junger Hund Cookie an ihr hochspringt. Während sie in ihrem Londoner Wohnzimmer durch sein wuscheliges Fell streichelt, rücken ihre Sorgen kurz in den Hintergrund. Die letzten Monate waren hart für die 46-jährige Nordkoreanerin. Seit dem 9. Oktober 2023 gibt es von ihrer jüngeren Schwester Kim Cheol Ok kein Lebenzeichen mehr. 

An diesem Tag wurde Kim Cheol Ok aus China nach Nordkorea abgeschoben. "Ich bin mir sicher, dass sie geschlagen wird", sagt Kim Kyu Li der DW. Dieses Schicksal hätten bereits andere Familienmitglieder erlitten. Inhaftierte würden nicht nur misshandelt, sondern bekämen auch sehr wenig zu essen. "Sie essen Mäuse und Kakerlaken und werden krank davon." Kim Kyu Li hat große Angst, dass ihre Schwester diese Torturen nicht überlebt.

"Ihr einziges Vergehen war, dass sie in Nordkorea geboren wurde", sagt Kim Kyu Li über ihre jüngere SchwesterBild: Esther Felden/DW

Die Flucht aus dem Land wird im diktatorisch geführten Nordkorea als schweres Vergehen gewertet, auf das harte Strafen stehen. Wer unerlaubt das Land verlässt, gilt als Verräter und wird eingesperrt. Nach Angaben der UN sind in nordkoreanischen Gefängnissen und Straflagern Folter und Misshandlungen an der Tagesordnung.   

Massenabschiebung nach Öffnung der Grenze

Kim Kyu Lis Schwester war nicht die Einzige, die am 9. Oktober nach Nordkorea deportiert wurde. Offenbar fand an diesem Tag eine regelrechte Massenabschiebung statt: Etwa 500 in China lebende Nordkoreaner seien unter Zwang in ihr Heimatland zurückgebracht worden, bestätigt Ethan Hee-Seok Shin von der Transitional Justice Working Group. Aus chinesischer Haft sollen sie in schwer bewachten Bussen und Lastwagen nach Nordkorea zurückgebracht worden sein. Und zwar über fünf Grenzübergänge, die die in Südkorea ansässige Menschenrechtsorganisation in einer Karte dokumentiert hat.

Die Übergabe der Gefangenen findet zumeist auf Brücken statt, die über die Grenzflüsse Tumen oder Yalu führen. Über die Einzelheiten ist wenig bekannt, aber ein Detail schildert Yoo Suyeon von der Menschenrechtsorganisation Korea Future, die seit Jahren Interviews mit nordkoreanischen Geflüchteten aufzeichnet: "In der Mitte der Brücke werden ihnen die chinesischen Handschellen abgenommen und stattdessen nordkoreanische angelegt." Diese seien im Vergleich zu den chinesischen "rostig und alt".

Sorge um die jüngere Schwester Kim Cheol Ok, hier auf einem Foto aus China, wo sie 25 Jahre lebteBild: Privat

Abtrünnige IT-Spezialisten hatten Priorität

Während der COVID-19-Pandemie hielt das Regime in Pjöngjang die Landesgrenzen für dreieinhalb Jahre rigoros geschlossen. Nach der Öffnung im Sommer 2023 sollen sich Nordkorea und China darauf verständigt haben, eine größere Zahl von Nordkoreanern zurückzuschieben.

Höchste Priorität hätten diejenigen gehabt, die zuvor eng mit dem Regime von Kim Jong Un zusammengearbeitet hatten. Zum Beispiel Diplomaten, die sich absetzen wollten oder Hacker, die im Auftrag des Regimes an Cyber-Operationen in China beteiligt waren. Das berichten Experten übereinstimmend gegenüber der DW. Sie stützen sich dabei auf vertrauenswürdige Informanten, deren Identität aus Sicherheitsgründen geheim bleiben muss. 

An diesen IT-Spezialisten und anderen Menschen, die Zugang zu sensiblen Informationen hatten, war das Regime in Pjöngjang mutmaßlich besonders interessiert. Sie sollen in der ersten Gruppe von 80 Deportierten gewesen sein, die bereits Ende August nach Nordkorea zurückgeschoben wurden. Die Sorge ist groß, dass diese Personen für den Rest ihres Lebens in Straflagern für politische Gefangene verschwinden könnten und man nie wieder etwas über ihr Schicksal erfährt. 

Nordkoreanische Soldaten patrouillieren an der mehr als 1400 Kilometer langen Grenze zu ChinaBild: Kyodo/picture alliance

Das letzte Lebenszeichen

Es war nur ein einziger, hastiger Anruf, den Kim Cheol Ok am 9. Oktober machen konnte, um ihre Familie über die unmittelbar bevorstehende Abschiebung nach Nordkorea zu informieren. Kurz durfte sie dafür das Mobiltelefon eines chinesischen Wachmannes benutzen.

Die Abschiebung traf sie und ihre Familie wie ein Schock. Die 40-jährige Cheol Ok lebte bereits seit 25 Jahren in China. Ihre Schwester in London beschreibt sie als ruhige, aber starke Persönlichkeit voller Energie. Cheol Ok war 1998 aus Nordkorea geflohen, ein Jahr nach ihrer älteren Schwester Kyu Li. Zum Zeitpunkt ihrer Flucht herrschte in Nordkorea eine beispiellose Hungersnot.

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Als Cheol Ok mit gerade einmal 14 Jahren in China ankam, wurde sie von einem Schlepper mit einem 30 Jahre älteren Mann verheiratet. Die beiden haben eine gemeinsame Tochter, die chinesische Staatsbürgerin ist.

Ohne Papiere

Sie selbst bekam jedoch nie einen Aufenthaltstitel und lebte zurückgezogen in einer ländlichen Gegend in der Provinz Jilin im Nordosten Chinas. Sie arbeitete auf dem Feld und später in Restaurants. Ihr Mann habe sie gut behandelt, erzählt ihre Schwester Kyu Li.

Im April wurde sie von der chinesischen Polizei festgenommen, mutmaßlich bei dem Versuch, das Land zu verlassen. "Sie hat nichts getan, ihr einziges Vergehen war, dass sie in Nordkorea geboren wurde", sagt Kyu Li. Nach 25 Jahren in China spreche ihre Schwester nur noch wenig Koreanisch und habe keine Verwandten mehr in Nordkorea.

China ist Nordkoreas engster Verbündeter - Staatschef Xi Jinping (links) mit Nordkoreas Kim Jong Un Bild: Yonhap/picture alliance

Ein Bruder starb in Haft

Die Abschiebung von Cheol Ok reißt in der Familie Wunden auf, die nie verheilt sind: Neben Kyu Li gelang noch einer zweiten, älteren Schwester die Flucht aus dem abgeschotteten Land. Auch sie war zuvor in nordkoreanischer Haft misshandelt worden. Die Erinnerungen daran suchen sie bis heute heim: "Seit Cheol Ok in China verhaftet wurde, habe ich furchtbare Alpträume", erzählt Kim Yu Bin, die ebenfalls in London lebt.

Sie berichtet der DW von einem Bruder, der in nordkoreanischer Haft gestorben sei: "Er wurde zu Tode geprügelt, in einen Reissack gestopft und weggeworfen." Das hätten ihr Mitgefangene berichtet. "Es hat mir das Herz gebrochen." 

Dokumentation von Menschenrechtsverletzungen

Von grausamen Misshandlungen berichten viele Nordkoreaner, denen die Flucht nach Südkorea oder in einen anderen sicheren Staat gelungen ist. Auf mehr als 1000 dieser Augenzeugenberichte stützt sich die Nichtregierungsorganisation Korea Future, die Menschenrechtsverletzungen im nordkoreanischen Strafvollzug dokumentiert.

Demnach werden die Deportierten zunächst Verhören unterzogen, die die Motive ihrer Flucht klären sollen: Sind sie aus wirtschaftlichen Gründen geflüchtet, um Armut und Hunger zu entfliehen? Oder hatten sie die Absicht, nach Südkorea weiterzureisen, das Nordkorea als Erzfeind betrachtet? Allein das gilt bereits als politisch motivierte Straftat, da es als Verstoß gegen die von allen Nordkoreanern geforderte absolute Loyalität gegenüber Land und Führung gewertet wird.

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Egal, wie das Strafmaß ausfällt, misshandelt würden alle Gefangenen, erklärt Yoo Suyeon von Korea Future. "Unabhängig davon, ob sie als Wirtschaftsflüchtlinge oder als politische Kriminelle eingestuft werden, erleiden die Gefangenen Positionsfolter. Das bedeutet, dass sie jeden Tag mehr als 12 Stunden im Schneidersitz sitzen müssen. Jede Bewegung oder jedes Geräusch kann zu einer individuellen oder kollektiven Bestrafung führen." Zu diesen Strafen zählten Tritte, Schläge mit Gegenständen oder den Händen und der Entzug von Nahrung und Schlaf.

"Schlechter als Tiere behandelt"

Die DW konnte mit weiteren Nordkoreanern sprechen, die aus China in ihr Heimatland zurückgeschoben worden waren, bevor ihnen zu einem späteren Zeitpunkt die Flucht nach Südkorea gelang. Sie berichten ebenfalls über Misshandlungen in der Haft. "Wir wurden schlechter behandelt als Tiere", erzählt die 50-jährige Lee Young Joo der DW in einem Videointerview aus Seoul.

Modell von Zellen in einem nordkoreanischen Gefängnis, wo die Gefangenen nach Angaben von "Korea Future" stundenlang in derselben Position verharren müssen Bild: Korea Future

Während der Verhöre sei sie geschlagen worden: "Wenn ich nur eine Sekunde gezögert habe mit der Antwort auf Fragen, hatten sie schon den Schlagstock vorbereitet, um damit zu foltern. Man wurde überall geschlagen, auch am Kopf und im Gesicht." 

China: "Keine Beweise für Folter"

Schon bevor die Abschiebungen im August 2023 wieder aufgenommen wurden, appellierte das UN-Hochkommissariat für Menschenrechte in einem Brief an China, keine Nordkoreaner zu deportieren. "Wir befürchten, dass ihnen dadurch schwere Menschenrechtsverletzungen wie willkürliche Inhaftierungen, Folter, Verschwindenlassen und außergerichtliche Tötungen drohen", heißt es in dem Schreiben vom 18. Juli.  

Knapp zwei Monate später übermittelte die Regierung in Peking ihre Antwort an die Vereinten Nationen: Es gebe "derzeit keine Beweise für Folter oder sogenannte 'massive Menschenrechtsverletzungen' in Nordkorea", steht in der Antwort vom 13. September. Überdies seien die Nordkoreaner illegale Wirtschaftsmigranten und keine Flüchtlinge. Sie stünden daher nicht unter dem Schutz der Genfer Flüchtlingskonvention.  

Ein Auszug aus dem Schreiben Chinas an die Vereinten Nationen Bild: Office of the High Commissioner for Human Rights, Geneva

Der südkoreanische Völkerrechtler Ethan Hee-Seok Shin von der Transitional Justice Working Group hält diese Argumentation für unglaubwürdig. China sei "verpflichtet, Menschen nicht in Länder zurückzuschicken, in denen ihnen Folter oder Verfolgung drohen würde". Dieses "Prinzip der Nicht-Zurückweisung" ist völkerrechtlich in der Genfer Flüchtlingskonvention und in der Antifolterkonvention verankert. Beide Verträge hat auch China ratifiziert.

Die DW hat sowohl die chinesische als auch die nordkoreanische Regierung wiederholt um eine Stellungnahme gebeten. China reagierte nicht. Die nordkoreanische Botschaft in Berlin bezeichnete die Vorwürfe in einer kurzen schriftlichen Antwort als "irreführende Propaganda" von "feindlichen Kräften" wie den USA.  

Kim Kyu Li mit alten Familienfotos aus NordkoreaBild: Esther Felden/DW

Öffentlicher Druck

Normalerweise schweigen die Familien von in Nordkorea Inhaftierten, um ihre Angehörigen keiner zusätzlichen Gefahr auszusetzen. Kim Kyu Li aber hat sich entschlossen, den Kampf um ihre verschwundene Schwester öffentlich zu machen. Sie ist sogar nach New York gereist, um während einer Konferenz des Internationalen Strafgerichtshofs auf das Schicksal von Cheol Ok aufmerksam zu machen. 

"Cheol Ok, bleib stark und gib nicht auf", ruft sie ihrer Schwester im Gespräch mit der DW zu, auch wenn sie weiß, dass die sie nicht hören kann.  

Es sei sehr unwahrscheinlich, dass sie aus der Haft entlassen werde, sagt Ethan Hee-Seok Shin, dessen Organisation die Familie von Kim Cheol Ok unterstützt. "Aber zumindest ist ihre und auch unsere Hoffnung, dass diese Art von internationaler Aufmerksamkeit es den nordkoreanischen Behörden erschweren wird, sie zu misshandeln oder zu foltern."